Donnerstag, 26. August 2010

Fernsehtipp mit Bild des Blog-Autors

Ich habe mir neulich die Freiheit genommen, den Film “Goodbye Again” (1961) von Anatole Litvak zu besprechen. Die wenigen Leser/innen, die in der Lage waren, den ellenlangen Text durchzustehen, erfuhren vielleicht noch matten Auges, dass wir es mit der Verfilmung eines Romans der französischen Skandalautorin Françoise Sagan (1935-2004) zu tun hatten. Zufällig habe ich heute bemerkt, dass “ARTE” am Freitag (27.August) die rund dreistündige Fernsehfassung eines Biopics mit dem Titel “Bonjour Sagan” aus dem Jahre 2008 ausstrahlt, in dem eine hervorragend agierende Sylvie Testud die Schriftstellerin spielt, die nach weiteren erfolgreichen Büchern (ich werde es immer bedauern, dass “Le garde du coeur” nie verfilmt wurde, da die Geschichte Anthony Perkins eine Paraderolle beschert hätte) zunehmend zum Opfer ihres exzessiven Lebensstils wurde und in den 90ern nur noch wegen Drogendelikten und Steuerhinterziehungsstrafen für Aufsehen sorgte. - Obwohl ich sonst nicht gerne mit Fernsehtipps aufwarte, möchte ich euch das bewegende Frauenporträt ans Herz legen.

Und da ihr mich ohnehin nur wegen der Screenshots anklickt, gibts zu diesem Tipp noch ein Bild vom Blog-Autor, für das er in etwa die gleiche Menge Weichzeichner benutzte wie Robert Redford in “The Horse Whisperer” (1998).

Dienstag, 24. August 2010

Her mit der deutschen DVD! - die Vierte

Das Glas Wasser
(Das Glas Wasser, Deutschland 1960)

Regie: Helmut Käutner
Darsteller: Gustaf Gründgens, Liselotte Pulver, Hilde Krahl, Sabine Sinjen, Horst Janson, Rudolf Forster, u.a.


Ob man nun Klaus Manns 1936 erschienenen Roman “Mephisto” gelesen hat oder nicht: Gustaf Gründgens wird wohl für immer die zweifelhaft schillernde Gestalt bleiben, die um ihrer Karriere willen in einem schicksalsträchtigen Jahrhundert jeweils unverbindlich mit der Bewegung liebäugelte, von der sie glaubte, ihr gehöre die Zukunft - und die sich dann doch an den Beelezebub verkaufen musste, um nicht ganz in die Klauen des Teufels zu geraten. Was er als Intendant des Preussischen Staatstheaters, der vom Teufel dann doch zu Rollen in Propagandafilmen (“Ohm Krüger”, 1941) beordert wurde, heimlich an Menschlichem vollbracht haben mag - wir wissen es nicht. Denn das Deutschland der Nachkriegsjahre verzieh und vergass. - Ich kann als ehemaliger Germanist und Filmfreund die recht wenigen Filme des Schauspielers nicht ohne “Hintergedanken” geniessen: Hinter dem Schränker in Fritz Langs “M - Eine Stadt sucht einen Mörder” (1931) verbirgt sich für mich der Salonkommunist, der abends in den Kabaretts seine schlüpfrigen Chansons zum Besten gab, sein “Friedemann Bach” (1941) ist der - vergebliche - Versuch, schlimmeren Filmproduktionen zu entkommen. Vor allem aber muss ich ständig daran denken, dass Klaus Mann seinem Hendrik Höfgen nur in beschränktem Masse schauspielerische Fähigkeiten zugestand: Er sei der Mephisto gewesen, daneben habe er sich als Causeur in französischen Komödien glänzend gemacht; gerade “teutonische” Rolleninterpretationen (etwa sein Hamlet, den der wirkliche Gründgens ja 1959 tatsächlich an den jungen Maximilian Schell abgab) seien jedoch nicht sein Ding gewesen. 

“Das Glas Wasser”, der letzte Film, in dem Gründgens neben der filmischen Adaption seiner Faust-Inszenierung nach langer Zeit wieder mitspielte, beruht auf einer solchen französischen Komödie von Eugène Scribe (1791-1861) und ist ein herrlich-flauschiges Nichts, in dem der zweifellos grosse Schauspieler noch einmal zeigen konnte, wie er mit seinem “aasigen Lächeln” (Klaus Mann) einer an sich belanglosen Geschichte den Hauch des Schlüpfrigen zu verleihen vermochte. - Das bewusst in fragmentarischen Dekors (einzelne Rückblenden werden in Schwarzweiss auf einem Hintergrund dargestellt) gedrehte Filmmusical zeigt vor allem eines: dass selbst die grössten politischen Krisen den Liebeswirren unterlegen sind und sich durch ein raffiniertes Ränkespiel in Wohlgefallen auflösen. Während des Spanischen Erbfolgekriegs im 18. Jahrhundert wird England von der willensschwachen Köigin Anna regiert. Sie steht ganz unter dem Enfluss der Herzogin von Marlborough, die den Krieg unbedingt fortsetzen will, damit sie ihren Gatten vom Hofe fernhalten und ungestört ihren amourösen Interessen nachgehen kann. Sir Henry St. John, Herausgeber einer Zeitung, ist der grösste Gegner der Herzogin. Er, der ebenso begnadete wie narzisstische Redner, entdeckt schon bald, dass weder Queen noch Herzogin dem ungelenken Charme eines jungen Fähnrichs widerstehen können - und schleust die stellenlose Abigail, die natürlich auch in den Fähnrich verliebt ist, als Hofdame bei der Königin ein; sie soll ihm dazu verhelfen, die Macht der Herzogin zu untergraben und Anna auf seine Seite zu bringen. Am Ende ist es tatsächlich ein Glas Wasser, das die Entscheidung herbeiführt...

Helmut Käutner, einer der wenigen bereits im Dritten Reich tätigen Regisseure, die ohne dunkle Flecken wegkamen (selbst der grosse Wolfgang Staudte hatte - sicher nicht freiwillig - in Harlans “Jud Süss", 1940, mitgespielt), inszenierte “Das Glas Wasser” wesentlich süffiger, unbeschwerter als etwa Kurt Hoffmann seine biederen Musicals (“Feuerwerk”, 1954, “Das Wirtshaus im Spessart”, 1957). Die herrlich vorgetragenen Chansons (“Es muss an Arthur selber liegen”, “Schöne Queen, arme Queen”, “Ich wäre gerne ehrlich”, “Das Sprichwort sagt, wer wagt, gewinnt”) haben etwas regelrecht Frivoles, sind tendenziell eher spitz als süsslich - und nehmen, wenn auch bloss dezent, Bezug auf die 60er Jahre. - Der bislang leider nicht auf DVD erschienene Film ist ein Genuss, der den Zuschauer beinahe vergessen lässt, dass er es hier nicht bloss - immanent - mit einem höchst gelungenen komödiantischen Streich zu tun hat, sondern - problemgeschichtlich - auch mit dem wohl eigenartigsten Aufeinandertreffen zweier Generationen in der Geschichte des deutschen Films. Ähnliches war zwar früher schon vorgekommen; aber hier trafen der zwielichtige Gründgens und Hilde Krahl, die ihre Karriere als Dunja im Film “Der Postmeister” (1940) richtig begründet hatte, auf Schauspieler wie Sabine Sinjen und Horst Janson. Man müsste aus heutiger Sicht annehmen, dieses Treffen sei nicht ohne Fragen (“wie war es damals wirklich?”) abgegangen. Dabei vergisst man jedoch leicht, dass man beim Film einfach für kurze Zeit zusammen arbeitet - und man vergisst vor allem jenen ungeschriebenen Generationenvertrag, der erst von den 68ern durchbrochen wurde. Ein für den heutigen Zuschauer beinahe makabres Aufeinandertreffen, wie es in dieser Form später gar nicht wieder vorkommen konnte: Gustaf Gründgens starb 1963 in Manila an einer Überdosis Schlaftabletten; ihm blieb wie Rühmann das Schicksal eines senil vor sich hin schwärmenden Johannes Heesters erspart. Und vielleicht sollte man ihn einfach mit jenem Ausruf ziehen lassen, den Klaus Mann seinem Hendrik Höfgen - zwar im spöttischen Sinn - in den Mund legte: “Ich bin doch nur ein Schauspieler!”

Donnerstag, 19. August 2010

Eine banale Dreiecksgeschichte?

Wer mit dieser Besprechung nicht zufrieden ist, möge sich bei "mono.micha" (Schneeland) beschweren: er hat mir die DVD geschenkt. Sollte mein Geschwätz jedoch unerwartet Anklang finden, nehme ich gern weitere Filme entgegen. Mit etwas Glück werden auch sie hier besprochen. 


Lieben Sie Brahms?
(Goodbye Again,  Frankreich/USA 1961)

Regie: Anatole Litvak
Darsteller: Ingrid Bergman, Anthony Perkins, Yves Montand, Jessie Royce Landis, Pierre Dux, Jocelyn Lane, Jean Clarke, Michèle Mercier, Uta Taeger u.a.

Böse Zungen könnten “Goodbye Again” als  Dreiecksgeschichte mit Überlänge bezeichnen, in der grosse Schauspieler in eleganten Dekors meist um den heissen Brei herumreden und in der sich im Grunde genommen gar nichts von Bedeutung ereigne. Die Herausgeber der deutschen DVD leisten einer solchen Betrachtungsweise sogar noch Vorschub, indem sie den nicht gerade schmeichelhaften Kommentar des “Lexikons des internationalen Films” zitieren: “Elegant inszenierte, in der Auslotung der Konflikte jedoch an der Oberfläche bleibende Verfilmung eines Romans von Françoise Sagan, die sich in erster Linie auf das bemerkenswerte Spiel der Hauptdarsteller stützt.”

Ganz so belanglos kann der Film, der zu Beginn der 60er in den Vereinigten Staaten sogar für einen kleinen Skandal sorgte, jedoch nicht sein, mag er heute - leider! - auch eher zu den vergessenen Ingrid Bergman-Streifen gehören. Er beschäftigt sich nämlich mit einem Problembereich, der in den prüden 50er Jahren völlig ausgeblendet worden war, dessen Thematisierung um 1960 offenbar aber förmlich in der Luft lag: dem der Liebesbeziehung einer reiferen Frau zu einem jungen Mann. - 1959 liess der britische Regisseur Jack Clayton in einem der grossen Filme des Free Cinema, “Room at the Top”, eine unglücklich verheiratete Französin (Simone Signoret) einem zehn Jahre jüngeren Mann verfallen, der mit ihr erste - erstaunlich realistisch dargestellte - sexuelle Erfahrungen sammelte. 1962 durfte sich Lilli Palmer in “Julia, du bist zauberhaft”, der unterschätzten Adaption einer Erzählung von W. Somerset Maugham, als alternde Schauspielerin für eine Weile einem jungen Steuerberater hingeben - und zur Erkenntnis gelangen, dass ein Beefsteak und Bratkartoffeln der Liebe letztlich überlegen seien. 


Der insbesondere in den 40er Jahren erfolgreiche Regisseur Anatole Litvak (er hatte sich schon in “The Snake Pit”, 1948, des Tabuthemas “Psychiatriekliniken in den USA” angenommen) bemüht sich in seinem Film um einen Mittelweg zwischen dem düsteren Meisterwerk von Clayton (die von Signoret gespielte Figur nimmt sich das Leben) und der Leichtigkeit, die den Palmer-Film durchzieht. Dies hat unweigerlich zur Folge, dass im gepflegten Pariser Milieu (wir bekommen im Schwarzweissfilm tatsächlich  eine “Stadt der Lichter” geboten) mit seinen luxuriösen Wohnungen und edlen Bars vieles nur zwischen den Zeilen ausgesprochen wird, ja gelegentlich oberflächlich erscheint.  In Wirklichkeit führt uns diese “Oberflächlichkeit” jedoch direkt in den Konflikt der im Mittelpunkt stehenden, von Bergman gespielten Figur hinein, lässt erkennen, was sie, die Alternde, Tag für Tag unausgesprochen hinunterschlucken muss. Und sie vermag jenen Moment, in dem sich eine völlig aufgelöste Bergman nicht mehr hinter ihrer Fassade verstecken kann, umso intensiver wirken zu lassen.

Die 40-jährige Innenarchitektin Paula ist seit fünf Jahren  mit dem Landmaschinenhändler Roger liiert. Da dieser zur - lächerlichen - Bestätigung seiner scheinbaren Jugend regelmässige Affären mit jungen Damen, die er der Einfachheit halber grundsätzlich Maisie nennt, benötigt, haben sich die beiden auf eine “moderne” Form der Beziehung geeinigt, die jedem beliebige Freiheiten einräumt. Für Paula, die Roger eigentlich gerne heiraten möchte, bedeutet dies vor allem das unwidersprochene Hinnehmen einsamer Abende und  mit Arbeit ausgefüllter Wochenenden, weil ihr Freund anderweitig “beschäftigt” ist. - Eines Tages begegnet sie im Haus einer Kundin dem wesentlich jüngeren Jura-Assessor  Philip, der gleich mit reichlich kindischem Verhalten ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versucht (er spielt ihr eine kleine Behinderung vor, erscheint völlig betrunken in einem Tanzlokal, in dem sie sich mit Roger aufhält - und führt ihr bei einem gemeinsamen Essen hochdramatisch den Unterschied zwischen einer amerikanischen und einer französischen Gerichtsverhandlung vor). Paula, der es bis anhin gelungen ist, mit einem eleganten Lächeln von ihrem Alter abzulenken,  muss jedoch bald erkennen, dass sie, auch wenn er es nicht richtig zu zeigen vermag, Philips erste grosse Leidenschaft ist, dass er, der beruflich Unambitionierte, ihr regelrecht zu verfallen droht und Tag und Nacht für sie da sein will. Geschmeichelt nimmt sie Philips Einladung zu einem Brahms-Konzert an und denkt, während der junge Mann ihre Hand zu halten versucht, an ihre erste Begegnung mit Roger zurück...

Befand sich Paula zu Beginn in der für sie schier unerträglichen Situation, gegenüber Roger ihren Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit nicht aussprechen zu dürfen, so wird sie durch das ekstatische Werben des viel jüngeren Mannes erst recht in eine Zwickmühle getrieben. Und sie weiss: wofür sie sich auch immer entscheiden mag, sie wird nur  unwürdig altern. Der Film führt diesen Alterungsprozess im Verlauf eines misslingenden Emanzipationsversuchs auch hintergründig vor und lässt ihn in jene Szene münden, in der eine hilflose Frau dem die Treppe hinuntereilenden Liebhaber auf Zeit nachruft: “Philip, try to unterstand! I am old. I am old.”

Mag das Geschehen zumindest auf der Leinwand (!) heute auch etwas überholt wirken, so gelang es Litvak doch, drei überzeugende Figuren zu zeichnen,  deren verbergendes Wesen  den Zuschauer zu packen vermag. Dies zeigt bereits der Beginn des Films, der sie uns unabhängig voneinander am Ende eines Tages vorführt: Die von der Arbeit erschöpfte, sich aber noch immer elegant gebende Bergman verlässt ihren Laden und sucht nach einem Taxi, der alternde Montand  starrt auffällig zwei jungen Frauen nach - und der offensichtlich verwöhnte, letztlich kindisch-unfähige Sohn einer reichen Mutter, Anthony Perkins, fährt in seinem modernen Wagen (man benötigt beinahe einen Schuhlöffel, um in ihn einsteigen zu können) durch Paris. - Später lassen diese Figuren zunehmend erkennen, inwieweit sie überhaupt zu Entwicklungen, Veränderungen fähig oder bereit sind. Roger wird wohl für immer der ölige Aufreisser bleiben, der sich nach dem “Beweis” für seine  Jugendlichkeit die Krawatte bindet und zu Paula zurückkehrt. Paula wird, leidend alternd, die Fassade der oberflächlichen Eleganz noch eine Weile aufrechtzuerhalten versuchen - und Philip bleibt das Rätsel in dieser Dreiecksgeschichte, die doch nicht so kitschig und banal ist, wie es auf den ersten Blick scheint: War Paula tatsächlich die grosse Liebe, die er der Sekretärin seines Chefs als “a woman -- warm -- charming -- and yet sad” beschrieb? Oder kommt er bald über sie hinweg?    

Die darstellerischen Leistungen dürfen, wie selbst das "Lexikon der internationalen Films" zugeben muss, als herausragend bezeichnet werden. Ingrid Bergman, die wegen ihrer Beziehung zu Roberto Rossellini in Hollywood eine Zeitlang als “persona non grata” gegolten hatte und dank Anatole Litvak für “Anastasia” (1956) zu ihrem zweiten Academy Award gekommen war, nahm die durchaus gewagte Rolle der Paula mit Begeisterung an, obwohl man - absurd! - der 46-jährigen Schauspielerin später vorwarf, sie sähe für eine 40-Jährige viel zu jung aus; Perkins, der nicht nur als Norman Bates für Aufsehen gesorgt, sondern etwa auch eine ernste Rolle in Stanley Kramers “On the Beach” (1959) bewältigt hatte, verwandelt sich unerwartet glaubwürdig in einen unreifen Bengel, dem vielleicht doch die Verletzung seines Lebens zugefügt wird; und Yves Montand gefällt sich als alternder Schürzenjäger offensichtlich. Als besonderer, wenigstens für eine Prise Humor sorgender Leckerbissen gesellt sich noch Jessie Royce Landis als dümmliche, aber reiche Mutter von Philip zu diesem Trio. - Anthony Perkins scheint Litvak, für den "Goodbye Again" wohl die letzte wirklich bedeutende Arbeit sein sollte, übrigens derart überzeugt zu haben, dass er ihn 1962 in "La troisième Decade" auch noch an der Seite der Loren spielen liess.



Françoise Sagan, die die Romanvorlage für “Goodbye Again” geliefert hatte, galt zu jener Zeit als Skandalautorin. Sie hatte bereits als Achtzehnjährige mit dem 1958 von Otto Preminger verfilmten  Erstlingswerk “Bonjour Tristesse”, in dem ein junges Mädchen seine Sexualität hemmungslos auslebt, für Furore gesorgt  und vermochte  auch mit “Aimez-vous Brahms?” ein drängendesThema aufzugreifen, handelte der Roman doch nicht nur von der Liebe einer reiferen Frau zu einem jungen Mann, sondern zeigte auf, wie undenkbar es selbst für eine Frau im “gehobenen Milieu” war, sich der Fesseln der Konvention zu entledigen. - Interessanterweise nahmen sich über die folgenden Jahrzehnte hinweg  immer wieder Filme des Problembereichs "Beziehung zwischen einer Frau und einem (wesentlich) jüngeren Mann" auf unterschiedliche Weise an. Es scheint, als hofften Produzenten und Regisseure, mithilfe ihres Mediums festgefahrene Haltungen verändern zu können. Einige bekannte Beispiele: "Harold and Maude" (1971), Rainer Werner Fassbinders "Angst essen Seele auf" (1974), ein mutiger Film, der die Liebesgeschichte zwischen einer älteren Frau und einem Mann aus der Türkei erzählt, "How Stella Got Her Groove Back" (1998), "Something's Gotta Give" (2003) oder "Chéri" (2009) von Stephen Frears. - Allerdings erreichten die Filmemacher gerade mit diesem speziellen Plädoyer für eine Liebe mit Altersunterschied wenig, wird doch oft selbst in "fortschrittlichen" Kreisen ein alter Mann, der sich eine junge Frau angelt, mit leicht bewunderndem Unterton noch immer als "geiler Hengst" bezeichnet, während man über eine Frau mit jüngerem Lebenspartner ("Wie ungehörig!")  heimlich die Nase rümpft.

Mittwoch, 28. Juli 2010

Doo Wop - Der Film zum Kontext für Frustrierte

Heerscharen von Lesern (es waren zwei, um genau zu sein) haben sich bei mir beklagt, weil ich meinem Kontext ohne Film Truffaut anstelle des von ihnen erhofften Doo Wop-Spektakels folgen liess. Ich möchte  ihre Enttäuschng wenigstens ein wenig mildern und widme mich vor der Sommerpause noch

Cry-Baby
(Cry-Baby, USA 1990)

Regie: John Waters
Darsteller: Johnny Depp, Amy Locaine, Susan Tyrrell, Polly Bergen, Iggy Pop, Ricki Lane, Traci Lords, Joe Dallesandro, Patricia Hearst u.a.

Es gäbe sicher Gründe für eine eher zurückhaltende Würdigung von “Cry-Baby”: Zum einen entfernte sich John Waters in seinem ersten Studiofilm  noch weiter von seinem Image als unangefochtenem König des schlechten Geschmacks als in “Hairspray” (1988) - und Dietrich Kuhlbrodt war wohl nicht der einzige Kritiker, der die “Verschnulzung” des Trash-Kult-Renommees bedauerte; zum anderen könnten sich Doo Wop-Fans wegen des schlechten Abschneidens der von ihnen vergötterten Musikrichtung, die erst noch durch zwei beinahe zu oft recycelte Titel (“Sh-Boom” und einem im Nachthemd und mit Schlafmütze wenigstens ironisch spiesserhaft vorgetragenen “Mr. Sandman”) vertreten war, sogar regelrecht diskriminiert vorkommen.

Aber: Auch John Waters dürfte bemerkt haben,  dass seine Umwertungen herkömmlicher Vorstellungen (etwa durch das Propagieren  des Genusses von Hundekot) mit der Zeit ihren provokativen Charakter verloren hatten, dass er dabei war, sich ungewollt vom Underground-Filmer zum gesellschaftlich akzeptierten, wenn nicht gar verhätschelten kleinen “Bürgerschreck” zu entwickeln. Weshalb also nicht nach dem Tanzfilm über die 60er gleich noch eine augenzwinkernde Verbeugung vor den 50er Jahren, die zugleich eine leicht boshafte Erinnerung  an seine Jugend in Baltimore war und beinahe unweigerlich die Form eines Musicals (viele Kritiker sprechen von einem “Grease” mit Grips) annehmen musste? Und kam er bei dieser Gelegenheit darum herum,  die Wahrheit über die musikalische Entwicklung  in jenen Jahren zur Sprache zu bringen? Der Doo Wop, der mit seinen Nonsense-Silben in den 40ern noch ganz den Afroamerikanern (“The Clovers”, “The Five Keys” etc.) gehört hatte, zog Mitte der 50er Jahre zunehmend weisse Jugendliche in seinen Bann und mauserte sich (erste ausschliesslich aus weissen Mitgliedern bestehende Gruppen waren entstanden) zur Musik, deren harmlose Liebestexte sich die Mädchen aus gutem Hause im Gegensatz  zum “den Charakter verderbenden”   Rock‘n’Roll einer aufbegehrenden Jugend anhören durften. - Gleichzeitig wies Waters, um dessen Drehbuch sich die Studios gerissen haben sollen, darauf hin, wie nahe sich Doo Wop und Rock‘n’Roll im Grunde genommen doch standen: Waren die jungen Rebellen erst einmal verliebt, fielen sie (dies sollte später auch Elvis Presley beweisen) rasch einmal dem unumgänglichen mehrstimmigen Gesangsarrangement zum Opfer und stimmten im Kitchen zusammen mit den anderen Häftlingen  ein schnulziges “Teardrops Are Falling” an...

In einem Punkt blieb John Waters seinem “Enfant terrible“-Image treu:  Da man ihm nach dem unerwarteten Erfolg von “Hairspray” freie Hand bei der Wahl der Darsteller gelassen hatte, fügte er seiner bewährten Truppe (Ricki Lane, Kim Webb, Alan J. Wendl) eine Schauspielerriege hinzu, wie sie aus unterschiedlicheren Winkeln nicht hätte zusammengesucht werden können: So traf Ex-Porno-Star Traci Lords auf die einst für einen Golden Globe nominierte Polly Bergen, das ehemalige Entführungsopfer Patricia Hearst begegnete dem “Godfather of Punk” Iggy Pop, der als nackt in einem Blecheimer badender Uncle Belvedere seinen Leuten ein “Woo-Wee, you caught me in my birthday suit, butt-naked!” entgegenrief - und der eher aus Fernsehserien bekannte “brave Amerikaner” David Nelson durfte sich am Neuling Kim McGuire erfreuen, die als Hatchet Face, der Frau mit dem schönsten Gesicht, das je auf der Leinwand zu bewundern war (“There’s nothing the matter with my face. I got character!”), ihr Messerchen zeigte und den Leuten ein “GET CUT!” zu-“flüsterte”. Sie alle arbeiteten mehr oder weniger talentiert auf eine herrliche Weise zusammen, betrieben gnadenlos das, was als “Overacting” bezeichnet wird - und verliehen so dem Film doch jene grellen, anarchischen Trash-Züge, die man sich von einem Meister des “Camp” erhofft (man soll auch hinter der Kulisse zusammengehalten haben: in einer kritischen Situation erzählten alle einander, weshalb sie selber schon - wenn vielleicht auch nur für eine Nacht - “gesessen” hatten). - Waters’ eigentliches As im Ärmel war jedoch ein bildhübscher, unwiderstehlichen Bad Boy-Charme versprühender Bengel, den man hierzulande für einen Sänger hielt (dass Johnny Depp in “Cry-Baby” gar nicht selber singen durfte, erfuhr man erst später, auch über seinen bereits vollzogenen Karrierestart als Schauspieler in den USA war kaum etwas bekannt ) und von dem man mit Bedauern annahm, er werde wohl nie wieder in einem Film zu sehen sein. Welch ein Irrtum!


Die Geschichte, die “Cry-Baby” erzählt, ist eigentlich banal und nimmt jenes Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Weltanschauungen, das Waters von “Pink Flamingos” (1972) bis zum wieder nicht mehr so gesellschaftsfähigen “A Dirty Shame” (2004) beinahe durchgehend beschäftigte, zum Ausgangspunkt für eine “Romeo und Julia”-Variation. Im Baltimore des Jahres 1954 bekämpfen sich zwei Gruppen: die langweiligen “Squares” aus gutem Hause, deren Anstandswauwau Mrs. Vernon-Williams, Leiterin einer Benimmschule, wo natürlich dem Doo Wop gehuldigt wird, ist, und die rebellischen “Drapes” mit ihrem unsittlichen Haarschnitt und Gesang. Ausgerechnet Mrs. Vernon-Williams’ jungfräuliche Enkelin Allison hat es satt, mit ihrem Freund Baldwin, einem Pat Boone-Verschnitt, rumzuhängen und schliesst sich dem “Drape” Cry-Baby Walker und seiner aus herrlichen Freaks bestehenden Truppe, die eben im “falschen” Quartier haust, an. Dort, im Turkey Point, wird aus Allison ein richtiger “Drape” gemacht, und beim gemeinsamen Singen von “King Cry-Baby” verlieben sich die beiden jungen Leute, die sich schon beim Impfen in der Schule schmachtende Blicke zugeworfen hatten,  endgültig ineinander - wobei Allison nicht nur erfährt, dass Zungenküsse keine Mononukleose verursachen, sondern auch, dass Cry-Baby wie sie ein Waisenkind ist (sein Vater war der Alphabetbomber, den man auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet hatte). - Das sich anbahnende Glück passt Baldwin und seinen gar nicht so braven “Squares” natürlich nicht in den Kram, und sie zetteln eine Schlägerei an, die vor dem Richter endet - der ausgerechnet den unschuldigen Cry-Baby in eine Jugendstrafanstalt verbannt, wo er sich schon bald eine Träne unter sein Auge eintätowieren lässt.

Wie sich das Schicksal nicht nur der beiden Liebenden trotz kleiner Komplikationen zum Guten wendet, soll hier nicht verraten werden, lebt doch der Film gerade von all diesen gelegentlich durchaus konventionell-witzigen, dem Mainstream  entgegenkommenden, manchmal aber immer noch an frühere Geschmacklosigkeiten erinnernden Details (wenn etwa Allison ein mit Tränen gefülltes Glas austrinkt oder  die berüchtigte Zungenkuss-Szene beinahe in eine “Schlacht der Zungen” ausartet). - All diese Details, die auch den Nebenfiguren in Erinnerung bleibende Auftritte ermöglichen (ich denke an frömmelnd-fundamentalistische Eltern, die ihren Kindern Kreuze entgegenstrecken und  vor Gericht "in Zungen" zu sprechen beginnen, an das von Traci Lords gespielte Flittchen Wanda, das als Austauschschülerin nach Schweden verfrachtet werden soll und lieber in den Wagen eines stadtbekannten Spanners steigt - oder an die fröhlich schwangere Schülerin Pepper, die ihre ersten beiden Kinder in einer irrwitzigen Aktion aus dem Waisenhaus befreien muss), machen “Cry-Baby” natürlich nicht zum kleinen Klassiker, vielleicht nicht einmal zu Kult. Sie gewährleisten jedoch jedem einen unterhaltsamen (Sommer-)Abend, der sich dem Spektakel nicht mit festgefahrenen Erwartungen an einen Waters-Film annähert . Hinzu kommen die Musiknummern, die gelegentlich den 50ern alle Ehre machen (“Doin’ Time for Bein’ Young”  ist eine wunderschöne Hommage an den jungen Presley), im Falle des von Allison auf einer Kühlerhaube stehend gesungenen und von den “Drapes” begleiteten “Please, Mr. Jailer” sogar die Protestsongs der Vietnam-Generation vorwegzunehmen scheinen. --- Und wir begegnen einem Schauspieler  in einer seiner frühen Rollen, dem es später vergönnt sein sollte, in herausragenden Filmen wie “What’s Eating Gilbert Grape” (1993), “Ed Wood” (1994) oder “Dead Man” (1995) mitzuwirken - der sich jedoch gelegentlich auch für Projekte zur Verfügung stellte, über die ich mich hier lieber nicht auslassen möchte, da es mir nur Ärger einbrächte, würde ich mich zu weit aus dem “Secret Window” hinauslehnen.

“Cry-Baby” wurde übrigens nicht zum von den Studios erwarteten Erfolg und spielte in den Kinos der USA die Produktionskosten nicht ein. Erst TV-Ausstrahlungen und die Veröffentlichung auf DVD verhalfen dem Film zu Anerkennung und einer Fangemeinde. Diese erkannte auch, dass Johnny Depp der weitaus  bessere John Travolta war.

So! Damit verabschiedet sich ein völlig ausgebrannter Whoknows  für drei, vier Wochen von seinem Blog und begibt sich mit rund 700 Doo Wop-Titeln und nicht viel weniger Filmen in die hoffentlich verdiente





Freitag, 23. Juli 2010

Kleiner Sprachkurs für deutsche Touristen

Der Schweizer Franken ist stark; ausser Ölscheichs und deutschen Film-Bloggern kann sich niemand  mehr Ferien im Land leisten, das mit "Heidi", feiner Schokolade, dem Fujiyama (oder so) und  der Kuckucksuhr, die in Wirklichkeit aus dem Schwarzwald kommt, aufzutrumpfen vermag. Also nutzt eure Chance, bevölkert die sauteuren Hotels, besteigt unsere Berge und käuflichen Damen,  deckt euch mit Ricola-Kräuterzucker ein, bedenkt aber eine Kleinigkeit: Wenn ihr mit eurem gewohnten Deutsch antrabt, werden euch die Schweizer ihren berüchtigten "Sch**** Ausländer!"-Blick entgegenschleudern. - Deshalb hier ein paar Hinweise:

Eignet euch ein perfektes Schweizerdeutsch an! Wobei hinzugefügt werden muss: der Dialekt der Basler wird  (wie die Menschen) von den Zürchern nicht geschätzt (und umgekehrt), ein Dialekt aus der Ostschweiz führt in der restlichen deutschsprachigen Schweiz unweigerlich zur höhnischen Bemerkung "Der kommt aus Mostindien...", Innerschweizer haben ein hoffnungslos veraltetes Sprach- und Weltbild - und das arme Wesen aus dem Wallis (ein Yeti?) wird überhaupt von niemandem verstanden. - Komplizierte Verhältnisse, nicht wahr? Es gibt allerdings einen Dialekt, mit dem ihr euch überall im Blocherland - pardon! - in der Schweiz nur Freunde schafft: das Berndeutsch! Und noch liebevoller wird man euch behandeln, wenn ihr euch für die Emmentaler-Variante des Berndeutschs entscheidet.

Aus diesem Grund möchte ich euch Gelegenheit geben, euch mit diesem Emmentaler-Deutsch anhand eines Trailers vertraut zu machen. Es handelt sich um einen Trailer zum Film "Die Herbstzeitlosen" (2006), der von ein paar älteren Damen handelt, die in einem Emmentaler-Dorf eine Lingerie-Boutique eröffnen. Ich will der 90-jährigen Hauptdarstellerin Stephanie Glaser, die immer noch munter Filme dreht, eine Besprechung nicht antun. Nur dies: Einige Schweizer waren tatsächlich beleidigt, weil "Die Herbstzeitlosen" es nicht in die engere Auswahl für den Oscar  (bester fremdsprachiger Film)  schafften. - Aber uns gehts ja um den Wert der Sache für einen angenehmen Aufenthalt in der Schweiz:



Mich werdet ihr Sch**** Ausländer (noch ein Pardon, ist mir nur so rausgerutscht!) allerdings nicht treffen, wenn euch die Bedienung als vermeintlichen Emmentalern mit einem Lächeln und der freundlichen Bemerkung "U hie heit dr de no euri Merängge!" den Teller auf den Tisch stellt; denn auch ich werde - womit ich schon dezent auf die nahende Sommerpause des Blogs hinweisen möchte - in die Ferien gehen. Sie führen  mich dieses Jahr durch die Halbinsel Balkonien, wo man mir zwar die üblichen fiesen Kommentare in eure Blogs, jedoch keine Einträge in meinen gestattet. Vorher gibts aber sicher noch einen Film. - Und was meinen Sprachkurs anbelangt: Nichts zu danken!

Sonntag, 18. Juli 2010

Über den gezielten Einsatz des Oberflächlichen


Videocracy
(Videocracy, Schweden/Dänemark/Grossbritannien/Finnland 2009)
Regie: Erik Gandini

Italiens Langzeit-Ministerpräsident Silvio Berlusconi wird von vielen Filmemachern seines Landes als ihr persönlicher Feind wahrgenommen, als ein Diktator, der ihnen vorzuschreiben versucht, mit welchen Illusionen sie ihr Publikum von der Wirklichkeit abzulenken haben Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie ihn immer wieder angreifen und seine Machtmechanismen aufzudecken versuchen.  Nach Nanni Morettis “Il Caimano” (2006) sorgte vor allem der Dokumentarfilm “Videocracy” des Italo-Schweden Erik Gandini, der sich gleich der “unheiligen” Verbindung zwischen dem italienischen Fernsehen und der Regierung annimmt, für Aufsehen, scheint er doch ins Herz jenes eigenartigen Systems vorzudringen, das von den Italienern verführend Besitz ergriff und dem sie sich nur allzu willig auslieferten. Gelegentlich wurde Gandinis Darstellung eines Medienfaschismus “made in Italy” Oberflächlichkeit vorgeworfen, weil sie aus einzelnen Figuren Repräsentanten für eine These mache, unzulässig verallgemeinere. Mir stellte sich nach der Sichtung eher die Frage: Wie soll der Zuschauer auf einen Film reagieren, der ihn auf unangenehme Weise daran erinnert, dass die angeschnittenen Themen wohl nicht nur für Italien - wenn dort auch besonders ausgeprägt - gültig sind?

Es begann vor rund dreissig Jahren, als der erste kommerzielle Lokalsender des Landes (im Besitz von Berlusconi) auf die Idee kam, eine Late-Night-Quiz-Show mit Strip-Einlagen für die Unterschicht attraktiver zu gestalten: Wann immer eine Frage richtig beantwortet wurde, entschloss sich eine durchschnittliche Hausfrau im billig zusammengeschusterten Studio, sich eines Kleidungsstücks zu entledigen. Dies war die Geburtsstunde des Präsidentenfernsehens, der Beginn einer “kulturellen” Revolution. Denn heute bevölkern auf nahezu allen Sendern zur Prime Time halbnackte Frauen seichte Shows, locken die Massen vor die Fernsehgeräte und gaukeln ihnen eine stets sonnige Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen vor. - Und die Zuschauer träumen davon, eines Tages selber im Fernsehen, das zu ihrer Realität geworden ist, auftreten zu dürfen. Sie sind sowohl Opfer als auch Teilnehmer in diesem riesigen Imperium, über das Silvio Berlusconi, gleichzeitig Ministerpräsident und Medienmogul (ihm gehören die drei grössten Privatsender, und er hat das Sagen über das staatliche Fernsehen), waltet.


Da ist zum Beispiel Ricky, Mitte zwanzig und noch bei Mutti wohnend. Er ist von Beruf Mechaniker, möchte jedoch als eine Mischung aus Jean-Claude van Damme und Ricky Martin (kurzlebigen) Ruhm erlangen. Er nimmt als kickboxender Sänger an Talent Castings teil, sitzt in den Shows in den vordersten Reihen - und weiss genau, was seiner Karriere im Weg steht: Die wunderschönen vollbusigen Mädchen, die die Blicke der Zuschauer auf sich ziehen und nur dürftig bekleidet als “veline” vom meist in die Jahre gekommenen, widerlich grinsenden Moderator ablenken. - Sie sind es, nach denen Berlusconis Unterhaltungsmaschinerie sucht, und ihnen kommt eine verantwortungsvolle Aufgabe zu: zu lächeln, nichts zu sagen und gut auszusehen. Sie dürfen sich überdies mit einem “eigenen” 30 Sekunden dauernden Tanz (einem Stacchetto) Aufmerksamkeit verschaffen. Und ein solcher Job kann durchaus Folgen haben: Berlusconi ernannte eine frühere “velina” zur Ministerin für Gleichberechtigung. Ist es da nicht verständlich, dass viele junge Frauen alles dafür täten, um eine “velina” zu werden?


Lele Mora ist einer jener einflussreichen Agenten, durch dessen Bett  die Karrieren vieler weiblicher und vermutlich die der meisten männlichen Fernseh-Berühmtheiten geführt haben dürften. Er brüstet sich damit, seine Villa an der Costa Smeralda in Sardinien, wo sich die “Glanzvollen” tummeln, vollkommen in Weiss eingerichtet zu haben; und er erweckt den Eindruck eines kleinen selbstgefälligen Jungen, wenn er einem der muskulösen Männer, die  um seinen Pool herumlungern, einen Klaps gibt oder stolz darauf hinweist, ein persönlicher Freund Berlusconis und ein Bewunderer von Mussolini zu sein (Berlusconi ist für ihn ein Mann, der zwar nicht ganz an die “Methoden” des Duce anzuknüpfen vermag, aber dennoch als grosser “Führer” gelten darf).

Mora weist auch auf die Parties hin, die im Milliardärsclub an der Costa Smeralda Nacht für Nacht geschmissen werden und die eher den Eindruck von Orgien erwecken. Geile alte Böcke starren auf tanzende Mädchen, von denen sich jedes einen Job als Wetterfee für zwei Wochen in einem Sender von Berlusconi erhofft. - Auf diesen Parties trifft man die Fotografin Morella, die zwar mit Leuten wie Mora nichts zu tun haben will, als Nachbarin von Berlusconi den Ministerpräsidenten aber für authentisch, weil natürlich, hält (er ist ein Mann, der Spass haben will und ihn sich eben “kaufen“ kann). Sie bietet die Bilder, die sie von den Prominenten an den Parties macht, im Internet zum Kauf an. Diese Bilder zeigen italienische Promis, deren lachende Mäuler über mindestens 64 Zähne zu verfügen scheinen - und plötzlich sieht man auch Zähne, die nicht zu einem Italiener gehören, sondern zu Tony Blair. - Spätestens in dem Moment fragt sich der Zuschauer: Haben wir es überhaupt mit einem rein italienischen Phänomen zu tun?  Trifft sich hier nicht alles, was sich für die “Elite” der Welt hält? Und  erhält man vielleicht nur Einblick in eine der vielen Vergnügungsveranstaltungen jener “Supermenschen”, die über wahrhafte Macht verfügen? -  Man mag vielleicht den Pauschalisierungen eines Filmemachers auf den Leim gegangen sein; aber es  könnte  hinter den Kulissen einer scheinbar braven Bambi-Verleihung  ähnlich zugehen wie auf den Parties an der Costa Smeralda. Und womöglich zeigen uns unsere Illustrierten  auch nur das, was Berlusconis Illustrierten den Italienern zeigen.


Sogar die scheinbare Opposition, die Berlusconi in Form der Paparazzi erwächst, unterliegt dem System. Die Leute von  Fabrizio Corona sorgen zwar für Schnappschüsse von Prominenten in misslichen Situationen, verkaufen diese jedoch anschliessend wiederum den Opfern oder dem Ministerpräsidenten, der sie nach Lust und Laune in den Zeitungen, die er kontrolliert, veröffentlicht.  Corona selber, der “Chef” der Paparazzi, ein eitler Macho, der dem Zuschauer  minutenlang vorführt, wie er sich zwischen den Beinen eincremt, will auch nur eines: möglichst oft im Fernsehen auftreten. Selbst seine Entlassung aus dem Gefängnis (man hatte ihn wegen Erpressung zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt) inszeniert er vor den Reportern als Ereignis, das unweigerlich zu einer Einladung in eine Talk Show führen muss.  Er selber betrachtet sich als modernen Robin Hood, der das Geld von den Reichen nimmt und  für sich behält. - Was er dabei akzeptiert: dass er es von Berlusconi nimmt, der es versteht, auch seine Gegenspieler zu integrieren.

Wie intensiv der Ministerpräsident das Fernsehen für den Ausbau seines "Vierten Reiches" benutzt, zeigt etwa eine Hymne auf ihn, die im Hinblick auf seine Wahl mit Untertiteln zum Mitsingen ständig ausgestrahlt wird. Will er eine politische Ansprache auf einem Sender halten, muss die Show auf einem anderen Sender entsprechend früher beendet werden. Alles um ihn herum ist Werbung, Effekthascherei und Ablenkung.   Die Macht bestimmt, was gezeigt werden darf und was nicht. Es versteht sich von selber, dass im italienischen Fernsehen für “Videocracy” nicht geworben werden durfte. - Man fühlt sich an dunkelste Zeiten erinnert.

Und dennoch: Möchte man die in “Videocracy” angeschnittenen Themen, nicht augenblicklich  auch auf die USA übertragen? Hatten wir zu Beginn des Privatfernsehens (Leo Kirchs Sat.1, RTL, das mit Hugo Egon Balders Nackedei-Show “Tutti Frutti“ konterte) nicht Ähnliches zu befürchten? Und können wir uns so sicher sein, dass wir von einem von den “Mächtigen” gelenkten  Fernsehen nicht auch bis zu einem gewissen Grad am Gängelband geführt werden, bloss naiverweise an die gelobte Pressefreiheit glauben? - Dies waren in etwa die früher gekonnt verdrängten Fragen, die mich während der Sichtung des teilweise tatsächlich pauschalisierenden und polemischen Films, dem eine Prise beissende Satire gut getan hätte, beschäftigten; und sie sorgten dafür, dass mir stellenweise beinahe übel wurde, als ich Einblick in den gezielten Einsatz der wackelnden Brüste und Ärsche, der primitiven Unterhaltung, schlicht des Oberflächlichen erhielt. Ich möchte mir “Videocracy” nicht noch einmal ansehen, bin jedoch froh, mich ihm ausgesetzt zu haben, als ihn der ORF, was ich dem Sender hoch anrechne, ausstrahlte.

Die DVD ist ab September in Deutschland erhältlich. Man sollte sich “Videocracy” - im wahrsten Sinne des Wortes - antun!