Donnerstag, 1. September 2011

Schere, Stein, Papier, oder: Militarismus als Affenzirkus

Drei Kurzfilme von Shūji Terayama

Teil 2: Publikumsbeschimpfung auf Japanisch
Teil 3: Was Sie schon immer über Nägel wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten

THE WAR OF JAN-KEN-PON (JANKEN SENSŌ)
Japan 1971


Zwei junge Männer in militärischen Uniform-Jacken und -Mützen - aber ohne Hosen - spielen das bekannte Schere-Stein-Papier-Spiel, das wohl jeder von uns als Kind schon mal gespielt hat. Aber bei dem Duell der beiden Jünglinge handelt es sich offenbar nicht um einen harmlosen Zeitvertreib, sondern um einen verbissenen Kampf. In einer leeren Lager- oder Fabrikhalle attackieren sie sich bald auch körperlich - und zwar in der Manier von Schimpansen. Und draußen an einem Fenster der Halle stehen Leute und schauen interessiert, aber auch distanziert herein - so wie man eben dem Treiben der Affen im Zoo zuschaut. Immer wilder kaspern die beiden herum, bis sie völlig verdreckt und derangiert sind. Als Soundtrack des zwölfminütigen Films erklingt wagnerianische Musik, phasenweise unterlegt mit Grunzlauten und mit Gegröle von Adolf Hitler.


Shūji Terayama, ein Avantgardist par excellence, hat neben seiner Arbeit als Gründer und Leiter der experimentellen Theatertruppe Tenjō Sajiki, als Dichter und Schriftsteller und in weiteren Aktivitäten, auch mehrere Spielfilme und ca. 15 Kurzfilme gedreht. THE WAR OF JAN-KEN-PON - der Titel bezieht sich auf den japanischen Namen des Schere-Stein-Papier-Spiels (das vermutlich aus China stammt und von Japan aus den Weg nach Europa fand) - wurde nicht als eigenständiger Film gedreht, sondern er ist ein Auszug aus der 72-minütigen Langfassung des wüsten und kontroversen EMPEROR TOMATO KETCHUP (TOMATO KECHAPPU KŌTEI) von 1970, in dem die Kinder in einer bewaffneten Revolte die Macht übernehmen und den Erwachsenen merkwürdige Gesetze aufoktroyieren. Lediglich der Soundtrack wurde für die zwölfminütige Version neu erstellt. Während die meisten Filme von Terayama vielschichtig und schwer zu entschlüsseln sind, drängt sich mir hier eine Interpretation geradezu auf: Terayama verhöhnt jeglichen Militarismus als Affenzirkus.

Mittwoch, 24. August 2011

Dekadenz bei Kerzenschein

Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (Alternativtitel: Rossini)
(Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief, Deutschland 1997)

Regie: Helmut Dietl
Darsteller: Götz George, Mario Adorf, Heiner Lauterbach, Gudrun Landgrebe, Veronica Ferres, Joachim Król, Hannelore Hoger, Armin Rohde, Jan Josef Liefers, Martina Gedeck, Meret Becker u.a.

Sie zelebrieren sich und ihre Neurosen, und sie tun es dort, wo jeder Vorübergehende den Tanz der ihre Leere Feiernden  bestaunen kann: im Glaspalast Rossini, dem Edelrestaurant, das sich die Schickeria als zweites Wohnzimmer zugelegt hat. Regisseur Uhu Zigeuner, dem der Padrone seine Stammgäste verdankt, kriegt keinen hoch, wenn er nicht an einem Film arbeiten kann, eine abgetakelte Klatschkolumnistin benötigt den täglichen Orgasmus gegen ihre Migräne (weshalb sie diverse Vergewaltigungsversuche unternimmt) und der scheue Schriftsteller Jakob Windisch zieht sich ins Separée zurück, weil er gar keinen Sex will (“Ich will nichts erleben. Ich bin Schriftsteller.”) - um sich dann doch von der Kellnerin Serafina verführen zu lassen. --- Die Schönheit Valerie wiederum, die an dem einen Sommerabend, der dem Zuschauer einen Einblick ins Treiben der Gesellschaft gewährt, mindestens zum dritten Mal ihren 40. Geburtstag feiert, benötigt gleich zwei sie begehrende Männer, die zwar die Ursache für ihre Verstopfung sind, sie aber ins vom Licht  unzähliger weisser Kerzen verzauberte Ristorante begleiten: den jungen Dichter mit Dreitagebart Bodo, der ihr hymnische Verse ins Ohr flüstert, und den Filmproduzenten Oskar Reiter, von dem sie sich, obwohl er bis zum Hals in Schulden steckt, wertvollen Schmuck schenken lässt. Sie lässt sich sogar auf dem Boden von dem einen ficken, damit sie dem anderen ein “Hab ich dich befriedigt oder nicht?”   entlocken kann. - Und Paolo Rossini, der in herrischer Manier gewöhnlich Sterbliche von der Pforte seines Tempels verscheucht, vor der versnobten Bande  aber wie ein Lakai buckelt (man könnte sich jederzeit von ihm abwenden), gibt sich als Frauenfeind, lässt jedoch augenblicklich italienische Balladen in seinem schmelzenden Herzen erklingen, als der Traum eines jeden Mannes, die heilige Hure in Weiss, im Kerzenschimmer vor ihm auftaucht und Brecht zitierend (“Doch man sieht nur die im Lichte; die im  Dunklen sieht man nicht”) mit leiser Stimme Einlass begehrt.

Alle diese Leiden und Nöte beziehungsunfähiger Exhibitionisten, die uns Helmut Dietl in seinem zweiten Kinofilm nach der herrlichen Hitler-Tagebuch-Persiflage “Schtonk!” (1992) präsentiert (und es wären ein paar weitere hinzuzufügen), sind auf lockere Weise miteinander verbunden, wobei sich, wie schon die “Zeit” 1997 in einer lesenswerten Besprechung feststellte, im Verlaufe des Abends drei Hauptstränge entwickeln, die das hysterische Treiben des Packs als Vorwand für andere Dinge aufzudecken scheinen: Im Mittelpunkt des ersten Strangs steht der Erfolgsroman “Die Loreley”, von dem Reiter meint, er sei “mehr als die Bibel” und den er  unbedingt mit Zigeuner als Regisseur auf die Leinwand bringen möchte, damit er die Bankiers, die ihm bereits den Strick um den Hals legen, beruhigen kann. Uhu Zigeuner soll dem jeder Verfilmung abholden Jakob Windisch, der von Joachim Król grandios wie ein störrisches, ängstliches Kind mit Kulleraugen verkörpert wird, die Rechte abjagen. Hinter all dem leeren (oft frauenfeindlichen) Wortwitz, der den Abend prägt, versteckt sich also auch schnödes Business, und zwar Business, bei dem es beinahe um Leben und Tod geht.

Der zweite Strang dreht sich um die rätselhafte Schönheit Schneewittchen, die an diesem Abend im “Rossini” auftaucht, um sich auf raffinierte Weise vom Kellertheater bis zum deutschen Grossfilm hochzuschlafen. Vermutlich sprechen sie, diese Blondinen, immer wieder für die Rolle der “Loreley” vor; aber Schneewittchen weiss sie als unschuldige Hure auch zu leben. Mit zärtlichen Worten  wendet sie sich von ihrer Geliebten (Meret Becker) ab und beraubt den Restaurantbesitzer seines Verstandes, um dann dort ihre Beine breit zu machen, wo Aussicht auf Erfolg besteht. Produzent Reiter sieht in ihr die Idealbesetzung, Uhus Schwanz richtet sich empor, als befände er sich bereits mitten in den Dreharbeiten. - Und doch wird man den Eindruck nie los, schon am nächsten Abend werde ein anderes Schneewittchen die Glieder der Sippschaft zum Stehen bringen und als ideale Loreley gefeiert werden...

Diesen Eindruck des sich dauernd Wiederholenden erweckt auch der dritte, die Leere auf intensivste Weise aufdeckende Strang, der die Geschichte einer Selbstmörderin erzählt. Sie hat alles, und sie will als Gefangene der Schickeria noch mehr, nämlich den Widerspruch: “Ich will Lust bis zur Besinnungslosigkeit - und Ruhe. Leidenschaft bis zum Wahnsinn - und Frieden.” - Der hoffnungslos in sie verliebte Schönheitschirurg Dr. Sigi Gelber, vom Rest nur benutzt und belächelt, möchte ihr zwar nach all den Ausschweifungen Ruhe und Frieden schenken; als er am Morgen an ihrer Haustür erscheint, um ihr seine Schätze zu Füssen zu legen, hat sie ihren Frieden jedoch bereits in der Badewanne mit aufgeschnittenen Pulsadern gesucht. - Und man weiss: das Fest der Eitelkeiten setzt sich am nächsten Abend fort. Einer fehlt (es hätte auch eine andere Figur treffen können), man wird Ersatz finden.


Helmut Dietls Film "Rossini", einer der grossen Erfolge des Jahres 1997, wurde mit Auszeichnungen regelrecht überhäuft, erhielt jedoch von der Kritik  nicht nur Beifall. Während sich der Schweizer Kritiker Urs Jenny in einer SPIEGEL-Rezension  zum Ausruf  verleiten liess, “Rossini” feiere nach diversen seichten Produktionen endlich die “Wiedergeburt des deutschen Kinos aus der Komödie”, taten ihn andere als oberflächlich, seicht und banal ab. - Man muss zugeben: die “Entlarvung”der Mediengesellschaft bietet Wortwitz und schauspielerische Glanzleistungen im Übermass. Die Kamera, die munter durch ein Lichtermeer fegt, fängt den Reigen der Schickeria überdies so kunstvoll ein, dass sich der Zuschauer rund zwei Stunden lang auch nicht einen Augenblick langweilt. - Aber haben wir es wirklich mit einer “Entlarvung” zu tun?

Ich verweise noch einmal auf Urs Jennys Worte über den Regisseur, der erst spät zu einer bedeutenden Gestalt des deutschen Films wurde, weil er lange Zeit die Kleinform der TV-Serie (unter anderem “Monaco Franze - Der ewige Stenz”, 1983, und “Kir Royal”,  1986) für seine legendär giftigen Spitzen gegen eine übersättigte (Münchner) Bussi-Bussi-Gesellschaft vorgezogen hatte: “Der tiefste Grund dafür, dass er im Lauf von 25 Berufsjahren so beklagenswert wenig produziert hat, ist wohl, dass ihm nur selten eine Sache gut genug und der Mühe wert erscheint. Wenn es dann aber sein soll und muss, setzt er ... die Hürde so hoch wie irgend möglich.” - Nun waren es gerade die erwähnten TV-Serien auch zweifellos wert, zusammen mit seinem Co-Autor Patrick Süskind sorgfältig und wirklich entlarvend komponiert zu werden (man erinnert sich noch nach vielen Jahren an Details!); auch die Jahrhundert-Blamage, die sich die Illustrierte “Stern” mit den gefälschten Hitler-Tagebüchern leistete, galt es gnadenlos verulkend als "Schtonk!" ins Kino zu bringen. Im Falle des scheinbar dem bewährten entlarvenden Muster folgenden “Rossini” sah die Sache jedoch ein wenig anders aus:

Dietl ordnete zwar die von ihm geschilderte Schickeria nicht einer bestimmten Stadt zu, und er reagierte - als wittere er die Gefahren, die von einem Eingeständnis ausgehen könnten -  mit einem “Bullshit!”, wenn er auf Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen angesprochen wurde. Tatsächlich musste jedoch auch “Rossini” in seinen Händen zu einem für jeden offenkundigen Schlüsselfilm werden. - Das Film-Restaurant “Rossini” hatte sein Vorbild im Münchner “Romagna Antica”,  in dem sich die lokale Film- und Presseschickeria der 80er Jahre allabendlich versammelte, um sich, ihre Bedeutungslosigkeit kaschierend, "darzustellen". Und dort fand man sie, all die im Film trotz ihrer koketten Veränderungen so leicht zu erkennenden Grössen, die auch bei ihrer Verewigung auf Zelluloid die gierigen Finger im Spiel haben sollten: Hinter dem mit schwarzer Weste auftretenden Uhu Zigeuner (George darf zwar berlinern) steckt ganz offensichtlich der meist in Schwarz anzutreffende Dietl selber, Heiner Lauterbach darf als Reiter den Erfolgsproduzenten Bernd Eichinger, der von Dietls engem Freund und Co-Autor Patrick Süskind (im Film Jakob Windisch) jahrelang vergeblich - wäre es doch dabei geblieben! - die Filmrechte für den Welterfolg “Das Parfum” erhalten wollte, geben - und der Lyriker Wolf Wondratschek, dessen Ergüssen die Verlängerung des Filmtitels entnommen wurde, kann sich, Werbung für weitere Verse machend, in dem die schöne Valerie beflüsternden Bodo  wieder erkennen. - Eine der glanzvollen Damen soll sich damals sogar tatsächlich ins Jenseits befördert haben, und alle seien sie am nächsten Abend wieder dämlich schwatzend und sich für wichtig haltend im Romagna Antica aufgetaucht...


Betrachtet man nun “Rossini” von diesem Blickpunkt aus (und es scheint mir der ihm angemessene zu sein), entdeckt man keine “Entlarvung” mit giftigen Spitzen, keine Abrechnung mit der Münchner Schickeria der 80er Jahre. Zu viele Gestalten, die sich damals im In-Restaurant “die Ehre gegeben” hatten, waren in die aufwändige Film-Produktion (alleine schon die Dreharbeiten zogen sich wegen der illustren Besetzung ewig hin) verwickelt. Es entsteht deshalb eher der Eindruck, man führe sich - weil man ums Verrecken nicht davon ablassen kann - selber noch einmal genussvoll vor, suhle sich in seiner eigenen Dekadenz, als setze man dem, was man in den 80ern war, ein leicht ironisches Denkmal. Und diese Selbstdarstellung macht “Rossini” trotz seines Unterhaltungswerts tatsächlich zu einem billigen, oberflächlichen Film, der einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Denn er glorifiziert auf pompöse Art  eine Vergangenheit  und setzt sie der nüchternen Gegenwart entgegen. - Vor allem aber verbieten sich die immer wieder auftauchenden und seltsam anmutenden Vergleiche mit Robert Altman’s  Meisterwerk “Short Cuts” (1993).

Schlüsselfilme zum Medienrummel können durchaus auf hämische oder bittere Weise entlarvend sein. Ich erinnere nur an Vincente Minnelli’s “The Bad and the Beautiful” (1952), dessen Hauptfigur sich zweifellos am Egomanen David O. Selznick orientiert, an Tom Toelles “Das Millionenspiel” (1970) oder eben an Altman's "The Player" (1992). Dietls sich selber beweihräuchernder “Rossini” ist, kommt man ihm erst einmal auf die Schliche, weit von solchen Werken entfernt. Verständlich aber auch schade, dass sich derart bedeutende deutsche Filmschauspieler für das auf den ersten Blick einnehmende Spektakel hergaben! --- Ich variiere zum Abschluss den Rat, den ein Medienhändler dem Kritiker Fred Maurer gegeben haben soll: Schaut euch den Film an! Staunt über die Wirkung, die er im ersten Moment zu entfalten vermag! Und schenkt ihn dann jemandem, den ihr nicht leiden könnt.

Freitag, 19. August 2011

Kurzbesprechung: Buddenbrooks (1959)


Buddenbrooks
(Buddenbrooks, Deutschland 1959)

Regie: Alfred Weidenmann

Es ist sicher ein Ding der Unmöglichkeit, Thomas Manns 1901 erschienenem Roman “Buddenbrooks”, der über vier Generationen hinweg den “Verfall” einer Lübecker Kaufmannsfamilie schildert und - weit mehr als eine Abrechnung mit der eigenen Familie - für das ganze Jahrhundert von grosser Bedeutung sein sollte, mit dem Medium Film auch nur annähernd gerecht zu werden. Die am meisten um Werktreue bemühte Adaption sollte 1979 Hans Peter Wirth ermöglicht werden, der den Stoff als elfstündige Miniserie für das Fernsehen umsetzte, allerdings in Danzig drehen musste. - Wer sich den “Buddenbrooks” in etwas kürzerer Form und einen “lockeren” Umgang mit der Vorlage in Kauf nehmend annähern möchte, vom pompösen Ausstattungsstück, das uns Heinrich Breloer 2008 bot, jedoch abgeschreckt wurde, sollte vielleicht wieder einmal an Alfred Weidenmanns Verfilmung aus dem Jahre 1959 denken.

Weidenmann verzichtet wie später auch Breloer auf die erste Generation und beginnt mit dem widerlichen Schleimer Bendix Grünlich, der sich mit seinem Backenbart an Antonia Buddenbrook (Tony genannt) heranmacht, um vom Reichtum ihres Vaters zu profitieren. Im weiteren Verlauf konzentriert sich der Film auf den “innerlichen Verfall” der Familie und weist nur grob darauf hin, dass man auch zunehmend von der Geschäftsmaxime “Sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber verrichte nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können” Abstand nimmt. Wichtige Figuren und Episoden (Tonys Aufenthalt im Internat) werden nur grob gezeichnet oder ignoriert. Es kommt auch - wiederum wie bei Breloer, der sogar einzelne Szenen hinzuerfand - zu gewissen Umstellungen: So stirbt nicht Sohn Hanno als letztes Familienmitglied, sondern Thomas bei seiner Vereidigung zum Senator (statt im Strassendreck nach der Zahnbehandlung). --- Immerhin konnte Weidenmann, der wie viele Regisseure der 50er Jahre auffällig braune Flecken an seiner "weissen" Weste vorzuweisen hatte, auf die Mitarbeit von Erika Mann, die das Drehbuch absegnen musste, zählen. Erika durfte - kein Witz! - ihre Stimme sogar dem Papagei in der Zahnarztpraxis leihen.

Das grosse Plus an diesem Film: Es scheint, als hätten die späten 50er das ideale Staraufgebot für eine Verfilmung von “Buddenbrooks” geliefert. Weidenmanns äusserst unterhaltsame Version, die überdies mit ausgezeichneten Decors aufwartet, ist bis auf die kleinsten Nebenrollen hervorragend besetzt: Man bewundert sogar einen Joseph Offenbach, der als Bankier Kesselmeyer Grünlich mit hellem Lachen dessen Bankrott verkündet. Hanns Lothar, der als Christian Buddenbrook sein “That’s Maria!” singend am Ende in der Klapsmühle landet, ist ein unvergessliches Erlebnis, ebenso Robert Graf als Tonys geldgieriger Bewunderer und erster Gatte. Die ältere Generation ist mit Lil Dagover und Werner Hinz würdig vertreten; ich halte im Gegensatz zu manchen Kritikern auch Hansjörg Felmy in der Rolle des Thomas Buddenbrook für überzeugend (er kann natürlich gar nicht sämtliche Facetten der äusserst komplexen, sich in inneren Monologen entfaltenden Romanfigur abdecken). Und Nadia Tiller ist als geheimnisvoll musizierende Gerda eine Schönheit, die wie ein Fremdkörper in der bodenständigen Familie wirkt. --- Einzig Liselotte Pulver will mir als im Film stark hervorgehobene Tony nicht gefallen. Das liegt nicht daran, dass sie Schweizerin ist; es hat vielmehr damit zu tun, dass Lilo zwar über ein erstaunlich breites Rollenspektrum verfügt, jedoch schlicht keine Figur spielen kann, die im Roman äusserst ironisch angelegt ist, über die man sich also hinter vorgehaltener Hand hämisch lustig macht. Man identifiziert sich mit jeder Schnute, die Lilo als Tony zieht, lacht mit ihr, wenn sie sich naiv aufführt - aber man lacht nie über das eigentlich einfältigste Familienmitglied, das sich sogar noch für weise hält. Und das ist schade. - Man fragt sich bei dieser Gelegenheit, ob sich keine weniger bekannte Darstellerin finden liess, die die Tony besser verkörpert hätte.

Ansonsten halte ich die 1959er Version für ausserordentlich gelungen, geradezu erstaunlich professionell gemacht für die Zeit. Ich schaue sie mir immer wieder mit grossem Vergnügen an, was wohl nicht so ganz zu einem literarischen Puristen passt. Aber, um es mit Permaneder zu sagen: “Es is halt a Kreiz!”. Man kann seinen Prinzipien nicht immer treu bleiben.

Sonntag, 14. August 2011

SCREAMPLAY - wenn Horror-Drehbücher wahr werden ...

SCREAMPLAY
USA 1984
Regie: Rufus Butler Seder
Darsteller: Rufus Butler Seder (Edgar Allen), Katy Bolger (Holly), George Kuchar (Martin), Eugene Seder (Al Weiner), M. Lynda Robinson (Nina Ray), Bob White (Lot), Ed Callahan (Kleindorf), George Cordeiro (Sgt. Blatz), Basil J. Bova (Cassano)


Edgar Allen hat eine glänzende Zukunft als Drehbuchautor vor sich - hofft er zumindest. Doch sein erstes Script muss der junge Neuankömmling in Hollywood erst noch schreiben. Welche Art von Filmen ihm vorschweben, zeigt sich daran, dass er gleich mal im erstbesten Kino ein Triple Horror Feature besucht - gezeigt werden NOSFERATU, DER GOLEM und DAS CABINET DES DR. CALIGARI. Und danach umtänzelt er auf dem Hollywood Walk of Fame die in den Boden eingelassenen Sterne von Boris Karloff, Bela Lugosi und Peter Lorre. Um zunächst mal ein Dach über dem Kopf zu haben, verdingt sich Edgar als Hausmeister und Mädchen für Alles in einem drittklassigen Appartementhaus, dessen Verwalter Martin, einen unappetitlichen und gewalttätigen Kerl, er unter bizarren Umständen kennengelernt hat.


Wenn ihm jemand zu sehr auf die Nerven geht, reagiert der fantasiebegabte Edgar auf sehr eigene Weise: Er greift spontan zur Schreibmaschine und entwirft eine Drehbuch-Szene, in der die betreffende Person auf brutale und absonderliche Weise ermordet wird. Dazu hat Edgar nun reichlich Gelegenheit, denn das Appartementhaus wird von merkwürdigen und unangenehmen Zeitgenossen bewohnt. Neben Martin, der ihn ständig zur Arbeit drängt und so vom Schreiben abhält, ist da etwa Nina Ray, eine alternde und leicht nymphomanische Schauspielerin. Als sie sich aggressiv über ihn hermacht, während er den Wasserhahn ihrer Badewanne repariert, schreibt er anschließend eine Szene, in der sie in eben dieser Badewanne von einem maskierten Mörder ertränkt wird, nachdem er zuvor schon ihren Pudel zur Strecke brachte. Dann wäre da Lot, ein abgehalfterter Rockstar und jetzt eine Art Guru, der ständig Weltuntergangsprophezeiungen verbreitet, seine Mitbewohner penetrant zur "Umkehr" auffordert, und sich dabei auf der E-Gitarre begleitet. In seinem Appartement huldigt er ausführlich den gods of ganja. Als er beim Versuch, Edgar zu "läutern", diesem die Hand verbrennt, bekommt er eine Szene spendiert, in der er in bekifftem Zustand vom maskierten Killer mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und abgefackelt wird. Ein weiterer zwielichtiger Bewohner ist der aufdringliche Kleindorf, der ständig im Bademantel herumläuft. Die einzige Normale und Sympathische im Appartementhaus ist offenbar Holly, eine Schauspiel-Elevin, die sich ständig gegen Martins Grapschereien zur Wehr setzen muss.


Es dauert nicht lange, dann wird Edgar das begonnene Script mit den bizarren Morden entwendet. Und bald darauf wird Nina Ray ertränkt in ihrer Badewanne aufgefunden - unter exakt den Umständen, die Edgar beschrieben hatte! Er ist verständlicherweise beunruhigt. Und auch Lot erleidet schnell den ihm zugedachten Drehbuchtod in der Realität. Sgt. Blatz von der Mordkommission ist ob der steigenden Zahl an Leichen zunehmend ungehalten, und er hat bald einen Hauptverdächtigen, denn er erfährt von Edgars Drehbuch-Morden. Aber weil es keine handfesten Beweise gibt, bleibt Edgar auf freiem Fuß. Kleindorf will aus den Geschehnissen Kapital schlagen, und als er deshalb Edgar unter Druck setzt, bekommt auch er seinen Mord, in dem eine Art Shredder, der Küchenabfälle zerkleinert, eine Rolle spielt. Natürlich dauert es nicht lange, bis Kleindorf tatsächlich das Schicksal ereilt. Edgar ist ratlos, aber als ihm Al Weiner, ein heruntergekommener Agent, das noch gar nicht fertige Drehbuch abkaufen will, fasst er einen kühnen Plan: Er wird das Script fertig schreiben, und um den geheimnisvollen maskierten Killer zu enttarnen, wird dieser am Ende ihn, Edgar, selbst umbringen! Natürlich will sich Edgar nicht wirklich ermorden lassen, doch seine Gegenmaßnahmen sind nicht sehr professionell: Er legt sich nur einen schweren Hammer bereit, um sich zu wehren, wenn sich der Killer von hinten anschleicht, um ihn zu erwürgen, wie es die Szene vorsieht. Die Nacht der Entscheidung bricht an, und am nächsten Morgen werden weitere Leichen abtransportiert ...


SCREAMPLAY ist eine gekonnte und liebevolle Hommage an die billigen Horrorfilme der 30er bis 50er Jahre, die stilistisch vom expressionistischen Stummfilm beeinflusst waren. Zugleich ist es aber auch eine ebenso witzige wie grimmige Abrechnung mit Hollywood. Letzterer Aspekt kulminiert in einem dreisten Wortspiel am Ende des Films, das ich hier nicht wiedergeben kann, ohne heftig zu spoilern - man kann es bei den Quotes in der IMDb nachlesen. Rufus Butler Seder begann im zarten Alter von 12, Kurzfilme zu drehen. Schon als Jugendlicher und junger Mann gewann er für seine Kurzfilme mehrere Preise, SCREAMPLAY ist sein erster und einziger Spielfilm. Nach einer Ausbildung an der School of the Museum of Fine Arts in Boston und Kursen am American Film Institute in Los Angeles wollte er sich ab 1980 als Regisseur in Hollywood versuchen, doch das wurde zu einer frustrierenden Erfahrung. Seine preisgekrönten Kurzfilme beeindruckten dort niemanden, er bekam keinen Job, und nach zwei Jahren zog es ihn zurück ins heimatliche Massachusetts. Nun wollte er es den Profis in Hollywood zeigen, und er nahm SCREAMPLAY als privates Projekt mit Minimalbudget in Angriff. Das Drehbuch hatte er in den Grundzügen mit seinem Freund Ed Greenberg bereits 1976 geschrieben. Seders Wohnung in Boston wurde zu einem Mini-Studio mit einfachsten Kulissen umgerüstet - nur wenige Sekunden des Film wurden tatsächlich in Hollywood gedreht. Alle Mitwirkenden waren Freunde, Bekannte und Verwandte von Seder, und als Darsteller waren praktisch alle Laien, aber etliche hatten in irgendeiner Form mit Film oder sonstigen Künsten zu tun. Manche Beteiligte übten mehrere Rollen aus, so wurde von George Cordeiro und Basil J. Bova, den Darstellern von Sgt. Blatz und seinem schießwütigen Kollegen Cassano, auch die Musik geschrieben und eingespielt, und Dennis Piana war Produzent, Kameramann und Statist. Und Seder selbst war nicht nur Hauptdarsteller, Regisseur, Co-Autor und Cutter, er fertigte auch einen Teil der Matte Paintings, die nötig waren, um den Aufwand an Kulissen so gering wie möglich zu halten. Der bekannteste Mitwirkende war George Kuchar. Er und sein Zwillingsbruder Mike drehten seit ihrer Jugend in den 50er Jahren Independent-Filme, die zwischen Trash, Underground und Avantgarde angesiedelt sind. Seder hatte Kuchar in Kalifornien kennengelernt und sich mit ihm befreundet.


Das Budget des Films betrug weniger als 50.000 Dollar, und davon entfielen auch noch 11.000 Dollar auf medizinische Behandlungskosten für Kuchar, der sich bei den Dreharbeiten einen Knöchel brach. Das Geld wurde rein privat von den Mitwirkenden und deren Freunden und Angehörigen aufgebracht, so spendierte etwa Katy Bolgers Vater mehrere tausend Dollar. Seder und seine Mitstreiter bemühten sich mit großem Einsatz und technischen Tricks, die finanziellen Beschränkungen zu umgehen. Seders Vater Eugene, ein Journalist, Fotograf und Erfinder, spielte nicht nur die Rolle des Al Weiner, er bastelte auch eine Ausrüstung, mit der das eigentlich recht aufwendige Verfahren der Front Projection auch mit der billigen 16mm-Ausrüstung funktionierte, mit der der Film gedreht wurde (er wurde erst nachträglich zum Verleih auf 35mm aufgeblasen). Trotz allen Einsatzes ist SCREAMPLAY das mickrige Budget jederzeit anzusehen. Doch wenn man das Ziel einer Hommage an alte B-Filme und die liebevoll erdachte aberwitzige Handlung bedenkt, sollte das nicht weiter stören.


SCREAMPLAY wurde auf einigen kleineren Festivals gezeigt, erhielt jedoch schlechte Kritiken und fand zunächst keinen Verleih. Schließlich kaufte Troma die Rechte, eine Firma, die auf Trash und Schlock spezialisiert ist, und brachte den Film in Umlauf. Troma fügte dazu einen neuen Vorspann hinzu, in dem sich die Troma-Bosse Lloyd Kaufman und Michael Herz frech als Produzenten des Films bezeichnen, obwohl sie mit dessen Entstehung nicht das geringste zu tun hatten. Das wird auf der DVD noch getoppt, wo in einem Vorspann vor dem Vorspann Lloyd Kaufman mit irgendeiner Dame zwei Minuten lang herumkaspert. SCREAMPLAY bekam sowas wie die zweite Luft, als er auf einigen europäischen Festivals lief, sich eine kleine Kult-Gefolgschaft eroberte, und von einem deutschen Fernsehsender ausgestrahlt wurde. (Wenn ich mich richtig erinnere, im ZDF als "Das kleine Fernsehspiel". Damals, vor mehr als 20 Jahren, hab ich ihn auch das erste mal gesehen.) Die Einnahmen daraus gingen an Troma, Seder und seine Mitstreiter verdienten an dem Film keinen Cent. Die frustrierenden Erfahrungen in Hollywood und nach der Premiere von SCREAMPLAY bewogen Seder, seine Filmkarriere zu beenden. Stattdessen fand er eine andere Berufung: Er erfand Lifetiles, eine Art von Glaskacheln, mit denen sich Fassaden so gestalten lassen, dass sich aus verschiedenen Blickwinkeln völlig verschiedene Ansichten bieten. Diese Erfindung vermarktet Seder seither exklusiv, und er gestaltet damit Fassaden von Museen, Bahnhöfen und dergleichen. Auf Seders persönlicher Website und der seiner Firma erfährt man mehr darüber. So sehr ich Seder seinen Erfolg mit den Lifetiles gönne - es ist schade, dass er uns nicht mehr Filme beschert hat.


Wie schon angedeutet, ist SCREAMPLAY in den USA bei Troma auf DVD erschienen. Die Scheibe enthält jede Menge störendes Troma-Beiwerk, aber auch einen Audio-Kommentar von Seder.

Samstag, 6. August 2011

Intergalaktische Rachefeldzüge

Der Weltraum - unendliche Weiten. Und mitten in ihnen kauert ein Affenmensch, schält seine Banane und sinnt auf Rache. Denn er ärgert sich nicht nur über das Filmstöckchen, zu dem ich ihn neulich freiwillig verdonnerte; ihn wurmt besonders meine Drohung, nächstens mit 120 Fragen anzutraben. Dieser Drohung wollte er zuvorkommen, was heisst: er bürdete mir, dem an sich so seriösen Blogger, Verfasser höchst präziser, gelegentlich sogar poetisch anmutender Besprechungen, noch ein paar Fragen auf, die er, faul wie Affenmenschen nun mal sind, einfach von Chaosmacherin stibitzte. Was er affig nicht ahnt: Meine nächste Besprechung wäre mal wieder Futter für seine Aktion DÖS gewesen - auf das er jetzt lange warten kann. Und "Whoknows Presents", früher als Blog der Intelligenzija verrufen, nähert sich zunehmend, wenn hoffentlich auch ein letztes Mal, dem Niveau einer jener Zeitschriften an, wie sie in jedem Beauty-Salon herumliegen.

Deshalb, Leute, die ihr die Würde eures Blogs nicht aufgeben wollt: Seid gewarnt! Meidet Planeten, die von Gorillas, Orang-Utans oder Christoph Blocher bewohnt werden!  Darth Vader (worum es sich dabei auch immer gehandelt haben mag) war nämlich gestern. Die Zukunft gehört Intergalaktischen  Affenmenschen! Das sieht nicht rosig aus.

Aufgezwungene Bonusrunde:

1. Der beste Film mit Kate Winslet ist für mich Little Children (2006)
2. "Der Pate" hat sich zu Weihnachten mir gegenüber immer geizig gezeigt, ist aber aus filmischer Sicht ein Meisterwerk.
3. Animationsfilme sind vor allem in meiner Erinnerung noch präsent, interessieren mich jedoch nur noch in seltenen Fällen.
4. Ein guter Film hat oft das, was im 18. Jahrhundert als  "je ne sais quoi", bezeichnet wurde und noch heute schwer in Worte zu fassen ist.
5. Jude Law hat seine beste Leistung in "Midnight in the Garden of Good and Evil" (1997) - er wird recht früh aus dem Weg geräumt.
6. Ich wünschte, der von mir bewunderte Gérard Philipe würde noch leben.

1. Der beste Film mit Cameron Diaz ist für mich There's Something About Mary (1998)
2. "Der Untergang" gehört zu den Filmen, die ich mir nie antun werde.
3. Deutsche Filme sind siehe "Aktion DÖS"!
4. Ich würde gerne die Hauptrolle in "The  Women" (1939) spielen; falls es dort überhaupt eine Hauptrolle gibt...
5. Der beste Film mit Christian Bale ist für mich Velvet Goldmine (1998)
6. Hannibal Lecter in "The Silence of the Lambs" (1991) ist der beste Filmbösewicht für mich.

1. Der beste Film mit Tom Hanks ist für mich The Burbs (1989)
2. Wenn ich ein Regisseur wäre, hätte ich gerne u.a. "Babettes gæstebud" (1987) gedreht.
3. Steven Spielberg hat mir nur selten etwas zu bieten.
4. Nachdem ich "The Hunger" (1983) im Kino gesehen hatte, musste ich kotzen - und schwor, nie wieder in einer Nobelspelunke einen Orientalischen Reisteller zu bestellen.
5. Der beste Film mit Halle Berry ist für mich Gothika (2003) - Antwort von Mutti diktiert...
6. Remakes von Filmen finde ich in 80% aller Fälle indiskutabel.

1. Der beste Film mit Hugh Jackman ist für mich The Prestige (2006)
2. Die Anfangsszene von "Sunset Blvd." (1950) hat mich beeindruckt (ist eine der denkwürdigsten überhaupt)
3. Die beste Verfolgungsjagd gab es in "What's Up, Doc?" (1972) zu sehen.
4. Die Filmreihe Don Camillo beweist mir, dass politische Anliegen und höchster Unterhaltungswert durchaus zueinander passen können.
5. Der beste Film mit Nicole Kidman ist für mich The Hours (2002)
6. Star Wars habe ich bis knapp vor der Hälfte des ersten Teils durchgestanden (wer zum Teufel ist Darth Vader?)

1. Der beste Film mit Moritz Bleibtreu ist für mich Agnes und seine Brüder (2004). Und nein: Es geht mir dabei nicht um die berüchtigte Wichs-Szene!
2. Das Ende von "Gone With the Wind" (1939) fand ich echt grossartig. Ist nun mal so.
3. Die beste Actionszene gab es in Filmen, die ich mir gar nicht antue, zu sehen.
4. Wenn ich ins Kino gehe, hasse ich es, wenn gefurzt wird - besonders von mir.
5. Der beste Film mit Franka Potente ist für mich Opernball (1998)
6. Bei "Everything Is Illuminated" (2005) sind bei mir so einige Tränen gekullert .
7. Mein zuletzt gesehener Film war "Idiocracy" (2006), und der war gut für mein Ego, weil er es mir ermöglichte, mir des Affenmannes Urenkel als verfressene und sexgierige Wesen vorzustellen, die im Müll leben und den Film "Arsch" mit Oscars überhäufen.

So, jetzt reichts! Sollte mir noch einmal jemand mit derartigen Racheaktionen kommen, fliegt er gnadenlos aus meiner Galaxie aka Blogrolle. Ich möchte nämlich endlich die letzten Einträge vor meinem Urlaub als Blogger beenden und Manfred Polaks Peitschenhieben entgehen, weil ich "Whoknows Presents" zum Un-Blog des Jahrzehnts verkommen lasse.

Dienstag, 2. August 2011

Knüppel aus dem Sack aka Filmstöckchen

Christian, fälschlicherweise oft mit "Herr Foyer" angeredet, besass, liebe Leserin, lieber Leser, die Unverschämtheit, uns, die erlauchten Autoren von "Whoknows Presents", mit einem Knüppel zu bewerfen. Gerichtlich angeordnete Untersuchungen wegen der Platzwunden ergaben dann, dass es sich nur um ein Stöckchen, genauer gesagt: um ein Filmstöckchen handelte, das er von Going To The Movies übernommen hatte. - Nun liess mich mein werter Co-Admin, bei dem es sich in Wirklichkeit nicht um Manfred Polak, sondern um den fetten Milliardär und König der Schweiz Christoph Blocher handelt, wissen, er habe es eher mit seinem Tischlein deck dich und dem Goldesel als mit Knüppeln, wie sie seine Bewunderer mit sich herumtragen. - Also bleibt die Aufgabe mal wieder an mir, dem geplagten Adjutanten hängen. Seis drum: Manfred Polak aka Ihr-wisst-schon will angeklickt werden!

- Ein Film, den du schon mehr als zehnmal gesehen hast
Beschämend viele! Ich erwähne neben diversen Hitchcock's ein Meisterwerk und etwas, was man als "guilty pleasure" bezeichnet: Tony Richardson's leider ein wenig in Vergessenheit geratene herrliche Literaturverfilmung "Tom Jones" (1963)  und - äh - nun ja: "I Heart Huckabees" (2004) von David O. Russell.

- Ein Film, den du mehrfach im Kino gesehen hast
 Mit stolzer Geste (that's me!): "The Aristocats" (1970) von Wolfgang Reitherman. Ungern daran erinnert: "Amadeus" (1984) von Miloš Forman.

- Ein Schauspieler, wegen dem du eher geneigt wärst, einen Film zu sehen
Sean Connery, Michel Piccoli, Edward Norton

- Ein Schauspieler, wegen dem du weniger geneigt wärst, einen Film zu sehen
Wie heisst er doch gleich, dieser nuschelnde deutsche Schauspieler, der als bewegter Mann unbewegt und schweige(r)nd nackig auf einem Tisch kauerte?

- Filmmusical, dessen Songtexte du komplett auswendig kannst?
 It's astounding, time is fleeting... ("The Rocky Horror Picture Show", 1975). Und noch eines, das ich aber jetzt nicht verrate, weil es vor meinem Urlaub noch besprochen werden soll.

- Ein Film, bei dem du mitgesungen hast
Ich ertappe mich dabei, die Lieder in alten Marlene Dietrich-Filmen mitzujaulen.   Ein Song aus "Destry Rides Again" (1939) gehört zu meinen Favoriten.

- Ein Film, den jeder gesehen haben sollte
"So sind die Tage und der Mond" (Il y a des jours ... et des lunes, 1990) von Claude Lelouch. Er macht gnadenlos Lust auf mehr Arbeiten des höchst eigenwilligen Poeten des Films.

- Ein Film, den du besitzt
Wie ich schon Blochi aka Manfred in einer E-Mail mitteilte, habe ich mich ernsthaft bemüht,  den Film, den ich weder gestohlen, noch raubkopiert oder ausgeliehen und nie zurückgegeben, sondern für zwei Fränkli in einem Ramschladen für mich persönlich gekauft habe, ausfindig zu machen. Und ich werde euch den Titel des Schunds mit Sicherheit nicht nennen, weil er das einzige ist, was die Gläubiger von mir noch einfordern könnten.

- Ein Schauspieler, der seine Karriere nicht beim Film startete und der dich mit seinen schauspielerischen Leistungen positiv überrascht hat?    
 Johnny Depp, der tatsächlich mal gute Filme machte

- Schon mal einen Film in einem Drive-In gesehen?
Ne, aber im Pool. Zählt das auch?


- Schon mal in einem Kino geknutscht?
Ja. Wobei ich betonen muss: Alle anderen knutschten auch, dem Stöhnen nach zu schliessen sogar die auf der Leinwand.


- Hast du jemals das Kino verlassen, weil der Film so schlecht war?
Kam bei mir öfters vor. Ich erinnere mich mit Vorliebe an einen Zwischenfall in England: Die Lee Remick-Schnulze "Torn Between Two Lovers" (1979) war so grottig, dass ich mich zwischen den das ganze Tempo-Sortiment vollschluchzenden Engländerinnen duchquetschen musste. Einige fassten mir zwischen die Beine, die Schlampen!

- Ein Film, der dich zum Weinen gebracht hat
Ich bin eine Heulsuse. Jeder Weihnachtsfilm, den Hollywood in den 40ern drehte, bingt mich zum Heulen. Da es aber um den einen gehen soll, erwähne ich mal "Everything is Illuminated" (2005) von Liev Schreiber, weil er den Zuschauer so geschickt von einer Groteske in eine höchst bewegende Geschichte begleitet.

- Popcorn
Nein, Salzstangen von Roland, mit denen ich den ganzen Sessel versaue.

- Wie oft gehst du ins Kino?
Nur noch selten. Ich ziehe heute Sichtungen auf DVD  vor, weil auch Basel sich in eine Stadt verwandelt hat, die auf Blockbuster setzt und Raritäten oder Oldies keine Chance mehr gibt.

- Welchen Film hast du zuletzt im Kino gesehen?
"Les femmes du 6ème étage" (Nur für Personal, 2011) 


- Dein Lieblingsgenre
Gibts nicht. Ich kann höchstens sagen, dass ich mit Science Fiction, Comic-Verfilmungen und Anime selten etwas anzufangen vermag.

- Der erste Film, den du im Kino gesehen hast
Das muss ein Disney gewesen sein. Ich könnte aber nicht mehr sagen, welcher. Was mir eher in Erinnerung geblieben ist: wie eifersüchtig ich auf  Heintje  war, der sich in "Heintje - Ein Herz geht auf Reisen" (1969) so etwas wie schauspielerische Höchstleistungen abrang.

- Welchen Film hättest du lieber niemals gesehen?
"Tea and Sympathy" (1956) von Vincente Minnelli. Er erweckte in mir das Gefühl, ich müsse mich schämen, weil ich auf Männer stehe. Ich war etwa neun Jahre alt.

- Der merkwürdigste Film, den du mochtest
"Heute nacht oder nie" (Schweiz 1972) von Daniel Schmid. Der eigenartige Film, den ich etwa als 15-Jähriger sah, erzählt in höchst poetisch anmutenden Bildern die seltsame Geschichte einer adeligen Familie, die ein einziges Mal im Jahr mit ihren Angestellten die Plätze tauscht. Bizarr, faszinierend und unverständlich. Heute weiss ich, dass es auch um das Scheitern der 68er-Bewegung ging. Müsste mal versuchen, an die DVD ranzukommen.

- Der beängstigendste Film, den du je gesehen hast
Eindeutig Jack Clayton's "The Innocents" (Grossbritannien 1961). Das Furchteinflössende verdankt die Verfilmung einer Novelle von Henry James dem Umstand, dass man selbst am Ende nicht weiss, ob man nun wirklich von einer Besessenheit oder der Hysterie einer Gouvernante ausgehen soll. Die grandiosen Schwarzweiss-Bilder und die Musik lassen sich nicht überbieten.


- Der lustigste Film, den du je gesehen hast
Eigentlich müsste ich jetzt eine Wahl zwischen klassischen  und neueren Screwball Comedies treffen, erinnere jedoch aus Trotz an Philippe de Broccas "Les Tribulations d'un Chinois en Chine" (Die tollen Abenteuer des Monsieur L., 1965), in dem Jean-Paul Belmondo einen lebensmüden steinreichen Junggesellen spielt, der das Leben plötzlich behalten möchte, als ihn jemand umbringen will. Herrlicher Klamauk mit unserem Urseli National, das einst im massgeschneiderten Bikini dem Meer entstieg, um in die Arme von James Bond zu sinken.

 ***

So! Das Schöne an diesen Stöckchen: Sie schreien nach Rache; denn man kann sie weitergeben. Hach! --- Ich habe in meiner Blogroll lange nach einem würdigen Objekt gesucht, an dem ich mich abreagieren könnte. Nun weiss ich, dass einige meiner Erz-Freunde wie mono.micha oder Alex gleich auf mehreren Hochzeiten tanzen, sich gleichsam der Bigamie hingeben. Meinen Co-Admin wiederum muss ich in Watte einpacken, da er - wie angedeutet - in der Schweizer Politik eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Also:

Ich gebe Knüppel wie Stöckchen deshalb mal weiter an den Intergalaktischen Affenmenschen, mit dem ich noch eine kleine Rechnung zu begleichen habe, an Samsa, weil mir noch immer viel daran liegt, seinem Blog zur verdienten Anerkennung zu verhelfen - und natürlich schon aus reinem Patriotismus (wir Eidgenossen halten zusammen!) an gabelingeber, wobei ich mich jetzt schon hämisch auf die Stummfilme freue, die seine Antworten zieren. - Möge einer von euch - es dürfen auch mehrere und andere, die Lust haben, sein! - das Stöckchen ergreifen.

Ich hoffe, Herr Foyer, ihr Stöckchen zu Ihrer Zufriedenheit aufgenommen zu haben.Und Manfred Polak ist natürlich Manfred Polak, nicht ein oller Rechtspopulist, der sich was auf die billigen Parolen seiner Partei und sein Schloss in Rhäzüns einbildet.

Ach ja: Wehe, ihr kommt mir noch einmal mit einer solchen Aufgabe! Dann bastle ich mein eigenes Stöckchen zusammen. Es umfasst rund 120 Fragen, die z.T. auch euer Intimleben betreffen.

Es sei nachträglich hinzugefügt, dass der Intergalactic Ape-Man seiner Pflicht bereits nachgekommen ist. Super Antworten! Ich freue mich sehr. - Und diejenigen, die Kommentare nicht brav lesen, sollten auch beachten: McKenzie lieferte dort  möglicherweise stellvertretend für das ganze Hofbauer-Kommando, das gerüchtehalber bei Eskalierende Träume Unterschlupf fand, ein sensationelles Filmstöckchen - weitestgehend ohne hüpfende Brüste, damit mal endlich solche Vorurteile aus dem Weg geräumt sind.

Und schon nahm  gabelingeber das Stöckchen mit eidgenössischer Zuverlässigkeit entgegen. Wenn ich mal nicht die richtigen Leute ausgesucht habe, dürft ihr mich Wilhelm nennen! - Mittlerweile ist auch vannorden von "the gaffer", der käufliche Abhorcher von Gesprächen zwischen Fremden, zu uns gestossen. Willkommen, alter Junge! Mögen unsere Stöcke der Börse zu neuem Auftrieb verhelfen!

Sonntag, 31. Juli 2011

Bundesrat von Steigers Boot - Gedanken zum Schweizer Nationalfeiertag (1. August)

Das Boot ist voll
(Das Boot ist voll, Schweiz/Deutschland/Österreich 1980-1981)

Regie: Markus Imhoof
Darsteller: Tina Engel, Hans Diehl, Martin Walz, Curt Bois, Mathias Gnädinger, Michael Gempart, Renate Steiger u.a.

Es gibt “blumige” Umschreibungen, die nie hätten gemacht werden dürfen, weshalb sie, die niedrige Gesinnung Einzelner, einer ganzen Gesellschaftsgruppe oder gar einer Nation entlarvend, mit Recht in pointierter Form Eingang in die Geschichtsbücher finden. Zu diesen Umschreibungen gehört ein Vergleich, mit dem Bundesrat Eduard von Steiger 1942 einen folgenschweren Bruch mit der traditionellen Flüchtlingspolitik der Schweiz  zu rechtfertigen versuchte: “Wer ein schon stark besetztes kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen und ebenso beschränkten Vorräten zu kommandieren hat, indessen Tausende von Opfern einer Schiffskatastrophe nach Rettung schreien, muss hart scheinen, wenn er sie nicht alle aufnehmen kann. Und doch ist er noch menschlich, wenn er beizeiten vor falschen Hoffnungen warnt...”

Worum ging es?  - Die Schweiz, stolz auf ihre “humanitäre Tradition”, die sie seit Jahrhunderten verpflichtete, politisch oder religiös Verfolgten ein Ort der Zuflucht zu sein,  gewährte auch zwischen 1939 und 1945 über 28 000 Juden meist vorübergehend Asyl. Doch viele Tausende hätten noch vor dem sicheren Tod gerettet werden können, wäre dies nicht von zwei fremdenfeindlich und vor allem antisemitisch gesinnten Juristen verhindert worden.  Am 13. August 1942 erliess Heinrich Rothmund, Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, der schon 1919 vor einer “Verjudung” der Schweiz gewarnt hatte, eine totale Grenzsperre für Flüchtlinge. Sein Vorgesetzter Eduard von Steiger lockerte nach Protesten aus der  Bevölkerung zwar bald darauf diese Sperre, sorgte aber de facto dafür, dass Juden bis 1944 nicht als politische, sondern lediglich als “Flüchtlinge aus Rassengründen” galten, was kein ausreichender Grund für eine Aufnahme in der Schweiz darstellte. Seine Begründung: das Boot Schweiz sei überfüllt. - Privatpersonen wie der St.Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger und einzelne Organisationen verhalfen dennoch Juden zur Einreise; im Ganzen spielten aber der Nazi-freundliche Bundesrat von Steiger und sein willfähriger Angestellter der vorherrschenden antisemitischen Stimmung in der Schweiz in die Hände. Die Zahl der Flüchtlinge, die gleich an der Grenze wieder abgeschoben und von deutschen Spezialeinheiten nach Osten deportiert wurden, ist umstritten. Es waren an die 30 000. - Nazi-Bundesrat Eduard von Steiger aber blieb bis zum Jahre 1951 im Amt. Und die Schweiz musste zwar während des Zweiten Weltkrieges auf vieles verzichten, kam aber dank ihrer "guten Beziehungen" zum Mann mit dem Schnauzbart im Vergleich zu anderen europäischen Ländern gut davon, hätte also trotz des Geschreis, das die Kriegsgeneration nach Veröffentlichungen historischer Untersuchungen jeweils wie eingeübt anstimmte, problemlos noch Platz für viele verfolgte Juden im angeblich überfüllten Boot gefunden.

1967 veröffentlichte der Schweizer Journalist Alfred A. Häsler, der schon während des Weltkriegs gegen die Nationalsozialisten angeschrieben und Flüchtlingsbewegungen unterstützt hatte, eine wegweisende Darstellung zur Schweizerischen Flüchtlingspolitik, der er den Titel “Das Boot ist voll” gab und die zum Entsetzen der damaligen Regierung Betroffenheit auslöste, weil sie menschliche Schicksale ins Zentrum rückte. Häslers Buch regte den Schweizer Regisseur Markus Imhoof zu einem Film an, der sich, an Marvin J. Chomsky’s Fernsehfilm “Holocaust” (1978) anschliessend, mit der Vergangenheit des eigenen Landes auseinandersetzen sollte:

Im Kriegssommer 1942 gelingt einer sechsköpfigen zusammengewürfelten Häftlingsgruppe, darunter ein desertierter Soldat und ein Junge, der nur französisch spricht, die Flucht aus einem deutschen Transportzug, der durch die Schweiz fährt. Anführerin der Entkommenen ist die Jüdin Judith, deren Mann bereits als internierter Flüchtling in der Schweiz lebt. - Man findet Unterschlupf in einem Landgasthof, dessen Besitzer zwar wenig begeistert sind, ihnen aber vorläufig das Waschhäuschen als Versteck anbieten. Während der ruppige Wirt Franz gleich nach dem Dorfpolizisten schicken lässt, sich  letztlich aber nach anfänglichem Misstrauen doch der Entflohenen annimmt, sucht seine Frau Rat beim Dorfpfarrer, der ihr den Hinweis gibt, dass Eltern mit Kindern nicht ausgewiesen werden dürfen. Also wird aus den sechs Fremden flugs eine Familie konstruiert, und mit etwas Komplizenschaft einiger Dörfler wird durch Rollen- und Kleidertausch ein Verstellspiel organisiert, das anfänglich zu funktionieren scheint. Bald wird den “ausländischen Schmarotzern”, über die die wildesten Gerüchte kursieren (jede vorübergehend verschwundene Katze wurde angeblich von ihnen gemetzget),  jedoch mit unverhohlener Ablehnung begegnet - und der Polizist waltet buchstabengetreu seines Amtes. Die Gruppe wird zurück zur deutschen Grenze eskortiert, wo sie der Tod im Konzentrationslager Treblinka erwartet.

“Das Boot ist voll”, dem der Bund einen Förderungsbeitrag verweigerte, ist sicher nicht grosses Kino; man kann ihn nicht einmal als Imhoofs besten Film bezeichnen. Trotz einzelner herausragender schauspielerischer Leistungen (Mathias Gnädinger wirkt als bärbeissiger Naturschweizer ebenso überzeugend wie Tina Engel als zu allem entschlossene jüdische Frau, die zu ihrem Mann will) mutet das im Schaffhausischen aufgenommene Drama  über weite Strecken leider doch wie gut gemeintes Volkstheater an. Dies mag teils am Drehbuch liegen, teils auch an dessen filmischer Umsetzung. Dass “Das Boot ist voll” 1982 eine Oscar-Nominierung als bester fremdsprachiger Film erhielt, ist deshalb eher dem Thema und seiner ehrlichen, geradezu nüchternen Aufarbeitung zuzuschreiben als künstlerischer Grösse. Der ebenfalls um Aufarbeitung bemühte, jedoch wesentlich bessere Film “Reise der Hoffnung” (1990) von Xavier Koller, der sich  den Oscar dann auch tatsächlich holte, scheint diese These zu bestätigen - was Schweizer, die sich Auszeichnungen für Kuschelfilme wie “Vitus” (2005) oder “Die Herbstzeitlosen” (2006) erhofften, zum Nachdenken anregen sollte.

Dass Imhoofs Film trotz seiner Schwächen heute noch geradezu beängstigend aktuell wirkt, hat mit einem hasserfüllten Zeitgeist zu tun, der seit den 50er Jahren die Geschichte der Schweiz trotz aller Aufklärung durchzieht und sich  immer wieder bemerkbar macht, wenn Ausländer angeblich das "Boot" zu überfüllen scheinen. In den 50er Jahren waren es die Italiener, die man als Gastarbeiter geholt hatte und die sich, ihre Familien mit sich bringend, plötzlich bei uns niederliessen (Max Frisch meinte dazu: “Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen”). Später waren es Spanier und Türken, die all die Arbeiten verrichteten, an denen sich die Schweizer die Finger nicht dreckig machen wollten - und denen man im Gegenzug sämtliche hier begangenen Verbrechen anlastete. Als dann Tamilen und Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien bei uns anklopften, durften sie, ungeachtet ihres tatsächlichen Lebenswandels, die Rolle des Verbrecher-Kollektivs, das die saubere Schweiz übervölkerte und verludern liess, übernehmen. Selbst einem anständigen Krankenpfleger, dessen Name auf -ic endete, wurde die Einbürgerung verwehrt.

Mittlerweile können wir die Männer aus Angola, Nigeria oder Algerien, die mit dem Vorsatz in unser Land kommen, hier zu delinquieren, tatsächlich nicht mehr unter Kontrolle halten. Dass dem so ist, verdanken wir jener Partei, die lauthals gegen sämtliche Ausländer anschreit, statt zwischen echten Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterscheiden; die lediglich der Machterhaltung eines alten Milliardärs ohne Schnauzbart, aber mit Froschmaul dienenden  Stimmenfang mit Ausländerhass betreibt - und deren drei Buchstaben man hier nicht mehr nennen muss, werden doch ihre Plakatkampagnen gerne von den rechtsextremen Parteien anderer Länder übernommen. Diese Partei argumentiert nicht mehr mit dem überfüllten Boot, obwohl sie, wenn es nicht gerade um steinreiche Ausländer geht, denen man Steuererleichterungen gewährt, gerne auf die "Übervölkerung" hinweist; sie findet neue, entschieden weniger “blumige” Umschreibungen: schwarze Schafe, die man mit einem Tritt in den Arsch aus der Schweiz hinausbefördert, Minarette, die das drohende Aussehen von Mittelstreckenraketen erhalten oder ausländische Verbrecher, die das Schweizer Kreuz auseinanderreissen. - Und sie hat damit Erfolg, was einiges über die seit dem Zweiten Weltkrieg unveränderte Gesinnung vieler Schweizer aussagt...


Montag, 25. Juli 2011

Frühsozialisten, Puritaner und ein Amateurfilm: WINSTANLEY

WINSTANLEY
Großbritannien 1975
Regie: Kevin Brownlow und Andrew Mollo
Darsteller: Miles Halliwell (Winstanley), Jerome Willis (Fairfax), David Bramley (Platt), Alison Halliwell (Mrs. Platt), Phil Oliver (Will Everard), Terry Higgins (Tom Haydon), Dawson France (Capt. Gladman), Sid Rawle (Ranter)


There's really not much to be said for WINSTANLEY, except that it's the most mysteriously beautiful English film since the best of Michael Powell (Jonathan Rosenbaum, 1976)

Im letzten November erhielten nicht nur Jean-Luc Godard und Eli Wallach einen Ehrenoscar für ihr Lebenswerk, sondern auch Kevin Brownlow - letzterer für seine Verdienste als Filmhistoriker, -restaurator und -journalist. In Büchern und Fernsehsendungen hat er dem modernen Publikum die Welt des Stummfilms nahegebracht, und Brownlow ist es zu verdanken, dass Abel Gances Monumentalwerk NAPOLÉON heute wieder in einer mehr als fünfstündigen Version vorliegt. Weniger bekannt ist, dass er gemeinsam mit seinem Freund Andrew Mollo auch zwei Spielfilme außerhalb der Filmindustrie inszeniert hat, und dass er vielleicht professioneller Regisseur geworden wäre, wenn Angebote von den Studios gekommen wären - doch die blieben aus.


England 1649, als die Puritaner unter Oliver Cromwell die Monarchie abgeschafft und eine Herrschaft des Parlaments errichtet hatten, aus der bald eine Diktatur unter dem "Lordprotektor" Cromwell wurde. Auf St. George's Hill, einem bislang unbewohnten Hügel in der Grafschaft Surrey, lässt sich eine Gruppe von Leuten nieder, die radikale Ideen vertritt, und beginnt, mit primitiven Mitteln Landwirtschaft zu treiben. Nach dem Bürgerkrieg hatten die sogenannten Levellers ("Gleichmacher") soziale und politische Reformen gefordert. Als diese ausblieben, insbesondere das Wahlrecht weiterhin den Grundbesitzern vorbehalten blieb, war es zu einer Meuterei der Levellers innerhalb Cromwells New Model Army gekommen, die gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die Neuankömmlinge auf dem Hügel bildeten eine Splittergruppe mit noch weiterreichenden Forderungen, die auf einen christlichen Kommunismus hinausliefen, der aus der Bibel heraus (im Wesentlichen einige Sätze aus der Apostelgeschichte) begründet wurde. Die Gruppe nennt sich zunächst True Levellers, wird aber wegen ihrer landwirtschaftlichen Aktivitäten bald Diggers ("Buddler") genannt und übernimmt diese Bezeichnung schließlich selbst. Die Diggers bestehen aus durch den Bürgerkrieg verarmten Bauern und Handwerkern, aus Veteranen der New Model Army, die wenig Sold erhielten und nun vor dem Nichts stehen, und aus ihren Frauen und Kindern. Ihr Anführer ist der charismatische Gerrard Winstanley, ein durch den Krieg ruinierter Schneider und Stoffhändler aus London. In Pamphleten und theologischen Traktaten entwirft er das Programm der Diggers.


Die Diggers sind bald Anfeindungen ausgesetzt. Der Hügel gehört zu den Commons, ist also Gemeineigentum, und die Diggers wollen zwar langfristig das Privateigentum abschaffen, achten aber darauf, bestehendes Eigentum nicht zu verletzen. Doch formal verletzen sie das Gesetz, denn Commons dürfen nur als Viehweide benutzt, aber nicht bebaut oder zum Holzeinschlag benutzt werden. Die ortsansässigen Bauern fühlen sich von den Diggers bedroht, weil diese weidendes Vieh von ihren neu angelegten Feldern vertreiben, und sie attackieren die Siedlung der Diggers gewaltsam. Ebenfalls beunruhigt fühlen sich die reichen Grundbesitzer der Gegend, deren mächtigster der adelige Francis Drake ist. Zum größten Feind der Diggers wird jedoch der presbyterianische Pfarrer John Platt. Erstens gehört auch er zu den wohlhabenden Grundbesitzern. Zweitens ist es ihm, dem ordinierten Priester, zutiefst suspekt, wenn Laien theologische Abhandlungen verfassen. Drittens sind bereits einige seiner Schäflein zu den Diggers übergelaufen. Und viertens schließlich sympathisiert seine Frau Margaret, mit der er eine durch starre Konventionen geprägte Ehe führt, offen mit den Diggers - selbst am Mittagstisch liest sie aus Winstanleys Abhandlung "The New Law of Righteousness", und sie kündigt sogar an, sich den Diggers anschließen zu wollen.


Als die Grundbesitzer eine Beschwerde über die Diggers an den Staatsrat in London richten, erscheint ein Trupp Soldaten unter Captain Gladman am Hügel und fordert den Abzug der Siedler. Winstanley und sein Freund Will Everard werden daraufhin bei Lord General Fairfax vorstellig, dem derzeitigen Oberbefehlshaber in England (Cromwell führt gerade Krieg in Irland). Fairfax ist von der Courage und Offenheit der beiden beeindruckt und gibt den Diggers eine Chance. Gladman wird mit ein paar Leuten beim Hügel stationiert, um den Frieden zu sichern. Doch er hält es mit den Gegnern der Diggers, und die Übergriffe gehen weiter - immer wieder werden Diggers verprügelt, werden ihre Hütten und Felder verwüstet. Als bei einem der Überfälle sogar ein Mann und ein Kind erschlagen werden, beschwert sich Winstanley bei Fairfax über Gladman und erhält die Zusicherung, dass sich Derartiges nicht mehr wiederholen wird. Doch die Schikanen haben damit kein Ende: Winstanley und zwei seiner Mitstreiter werden von Francis Drake wegen Trespassing, unerlaubten Betretens von Land, vor Gericht zitiert. Schon der in Latein gehaltene Auftakt des Prozesses zeigt, wo es langgeht. Die drei Diggers haben kein Geld, um sich einen Anwalt zu leisten, dürfen sich jedoch nicht selbst verteidigen, und gelten deshalb als nicht erschienen, obwohl sie im Gericht anwesend sind. Nach zweimaliger Vertagung wird der Prozess formal in ihrer Abwesenheit geführt. Natürlich verlieren sie und werden zu einer für sie astronomischen Geldstrafe verurteilt. Weil sie nicht bezahlen können, werden die wenigen Kühe der Diggers beschlagnahmt, und ihre Versorgungslage wird langsam prekär. Ohnehin ist der Boden auf dem Hügel unergiebig, der oft peitschende Wind und der sprichwörtliche englische Regen machen den Siedlern das Leben schwer, und die Angriffe auf die Felder tun ein Übriges.


In der Siedlung der Diggers treffen fünf Neuankömmlinge ein: Ranters, Mitglieder einer besonders radikalen, anarchischen und libertären Gruppierung (deren Existenz von manchen Historikern bestritten wird). Die bisher ungetrübte Eintracht unter den Siedlern wird von den aggressiven Ranters, die von den anderen misstrauisch beäugt werden, nun auf die Probe gestellt. Will Everard, der die Siedlung nach einem der Überfälle verlassen hat, bringt unterdessen die Nachricht, dass sich in einigen Orten in verschiedenen Grafschaften neue Diggers-Kolonien gebildet haben. Mrs. Platt hat inzwischen ihre Ankündigung wahrgemacht und ist ins Lager der Diggers gezogen. Doch die radikalen Ansichten über das Privateigentum gehen ihr bald doch zu weit, und als einer der Ranters sie obszön beleidigt und nackt vor ihr herumturnt, sucht sie entsetzt das Weite und kehrt reumütig zu ihrem Mann zurück. In einer Überreaktion beschuldigt sie nun alle Diggers des zügellosen Verhaltens der Ranters. Platt fühlt sich im Aufwind und holt zum nächsten Schlag aus: Auf seine Veranlassung hin verkaufen die Ladenbesitzer der Gegend den Diggers keinerlei Waren und Lebensmittel mehr, und diese leiden nun, kurz vor dem Winter, an akuter Unterversorgung - die Kinder sind bereits unterernährt und krank. In dieser verzweifelten Situation beschließt ein Teil der Diggers unter Tom Haydon, einem tatkräftigen früheren Soldaten, einen Laden zu plündern. Winstanley ist entsetzt - er weiß, dass dies das Ende der Diggers bedeuten würde. Vergeblich versucht er, Haydon und seine Gefolgschaft zurückzuhalten. Einsam und traurig steht er auf dem windumtosten Hügel, blickt den Davonziehenden hinterher und scheint den prasselnden Regen nicht zu bemerken. Es kommt, wie es kommen muss: Haydon und seine Leute werden inhaftiert, und Pfarrer Platt triumphiert - Fairfax hat nun keine andere Wahl, als den Schutz der Diggers zu beenden. Ein großer Trupp Soldaten, angeführt von Platt persönlich, erscheint auf dem Hügel, vertreibt die restlichen Diggers, und macht die Siedlung dem Erdboden gleich. Den anderen Diggers-Kolonien ergeht es ähnlich. Pfarrer Platt zieht im Triumph durch seine Ortschaft und lässt sich von den Bewohnern als Held feiern. Am Ende des Films bedeckt frisch gefallener Schnee den menschenleeren Hügel.


Was im Film nicht mehr gezeigt wird: Winstanley veröffentlicht 1652 ein letztes Pamphlet, in dem er seine Ideen noch einmal darlegt, danach schließt er sich den Quäkern an und führt ein bürgerliches Leben, zuletzt wieder als Händler in London, wo er 1676 stirbt. Denn es gab sie wirklich, Gerrard Winstanley und die Diggers. Sie blieben als eine der ersten sozialistischen oder kommunistischen Bewegungen in Europa in Erinnerung und wurden so zu Vorbildern und Namensgebern späterer Verfechter von alternativen Gesellschaftsentwürfen, insbesondere von Hippies in den 60er und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Eine seinerzeit bekannte Gruppe englischer Hippies nannte sich Hyde Park Diggers oder New Diggers. Einer ihrer Anführer war der 2010 verstorbene Sid Rawle, ein Friedensaktivist, passionierter Land- und Hausbesetzer, Veranstalter freier Musikfestivals, und in späteren Jahren ein New-Age-Apologet im Dunstkreis von Stonehenge. Er spielt in WINSTANLEY den Wortführer der Ranters, eine Rolle, für die er sich kaum verstellen musste. Auch die übrigen Ranters wurden von Rawles Hippie-Freunden gespielt, die er selbst für die Rollen aussuchte. Unter den Hippies in San Francisco gab es ebenfalls eine besonders aktivistische und anarchische Fraktion, die sich Diggers nannte, und zu deren Aktivitäten auch improvisiertes Straßentheater gehörte. Mitgründer und bekanntestes Mitglied war der Schauspieler Peter Coyote. 1961 veröffentlichte der englische Schriftsteller David Caute, damals Sozialist, seinen Roman "Comrade Jacob" über Winstanley und die Diggers, und zog darin implizit Parallelen zwischen den Geschehnissen im 17. Jahrhundert und der Gegenwart. Das Buch wurde zum Anstoß und zur Vorlage für Brownlows und Mollos Film.


Der 1938 geborene Brownlow fand mit 11 Jahren zu seiner Filmleidenschaft, als er in einem Trödelladen zwei stumme Filmrollen im Format 9.5mm erstand, die Szenen aus dem Leben Napoleons zeigten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Fragmente von Gances NAPOLÉON von 1927. Brownlow war von dem, was er da sah, begeistert, und er machte sich auf eine intensive Suche nach weiteren Teilen des Films. Im Alter von 15 hatte er schon eine eineinhalbstündige Version auf 9.5mm zusammengeschnitten, damals die längste bekannte Fassung dieses fast verschollenen Meisterwerks. Brownlow führte die Arbeit an NAPOLÉON fort, und wie schon erwähnt, existiert seit über 15 Jahren wieder eine mehr als fünfstündige Version auf 35mm. Leider wird diese Fassung aufgrund eines langwierigen Rechtsstreits, in den Francis Ford Coppola involviert ist, weitgehend unter Verschluss gehalten.


Zwischen 1952 und 1955 realisierte Brownlow seinen ersten eigenen Amateurfilm mit Spielhandlung auf 9.5mm (das Format wird von manchen Amateurfilm-Enthusiasten bis heute benutzt). THE CAPTURE ist eine Adaption einer Kurzgeschichte von Guy de Maupassant, verlegt in die 1940er Jahre, mit immerhin schon fast 100 Amateurdarstellern, und finanziert durch Honorare für Artikel in einer Amateurfilmzeitschrift. Der 17-jährige Brownlow erntete dafür Lob von professioneller Seite, u.a. Lindsay Anderson, was ihn zu einem noch ambitionierteren Projekt ermutigte. Nachdem er eine Ausbildung als Cutter bei einer Londoner Dokumentarfilmfirma absolviert hatte, nahm Brownlow IT HAPPENED HERE in Angriff, einen Film aus dem Bereich der Speculative Fiction - "was wäre, wenn?" In diesem Fall: Was wäre, wenn Deutschland 1940 die Luftschlacht um England gewonnen, die britischen Truppen bei Dünkirchen vernichtet und dann Großbritannien erobert hätte? Der Film spielt unter dieser Voraussetzung im Jahr 1944, und es gibt in England nun Kollaborateure, Mitläufer und Widerstandskämpfer - insgesamt entwirft der Film ein nicht unbedingt schmeichelhaftes, aber vermutlich realistisches Bild. Brownlow hatte für die Nazis zunächst die erstbesten Uniformen, Waffen und sonstigen Ausrüstungsgegenstände genommen, die er auftreiben konnte. Doch dann kam der zwei Jahre jüngere Andrew Mollo ins Spiel, der mit 16 bereits ein Experte für militärgeschichtliche Themen, insbesondere für Uniformen, war. Er überzeugte Brownlow, dass alle diesbezüglichen Details falsch waren, und so verwarf Brownlow das bereits gedrehte Material, mit Ausnahme einer Sequenz, die er bei einer Versammlung von echten britischen Neonazis am Trafalgar Square in London gedreht hatte. Brownlow begann also nochmal von vorn, und Mollo wurde zum Art Director und bald zum gleichberechtigten Co-Regisseur befördert.


Weil alle Darsteller bis auf eine Ausnahme Laien waren, die ihren Berufen nachgehen mussten, wurde fast nur an Wochenenden gedreht. Deshalb, und wegen der stets knappen Kasse, zogen sich die Arbeiten an IT HAPPENED HERE Jahre hin, doch Brownlow und Mollo konnten mit ihrem Enthusiasmus das Projekt organisatorisch und stilistisch zusammenhalten. Über den Fortgang wurde in Amateurfilmzeitschriften und gelegentlich auch in der Tagespresse berichtet, und manchmal gab es professionellen Beistand. So spendierte Stanley Kubrick Filmmaterial, das bei einem seiner Filme übriggeblieben war, und Tony Richardson sorgte mit einer Geldspende dafür, dass der Schluss des Films, der weitgehend auf 16mm gedreht wurde, sogar auf 35mm realisiert werden konnte. 1964 war der 1956 begonnene Film schließlich fertig, 30 Jahre vor Chris Menauls FATHERLAND, der eine ähnliche Thematik verfolgt, und die Gesamtkosten betrugen gerade mal lächerliche 7000 Pfund. IT HAPPENED HERE wurde auf verschiedenen europäischen Filmfestivals gezeigt und überwiegend positiv aufgenommen, doch es gab auch heftige Kontroversen. Diese entzündeten sich an der fünfminütigen Szene mit den englischen Nazis vom Trafalgar Square, die von vielen als schockierend empfunden wurde. Manche erhoben sogar den absurden Vorwurf, Brownlow und Mollo seien selbst Faschisten. Der Film wurde mit eineinhalb Jahren Verspätung von United Artists vertrieben, jedoch nur unter der Auflage, dass die Szene vom Trafalgar Square herausgeschnitten wurde (auf der inzwischen vorliegenden DVD ist sie wieder drin). Der Film lief erfolgreich in London, doch die Einnahmen wurden von den Werbungskosten aufgefressen, so dass am Ende für Brownlow und Mollo nichts übrigblieb.


Die quasi-dokumentarische Anmutung von IT HAPPENED HERE brachte viel Lob von den Kritikern, aber die Filmindustrie blieb ob der eigenwilligen Arbeitsweise der beiden Regisseure skeptisch, und die erhofften Angebote für kommerzielle Spielfilme blieben aus. Brownlow ging neben der Arbeit an IT HAPPENED HERE seinem erlernten Beruf als Cutter von Dokumentarfilmen nach, und 1962 drehte er selbst eine kurze Dokumentation für das British Film Institute (BFI): NINE, DALMUIR WEST, über das Ende der Trambahn in Glasgow (sie wurde durch Busse ersetzt). Ab 1965 war er auch Cutter bei zwei Kurzfilmen und einem Spielfilm von Lindsay Anderson und Tony Richardson bei Woodfall Films, der zentralen Firma des Free Cinema bzw. der British New Wave. 1968 veröffentlichte er gleich zwei Bücher, "How It Happened Here" über die Entstehung von IT HAPPENED HERE, sowie "The Parade's Gone By ..." über Hollywoods Stummfilmära. Für dieses Buch hatte er in den USA viele noch lebende Mitwirkende an den Stummfilmen interviewt. Auf diese Idee war zuvor niemand gekommen, und so wurde Brownlow zu einem Pionier der modernen Stummfilmrezeption. Ebenfalls 1968 drehte er für die BBC eine Dokumentation über sein Idol Abel Gance. Mollo betrieb unterdessen seine militärgeschichtlichen Studien, schrieb Bücher zu diesen Themen, und wirkte gelegentlich als Berater oder Art Director an größeren Filmprojekten mit, von David Leans DR. SCHIWAGO über John Sturges' DER ADLER IST GELANDET bis zu Roman Polanskis DER PIANIST, Oliver Hirschbiegels DER UNTERGANG, und zuletzt für JOHN RABE.


Doch neben all diesen Aktivitäten wollten Brownlow und Mollo auch wieder einen Spielfilm drehen, und die Arbeiten daran begannen schon 1966. Miles Halliwell, ein Lehrer aus London, hatte eine kleine Rolle in IT HAPPENED HERE gespielt, und er war mit Andrew Mollo befreundet. Halliwell war es, der Mollo David Cautes "Comrade Jacob" als ein Buch vorschlug, das zu einer Verfilmung geeignet schien. Mollo und Brownlow waren davon begeistert, und Mollo dachte bei der Titelrolle auch gleich an Halliwell. Brownlow war in diesem Punkt skeptisch, aber nach einer Probeaufnahme in einem historischen Kostüm war auch er restlos von Halliwell überzeugt. Zu Recht, denn Halliwell ging geradezu in seiner Rolle auf und wirkt ungemein präsent. Mrs. Platt wird übrigens von Halliwells Frau Alison gespielt.


Woodfall Films finanzierte die Erstellung eines Drehbuchs, wollte dann aber den Film nicht produzieren. Auch United Artists und sonstige potentielle Finanziers sagten ab. Nach Jahren, als die Realisierung schon fraglich war, kam Hilfe von unerwarteter Seite. Eine Geldspritze des Kultusministeriums ermöglichte es dem British Film Institute, nicht nur kurze Dokumentationen, sondern auch experimentelle Spielfilme auf bescheidenem finanziellen Niveau zu produzieren. Neuer Leiter der Produktionsabteilung des BFI wurde Mamoun Hassan, der bereits als Kameramann bei NINE, DALMUIR WEST für Brownlow gearbeitet hatte. Hassan wusste von Brownlows Nöten, rief ihn an und bot die Finanzierung von WINSTANLEY an. So wurde der Film vom BFI produziert, mit Hassan als ausführendem Produzenten. Das Gesamtbudget betrug bescheidene 24.000 Pfund. Wie schon bei IT HAPPENED HERE waren alle Darsteller mit einer Ausnahme Laien, die völlig umsonst arbeiteten. Die eine Ausnahme war der vielbeschäftigte Fernsehschauspieler Jerome Willis, der Lord General Fairfax spielt. Die Figur war ihm vertraut, denn Willis hatte bereits 1962 in einer experimentellen TV-Fassung von "Comrade Jacob" in der BBC-Serie STUDIO 4 Fairfax gespielt [KORREKTUR: Willis spielte in diesem Film Captain Gladman, dagegen spielte er tatsächlich Fairfax in THE CRUEL NECESSITY, ebenfalls ein Fernsehfilm der BBC von 1962]. Willis war an dem Projekt WINSTANLEY sehr interessiert und verlangte nur den von der Schauspielergewerkschaft vorgeschriebenen Mindestlohn. Tatsächlich wollten Brownlow und Mollo eigentlich mehr professionelle Darsteller verwenden, doch alle, die kontaktiert wurden, fanden entweder das Drehbuch schlecht, oder ihre Agenten legten schon den Hörer auf, als sie hörten, dass nur der Mindestlohn gezahlt werden konnte. Die meisten Laiendarsteller kamen aus der Gegend des Drehortes in Surrey, doch manche wurden auch von Mollo oder Brownlow buchstäblich in der Londoner U-Bahn aufgegriffen, und dazu kamen Rawle und seine Hippies. Gecastet wurde ausschließlich nach der passenden physischen Erscheinung, nicht nach den schauspielerischen Fähigkeiten.


Eine frühe Drehbuchfassung hielt sich eng an Cautes Roman, doch dann entfernten Brownlow und Mollo alle Bezüge zur Gegenwart zugunsten eines möglichst tiefen und authentischen Eintauchens in die Welt des 17. Jahrhunderts. Auch alle fiktionalen Elemente wurden weitgehend eliminiert, bis auf kleine Details, die den Figuren Leben einhauchen, ohne spekulativ zu sein. Im Film wird ausgiebig aus Winstanleys Schriften, die auch tagebuchartige Einträge enthalten, zitiert. Die materielle Welt um 1650 wurde mit geradezu fanatischer Genauigkeit rekonstruiert. Während bei kommerziellen Filmprojekten Wortmeldungen von irgendwelchen Experten oft als lästige Besserwisserei abgetan werden, nahmen Brownlow und Mollo jede derartige Hilfe dankbar an. So konsultierten sie einen im Museum des Tower of London beschäftigten Fachmann, was schließlich dazu führte, dass sie historische Waffen und Uniformen in großer Zahl entleihen durften - ein sehr seltenes Privileg. Die Kühe, Schweine und Hühner der Diggers gehörten historischen Rassen an, die es nur in speziellen Zuchtanstalten gab (Jerome Willis verglich die sehr robusten und willensstarken Schweine in einem Interview mit "kleinen Elefanten"). Die Gerichtsverhandlung wurde im damals ältesten echten noch existierenden Gerichtsgebäude Englands in Malmesbury gedreht, die restlichen Innenaufnahmen in Chastleton House, einem Herrenhaus mit hervorragend erhaltener Inneneinrichtung aus dem 17. Jahrhundert. Und eine historische Scheune in Essex wurde mit Hilfe von Schulkindern zerlegt und in Surrey wieder aufgebaut. St. George's Hill kam als Drehort nicht in Frage, weil er inzwischen von umzäunten Villen gesäumt war, doch nur 30 oder 40 Kilometer entfernt fand sich ein hervorragend geeigneter Hügel. Und Mollos Vater besaß in unmittelbarer Nähe ein Haus mit großem Grundstück, auf dem die Siedlung der Diggers errichtet und für Monate stehengelassen werden konnte. Diejenigen Kostüme, die nicht von irgendwelchen Museen oder Privatsammlern geliehen werden konnten, wurden nach historischen Vorlagen in Handarbeit gefertigt, die meisten von Mollos Frau Carmen.


Aus Rücksicht auf die Laiendarsteller wurde wie schon bei IT HAPPENED HERE fast nur an Wochenenden gedreht. Die Dreharbeiten dauerten ungefähr ein Jahr, was den Vorteil bot, alle Jahreszeiten zur Verfügung zu haben. Es war eine Bedingung des BFI, dass nur solche Filmtechniker verwendet werden sollten, die noch nicht bei kommerziellen Spielfilmen mitgearbeitet hatten. Sinn war es wohl, diesen sozusagen ein Praktikum zu verschaffen, um ihnen den Berufsstart zu erleichtern. Kameramann bei WINSTANLEY war der in Ungarn geborene Ernie Vincze. Das war ein Glücksfall, denn in Absprache mit den Regisseuren entwarf er einen visuell ungemein schönen Stil für den Film, der von klaren Aufnahmen mit großer Tiefenschärfe geprägt ist. Wie die Laiendarsteller musste auch Vincze einem Broterwerb nachgehen und war deshalb manchmal längere Zeit abwesend, etwa, als er für eine Dokumentation auf dem Flugzeugträger Ark Royal drehte. Es kam aber nicht in Frage, ihn zu ersetzen - es wurde einfach gewartet, bis er wieder da war. WINSTANLEY ist auch deshalb ein sehr visueller Film, weil Dialoge recht sparsam gesetzt sind. Das geschah nicht nur, um die Laiendarsteller mit ihren meist begrenzten schauspielerischen Fähigkeiten nicht zu überfordern, es war auch eine bewusste Stilentscheidung von Brownlow und Mollo. Als ästhetische Vorbilder für den visuellen Stil dienten dem Stummfilmexperten Brownlow vor allem zwei Filme, Arthur von Gerlachs ZUR CHRONIK VON GRIESHUUS von 1925 und Carl Theoder Dreyers DIE PASTORENWITWE von 1920. Mollo orientierte sich bei seinen Entwürfen auch an historischen Radierungen und Kupferstichen, vor allem solchen von Jacques Callot. So beginnt WINSTANLEY mit einem kurzen Prolog, der die Ereignisse von 1646 bis 1649 zusammenfasst, und darin gibt es die Hinrichtung eines Levellers, die sehr eng einer Radierung aus Callots Zyklus "Die großen Schrecken des Krieges" nachempfunden ist.


Wie es nicht anders sein konnte, fanden die Dreharbeiten in sehr familiärer Atmosphäre statt. Für die Verpflegung war hauptsächlich Brownlows Frau Virginia zuständig. Es gab keine ausgeprägten Hierarchien - Brownlow und Mollo waren gleichberechtigt und sowieso immer einer Meinung, und sie machten eher Vorschläge, statt Anweisungen zu geben. Vieles entschieden Halliwell oder Vincze selbst. "... a lack of hierarchy that occasionally bordered on the anarchic", schreibt Marina Lewycka, die als Beraterin für die Sprache des 17. Jahrhunderts, als Komparsin und gelegentlich als Teeköchin und Mädchen für alles an den Dreharbeiten beteiligt war. 1975 war der Film schließlich fertig. Er lief wie IT HAPPENED HERE auf einigen Festivals, aber die Aufnahme war gemischt. Neben enthusiastischen Kritiken wie der von Jonathan Rosenbaum (die er später etwas relativiert hat) gab es auch viel Ablehnung. Und Angebote aus der Filmindustrie blieben abermals aus. Erstaunlich positiv war dagegen die Rezeption in Frankreich, wo WINSTANLEY monatelang in den Kinos lief und 1976 einen Prix Georges-Sadoul gewann. Brownlow konzentrierte sich nach WINSTANLEY auf seine Tätigkeit als Filmhistoriker und -journalist. In zwei Serien über den amerikanischen resp. europäischen Stummfilm, in Fernsehfilmen über Charlie Chaplin, Buster Keaton, D.W. Griffith und weitere Persönlichkeiten, die er meist gemeinsam mit dem inzwischen verstorbenen David Gill realisierte, sowie in weiteren Büchern war er unermüdlich für die Popularisierung des Stummfilms tätig, was schließlich in den wohlverdienten Ehrenoscar mündete.


WINSTANLEY ist digital restauriert und mit erstklassigem Bonusmaterial versehen in England beim BFI auf DVD und Blu-ray erschienen. Es gibt auch eine ältere US-DVD.


Dienstag, 19. Juli 2011

Der Konkurrent

The Illusionist
(The Illusionist, USA/Tschechien 2006)

Regie: Neil Burger
Darsteller: Edward Norton, Jessica Biel, Paul Giamatti, Rufus Sewell, Eddie Marsan, Aaron Johnson, Eleanor Tomlinson, Karl Johnson, Vincent Franklin u.a.

2006 entstanden zwei Filme, deren Ähnlichkeiten auf den ersten Blick frappierend wirkten und die sich an den Kinokassen einen nur im deutschsprachigen Raum nicht bemerkten unerbittlichen Kampf um die Gunst des Publikums liefern sollten. Beide waren so genannte “Period Pieces”, um 1900 angesiedelt, beide nahmen ausgesprochen oder auch nur verschleiert Bezug auf reale Figuren, und in beiden ging es um Bühnenkünstler, deren oberste Pflicht es eigentlich hätte sein müssen, ihr Publikum mit magischen Tricks zu erfreuen, mochten es auch andere Gründe sein, die sie schon beinahe zwanghaft zum Rampenlicht trieben.  Die Rede ist natürlich von Christopher Nolan’s “The Prestige” und von Neil Burger’s zweitem Film “The Illusionist”. - “The Illusionist” hatte den Vorteil, früher in die Kinos zu kommen und als der weniger kostspielige Film sein Geld im Nu wieder einzuspielen; Christopher Nolan wiederum war seit “Memento” (2000) ein derart gefeiertes Wunderkind, dass “The Prestige” in den Augen der Zuschauer und eines Grossteils der Kritiker unweigerlich zum Meisterwerk hochstilisiert wurde - weshalb Burger’s Magierfilm in Deutschland gar keinen Verleih fand und erst 2009 auf DVD erschien. Und dies gereichte ihm anfänglich eher zum Nachteil: “The Illusionist” blieb der zweite Sieger, der “Konkurrent”.


Mittlerweile haben auch hierzulande beide Filme ihre unerbittlichen Verehrer, die derart auf ihren Favoriten fixiert sind, dass sie dem vermeintlichen Gegenspieler gar keine Chance einräumen und sich jeden Vergleich mit den in ihren Augen  völlig unterschiedlichen (auch in qualitativer Hinsicht!) Werken verbieten. Es stimmt: Im Grunde genommen  unterscheiden sich die Filme nicht nur in ihrer Struktur; sie gehören auch ganz anderen Genres an: Während “The Prestige” die Geschichte einer gnadenlosen, vor nichts Halt machenden Rivalität zweier Magier erzählt, ist “The Illusionist” ein Liebesfilm, der  je nach Ansicht mehr oder weniger erfolgreich Elemente des Mystery- und Politthrillers in seine Handlung einzuflechten versucht (manche Fans bezeichnen ihn auch als “Märchen”, was völlig unsinnig ist, schon weil Ort und Zeit der fiktiven Geschichte festgelegt und detailliert nachgezeichnet sind). --- Trotz des allgemeinen Widerstandes scheint mir ein Vergleich angebracht, vielleicht sogar nötig zu sein, den sich “Konkurrenten” nun einmal gefallen lassen müssen. Nur auf diese Weise lassen sich Stärken und Schwächen der beiden Filme (und sie sind natürlich beide nicht perfekt!) einigermassen ermitteln:

Setzt  Burger zwar mit der von oben angeordneten Verhaftung des Illusionisten Eisenheim ein, um anschliessend aber eine weitgehend geradlinige Geschichte zu erzählen, die von Liebe, erbittertem Kampf zwischen ungleichen Gegnern (einem Bühnenkünstler und einem Kronprinzen) und den Zuschauer am Ende doch überraschender Täuschung handelt, so baut Nolan (“Are you watching closely?”), der sich durchaus echte Rivalitäten zwischen Bühnenkünstlern zum Vorbild nahm,  mit seiner Erläuterung der Teile, aus denen sich ein Zaubertrick zusammensetzt, ganz auf die von ihm grundsätzlich geliebte komplizierte, den Zuschauer bewusst und höchst erfolgreich verwirrende Struktur, die aus verschiedenen Zeitebenen, ja Sprüngen zwischen ihnen, besteht - und um des Effekts willen nicht nur gelegentlich seelenlos wirkt, sondern insbesondere auch die Ausgestaltung der weiblichen  Figuren vernachlässigt (man fragt sich in diesem Zusammenhang unweigerlich, weshalb Scarlett Johansson, mittlerweile nun wirklich ein Star, der sich im gleichen Jahr in Woody Allen's herrlichem Magierfilm “Scoop” profiliert hatte, für die Rolle der Olivia Wenscombe überhaupt zur Verfügung stand). Hinzu kommt, dass Nolan zur Auflösung seiner Geschichte die unglaubhafte, enttäuschende und eher wie eine Anti-Klimax wirkende Legendenbildung um den in seinen späteren Jahren als “Mad Scientist” verrufenen Nikola Tesla (1856-1943) bemüht. - Solche weniger erfreulichen Aspekte des eigentlich wirkungsvollen Films fallen dem Zuschauer auf, der im Zusammenhang mit dem umjubelten “Inception” (2010) enttäuscht zur Kenntnis nehmen musste, dass Christopher Nolan ein Regisseur ist, der um der Struktur willen eine denkbar banale Geschichte mit der donnernden Musik von Hans Zimmer und ein paar Spezialeffekten aufzupeppen bereit ist, also letztlich auch nur mit Wasser kocht...

Burger, der wie auch Nolan den berühmten amerikanischen Zauberkünstler und Experten Ricky Jay für die fachliche Beratung beizog, achtete dagegen genau darauf, dass jede in seinem Film vorkommende Illusion im Wien der damaligen Zeit auch tatsächlich vorgeführt worden war und die Zuschauer in Erstaunen versetzte. So übernahm man etwa den berühmten Trick mit dem Orangenbaum inklusive Schmetterlinge von Jean Eugène Robert-Houdin, dem Vater der modernen Zauberkunst, und die mit der als “Pepper’s Ghost” bekannten Technik hergestellten “Geistererscheinungen”, die noch weit ins 20. Jahrhundert hinein immer wieder abergläubische Menschen der Esoterik zutreiben sollten (selbst die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross lieferte sich eine Zeitlang einem Geister produzierenden Scharlatan aus), waren im damaligen Wien nicht nur äusserst populär, sondern führten unter “Gelehrten” zu ernsthaften Diskussionen über den erbrachten Beweis für die Unsterblichkeit der Seele. - Leider verweist Burger nicht einmal im Vorspann auf die historische Verbürgtheit der - im Film natürlich "perfektioniert" - vorgeführten Zaubertricks, weshalb diese vom Zuschauer leicht als Fähigkeiten von Eisenheim  missverstanden werden könnten, die über die eines Zauberkünstlers hinausgehen, "The Illusionist" also bewusst oder unbewusst tatsächlich ins Mystische zu treiben versuchen. Dies fällt besonders unangenehm auf, wenn man bedenkt, dass es Nolan wiederum gerade um die Aufdeckung der vorgeführten Zaubertricks geht, die Erklärung der einzelnen Teile einer Vorführung, die ins Prestige münden.

Ein letzter Punkt, der die Filme entschieden voneinander unterscheidet, ist die Bildgebung: Während in “The Prestige” berechtigterweise das Scheinwerferlicht, in dem sich die Rivalen als Sieger suhlen wollen, dominiert, wurde in “The Illusionist” das alte Wien (mochte es sich in Wirklichkeit auch um Prag handeln) auf jede erdenkliche Weise geradezu liebevoll evoziert, was zu wundervollen Aufnahmen führte, deren Sepia-Töne eine zauberhaft-vergangene Unwirklichkeit erzeugen, wie man ihr auf alten viragierten Fotografien begegnet. Manche der Bilder wirken wie kunstvoll arrangierte Nachtstücke, was den Film zum ästhetischen Hochgenuss macht. - Man warf der Originalversion vor, das Bemühen um die Rekonstruktion der Epoche und des Schauplatzes gingen so weit, dass sogar die Schauspieler einen Akzent annähmen, der Wienerisch klinge, als seien sie Wiener, die sich in unvollkommenem Englisch ausdrückten. Diesen Vorwurf musste sich vor allem Paul Giamatti gefallen lassen, der als Chefinspektor Uhl den wirkungsvollsten - und glänzend gespielten - Part hatte. Der Vorwurf trifft auf das, was man als “die Menge” bezeichnet (etwa die Zuschauerin, die während einer Bühnenshow “It’s her. I know ist’s her! She wants to tell us something.” ruft), tatsächlich zu, ich fand ihn jedoch bei keinem der wichtigen Darsteller bestätigt.


“The Illusionist” beginnt mit der von Uhl kommentierten sagenumwobenen Kindheit des Tischlersohnes Eduard Abramovich, der eines Tages einem reisenden Zauberer begegnet sein soll, von dem er erste Zaubertricks lernte, bevor dieser - samt Baum, unter dem er sass! - wieder verschwand. Gesichert ist, dass der sich in seinen Kunststücken übende Junge eines Tages die gleichaltrige Herzogin Sophie von Teschen trifft, mit der ihn bald eine enge Freundschaft verbindet. Da diese Freundschaft von Sophies Eltern wegen des Standesunterschieds nicht geduldet wird, denken die beiden an Flucht. Eines Nachts werden sie jedoch von den Wachen des Herzogs im Wald aufgegriffen und gnadenlos voneinander getrennt. Sophie fleht Eduard, der ihr einen Anhänger mit einer geheimen Öffnung schenkte, an, sie mit seinen “magischen”  Fähigkeiten einfach verschwinden zu lassen ("Make us disappear!"), was diesem jedoch - noch - nicht gelingt. Der Junge verlässt seine Heimat; die folgende Zeit bleibt im Dunkeln.

15 Jahre später kehrt er als Eisenheim, der Illusionist, nach Wien zurück, um das Publikum mit seinen magischen Kunststücken regelrecht in Begeisterung zu versetzen. Auch Kronprinz Leopold, der seinen Vater stürzen will und sich mit Sophie von Teschen verlobt hat, um mit einer Ehe die Ungarn hinter sich zu bringen, besucht eine Vorstellung. Während der undurchsichtige Chefinspektor Uhl, der zur Beobachtung des Illusionisten abkommandiert wurde, von dessen Vorführungen fasziniert ist und ihnen als Hobby-Zauberer einerseits ihr Geheimnis entlocken, andererseits aber auch das Mysteriöse belassen möchte, betrachtet ihn der neidische Kronprinz als vom Volk übermässig vergötterten Gegner, dessen Tricks es mit Vernunft aufzudecken gilt. Er lädt Eisenheim zu einer Vorstellung in der Hofburg ein, wo er von diesem aber nur noch mehr gedemütigt wird. Und bald erfährt er aus dem Munde seines Spürhundes Uhl auch von geheimen Treffen zwischen dem Illusionisten und Sophie, die ihm anlässlich der Vorstellung erneut begegnet ist. Von nun an setzt Leopold alles daran, die Auftritte Eisenheims zu unterbinden.

Als Sophie ihren Verlobten auf dessen Jagdschloss mit der Absicht konfrontiert, ihn nicht heiraten, sondern dieses Mal wirklich mit Eisenheim zusammenbleiben zu wollen,  kommt es zum Eklat. Der jähzornige Kronprinz, dem nachgesagt wird, er habe schon früher Mätressen umgebracht, verfolgt die davoneilende junge Frau - und am nächsten Morgen trabt nur noch deren blutbeflecktes Pferd durch Wien. Eisenheim begleitet einen Suchtrupp und entdeckt die Leiche seiner Geliebten in einem Weiher. - Obwohl ihn Uhl eindringlich warnt, verdächtigt er den  Kronprinzen offen des Mordes an Sophie und will ihn gnadenlos entlarven. Er mietet ein neues Theater und ändert das Konzept seiner bisherigen “Show” vollkommen: Leitete er früher seine Vorfühungen mit geheimnisvollen Bemerkungen ein (“From the moment we enter this life we are in the flow of it. We measure it and we mock it. We cannot even speed it up or slow it down. Or can we? ...”), so setzt er sich jetzt konzentriert auf einen Stuhl  - und beschwört schweigend Verstorbene herauf, bald auch den Geist Sophies, die geheimnisvolle Andeutungen über ihren Mörder macht. - Spätestens jetzt muss Chefinspektor Uhl erkennen, dass ihn der Illusionist in Sachen Undurchschaubarkeit bei weitem übertrifft.

Viele Kritiker sind der Ansicht, Edward Norton’s Karriere habe ihren Zenit überschritten und werten seine Leistung in “The Illusionist” als dementsprechend enttäuschend. Was sie dabei übersehen: Er muss als Illusionist Eisenheim zurückhaltend wirken, darf nicht viel von seiner Persönlichkeit und seinen Absichten preisgeben. Dass die Szenen, in denen man ihn zusammen mit Jessica Biel sieht, die nötige "Chemie" vermissen lassen,  liegt auch eher daran, dass die Schauspielerin in der Tat eine Fehlbesetzung ist (sie sprang im letzten Moment für Liv Tyler ein und muss zum Glück nicht übermässig viel bieten) - und was der grossen Liebesszene an Chemie fehlt, machen zweifellos die Kerosinlampen wett, die als einzige Lichtquelle während des Drehs dienten. Die anderen Rollen sind hervorragend besetzt: der Brite Rufus Sewell spielt den angeblich auf Liberalisierungen drängenden Kronprinzen mit einer geradezu furchterregenden Arroganz, die die Brutalität des Charakters kaum zu verbergen vermag, und Paul Giamatti, ohnehin einer der besten und auf faszinierende Rollen spezialisierte Schauspieler der Gegenwart ("American Splendor", 2003, "Sideways", 2004) reisst den Film auf eine Weise an sich, die zutiefst beeindruckt (alleine schon sein schallendes Lachen nach der Aufdeckung einer raffinierten Täuschung am Schluss bleibt wohl für immer in Erinnerung).

Was dem bildgewaltigen kleinen Burger-Film, dessen von Philip Glass komponierter aufwühlender Soundtrack alle angeschnittenen Themen abdeckt, ein zusätzliches Flair verleiht: Hinter der Figur von Kronprinz Leopold verbirgt sich der (wenn charakterlich auch völlig anders geartete) Kronprinz Rudolf von Österreich-Ungarn, der sich 1889 auf Schloss Mayerling zusammen mit der Baronesse Mary von Vetsera das Leben nahm, ein Suizid, der das Vertrauen in die habsburgische Monarchie zutiefst erschütterte und bis heute Rätsel aufgibt, zur Legendenbildung anregt. Dass “The Illusionist” auf Kronprinz Rudolf anspielt, ja beinahe eine weitere, wenn auch nicht ernst gemeinte “Erklärung” des historischen Vorfalls liefert, zeigt sich schon daran, dass Eisenheim in der Hofburg das Portrait von Leopolds Vater, bei dem es sich eindeutig um Kaiser Franz Joseph, Rudolfs Vater, handelt, herbeizaubert.


Korinthenkacker  könnten dem einen wie dem anderen Magierfilm des Jahres 2006  sicher zahlreiche weitere Stärken zugestehen oder Schwächen anlasten (imdb protzt für den hier besprochenen mit einer geradezu unangenehm langen Liste von “Goofs”, wie sie freilich einem noch nicht so erfahrenen Regisseur unterlaufen - und dem Zuschauer gar nicht unbedingt auffallen), die hier nicht einmal andeutungsweise zur Sprache kamen: Tatsache ist, dass ich Nolan’s “The Prestige” und “The Illusionist” als einander ebenbürtig empfinde und nur dem weniger erfolgreichen “Konkurrenten” den Vorzug gab, um dieses Empfinden zu begründen (Burger dürfte die in ihn gesetzten Hoffnungen mittlerweile mit “The Lucky Ones”, 2008, ohnehin erfüllt haben). Beide DVDs landen immer wieder in meinem Player, und ich geniesse beide Filme gleichermassen - gerade weil sie so unterschiedlich sind und man ihre Stärken und Schwächen in verschiedenen Bereichen ausfindig machen kann, will man sie denn nicht einfach würdigen, sondern - im Hinblick auf eine einseitige Bevorzugung  - "analysieren".