Samstag, 12. März 2011

DER LEICHENVERBRENNER

DER LEICHENVERBRENNER (SPALOVAČ MRTVOL)
Tschechoslowakei 1968
Regie: Juraj Herz
Darsteller: Rudolf Hrušínský (Karel Kopfrkingl), Vlasta Chramostová (Lakmé), Jana Stehnová (Zina), Miloš Vognič (Mili) u.a.

Karel Kopfrkingl ist Leichenverbrenner aus Beruf und Berufung. Um genau zu sein, er ist Angestellter im Krematorium einer tschechischen Stadt in den 1930er Jahren. Als geistige Richtschnur für seine Tätigkeit dient ihm ein Buch über tibetischen Buddhismus. Daraus bezieht er die Überzeugung, dass die Seelen der Toten erst dann in den Äther aufsteigen können und zu einer Wiedergeburt zur Verfügung stehen, wenn der Körper vollständig zerfallen sei. Das aber dauere bei einer Einäscherung 75 Minuten, bei einer Erdbestattung 20 Jahre. Somit sei es ein Gebot der Humanität, die Toten zu verbrennen, und zivilisierte Nationen erkenne man daran, dass sie den Krematorien einen hohen Stellenwert einräumen. Der Tod hat für Karel keinen Schrecken - irdisches Leiden ist ein Übel, der Tod dagegen eine Erlösung. Karel Kopfrkingl ist ein liebevoller Familienvater. Seine Frau heißt eigentlich Maria, doch er nennt sie Lakmé (die indische Titelheldin einer Oper), seine Tochter Zina ist 16. Gewisse Sorgen bereitet ihm sein 14-jähriger Sohn Mili, ein schlaksiger, schwächlicher Typ mit Brille und abstehenden Ohren - nicht ganz das, was sich Karel erhofft hatte! Karel Kopfrkingl ist auch ein guter Patriot. Als er seinen alten Kriegskameraden Walter Reinke, mit dem er einst im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft hatte, wiedertrifft, will ihn dieser für die NSDAP gewinnen. Doch Karel lehnt ab - fließt nicht tschechisches Blut in seinen Adern, spricht die Familie nicht Tschechisch?


Das muss Karel freilich überdenken, als sich die Deutschen zu den neuen Herren in Böhmen machen. Hat Deutschland nicht ein fortschrittliches Krematoriengesetz, ist also ein zivilisiertes Land? Und fließt nicht auch ein Tropfen deutsches Blut in seinen Adern? Karel tritt nun doch in die Partei ein. Das mit dem Blut will Karel genau wissen, und er befragt seinen Arzt Dr. Bettelheim, von dem er sich in zwanghafter Häufigkeit auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lässt. Doch der antwortet nur, Blut sei Blut, und der Rest sei Unsinn. Aber ist Dr. Bettelheim nicht Jude? Überhaupt, die Juden - Karels neue Freunde eröffnen ihm darüber Dinge, die er freilich schon immer geahnt hatte. Für Reinke spioniert er bei einem jüdischen religiösen Fest, doch weil da nichts besonderes passiert, erfindet Karel einfach, was Reinke hören will. Karel weiß auch gewisse Dinge über seinen Chef und seine Kollegen. Dieser hat sich abfällig über die Deutschen geäußert, jener ist morphiumsüchtig, und dergleichen. Es wäre unverantwortlich, solche Tatsachen für sich zu behalten. Ein paar klitzekleine Denunziationen, und Karel ist da, wo er eigentlich schon immer hingehörte - an der Spitze des Krematoriums. Umso schlimmer trifft ihn die Erkenntnis, dass Lakmé eine "Halbjüdin" ist. Karels Parteifreunde machen ihm klar, dass so eine Ehe sein Fortkommen erheblich behindern werde.


Dem Zuschauer ist inzwischen klar, dass Karel nicht nur ein übler Opportunist, sondern auch nicht ganz richtig im Kopf ist. Zu abstrus sind seine Thesen, zu merkwürdig manche seiner Verhaltensweisen. Wenn die Kamera seinen subjektiven Standpunkt einnimmt, ist das Bild oft durch eine Weitwinkeloptik verzerrt, besonders ausgeprägt im Krematorium, Karels Reich. Bald hat er eine Vision: Ein Abgesandter aus Tibet - in Karels eigener Gestalt - erscheint ihm und verkündet, er sei der neue Dalai Lama, ja Buddha selbst, und er werde in Lhasa erwartet, um die Welt zu erlösen. Vorher muss Karel freilich noch einige irdische Dinge regeln. Da ist zunächst Lakmé. Karel erhängt sie im Badezimmer, was sie wie in Trance ohne Widerstand geschehen lässt. Und Mili erst! Ist er nicht ein Weichling? Kein Wunder, bei dieser Mutter! Und hat man nicht in Sparta schwächliche Kinder beizeiten umgebracht, was letztlich auch zu ihrem eigenen Vorteil war, weil sie in der Welt doch nur gelitten hätten? Karel lockt Mili ins Krematorium, schlägt ihm mit einer Eisenstange den Schädel ein und verstaut die Leiche in einem Sarg zur späteren Entsorgung. Dieses Problem wäre zufriedenstellend gelöst. Aber hat Zina nicht auch jüdisches Blut in ihren Adern? Karel bringt auch sie ins Krematorium ... Am Ende des Films geht sein Wahnsinn in einem viel größeren auf: Die Deutschen engagieren ihn, um Verbrennungsöfen für Vernichtungslager zu konstruieren.


DER LEICHENVERBRENNER ist eine abgrundtief morbide und makabre Satire auf den Aufstieg eines Kleinbürgers in einer Diktatur. Mit Hilfe der überragenden Kamera von Stanislav Milota und des wunderbaren Soundtracks von Zdeněk Liška, und mit stilistischen Anleihen bei Expressionismus und Surrealismus, gelang Juraj Herz ein grandioser Film nach einem Roman von Ladislav Fuks, der mit Herz auch das Drehbuch schrieb. Auch der Schnitt ist virtuos. Das Zentrum des Films bildet aber Rudolf Hrušínský, der den Wirrkopf und Opportunisten mit einer bösartig schillernden Beiläufigkeit verkörpert. Das Lachen bleibt einem in diesem Film meist im Halse stecken, doch für etwas Entspannung sorgt ein ständig streitendes Paar, das als running gag immer wieder auftaucht. Ebenfalls immer wieder erscheint eine mysteriöse schwarzhaarige junge Frau, die außer Karel niemand zur Kenntnis nimmt. Ist sie eine Einbildung von ihm? Oder eine allegorische Figur, eine Art Todesengel, die ihn begleitet? Die Interpretation bleibt dem Zuschauer überlassen.


Juraj Herz, der nach wie vor aktiv ist und kürzlich mit HABERMANN Erfolge feierte, aber auch kontroverse Reaktionen hervorrief, gehörte seinerzeit zur "Neuen Welle" im tschechoslowakischen Film der 60er Jahre, die nach dem Vorbild der Nouvelle Vague benannt wurde. Während die meisten Protagonisten der Neuen Welle Tschechen sind und an der Prager Filmhochschule FAMU studiert hatten, ist Herz ein Slowake jüdischer Herkunft, der in Prag Fotografie und Puppentheater studierte, bevor er sich Regie und Schauspielerei zuwandte. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Herz mit seinen Eltern im Konzentrationslager Ravensbrück (zum Glück überlebte die ganze Familie). Seine berufliche Laufbahn begann Herz am Prager Semafor-Theater, wo er mit Jan Švankmajer einen Geistesverwandten traf (beide sind auch am selben Tag geboren). Švankmajer sollte mit seinen surrealen und oft abgründigen Animationsfilmen bekannt werden, und er und Herz arbeiteten bei ihren Filmen gelegentlich zusammen. In den früher 60er Jahren absolvierte Herz eine zusätzliche Ausbildung in den Prager Barrandov-Filmstudios, wo dann auch DER LEICHENVERBRENNER entstand. In dieser Zeit wirkte Herz als Regieassistent und Darsteller in Filmen von Zbyněk Brynych, Vojtěch Jasný und anderen mit, insbesondere bei DAS GESCHÄFT IN DER HAUPTSTRASSE von Ján Kadár und Elmar Klos, einem Klassiker des tschechoslowakischen Films.


DER LEICHENVERBRENNER ist Herz' dritter eigener Spielfilm, und die Dreharbeiten wurden im August 1968 durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts unterbrochen. Die Fortsetzung war gefährdet, weil Rudolf Hrušínský in Südbohmen untertauchte, doch nach einiger Zeit wurde es ihm dort zu langweilig, er kehrte nach Prag zurück, und es konnte weiter gehen. Die Neue Welle wurde nach dem Ende des Prager Frühlings weitgehend abgewürgt - viele Regisseure erhielten mehrjährige Berufsverbote oder gingen ins Ausland. Doch Herz traf es nicht so schlimm, vielleicht, weil er bis zum August 1968 nur einen Kurz- und einen Spielfilm herausbrachte und somit wenig Gelegenheit hatte, sich bei den Machthabern zu diskreditieren. Das hätte aber durchaus passieren können: Herz drehte als Schluss von DER LEICHENVERBRENNER einen Epilog, der 1968 vor den einrückenden russischen Panzern spielt, und in dem Karel Kopfrkingl wieder auftaucht. Doch der Direktor des Barrandov-Studios erhob Einspruch und ließ das Material herausschneiden, das seitdem verschollen ist. Herz vermutete, dass es der Direktor aus Angst vor Konsequenzen verbrennen ließ. Herz konnte seine Karriere jedenfalls relativ problemlos fortsetzen, und er bediente dabei eine Reihe von Genres, wie Horror (MORGIANA und DER AUTOVAMPIR), Musical, und insbesondere Märchenfilme. In MICH ÜBERFIEL DIE NACHT (1986) verarbeitete Herz seine Erfahrungen aus Ravensbrück. Darin gibt es eine Szene in den "Duschräumen" des KZ, bei der sich Steven Spielberg möglicherweise für SCHINDLERS LISTE bedient hat, jedenfalls soll die Übereinstimmung frappierend sein.


DER LEICHENVERBRENNER ist beim englischen Label Second Run auf DVD erschienen (engl. Titel THE CREMATOR).

8 Kommentare:

  1. Herrlich erschreckend: Das ohnehin neurotische arische Getue im Kopf eines eigentlichen Neurotikers, der in einem solchen Gefüge zum Normalo erklärt werden MUSS! Und das von einem Regisseur, der mir bis jetzt wirklich nur von seinen Märchenfilmen her bekannt war. Diese Besprechung weist auf einen offensichtlich wirklich mehr als makabren Film hin.

    Ich habe zwar einige Filme, die man der tschechoslowakischen "Neuen Welle" zuordnet, gesehen (z.B. Chytilovás "Tausendschönchen", 1966, oder Menzels "Liebe nach Fahrplan", 1966), bin aber wirklich weit davon entfernt, ein Kenner der Bewegung, so es denn eine war, zu sein. Bekannte von mir halten sie für bedeutender als die eigentliche Nouvelle Vague. Ich bin mir nicht sicher, ob damit formale Eigenschaften oder ihre Vorreiterrolle für den "Prager Frühling" (1968) gemeint ist. Deshalb wäre ich dir dankbar, wenn du noch mit ein paar Informationen aufwarten könntest.

    Auf jeden Fall ein Film, den ich auftreiben muss: Solche wirklich rabenschwarze Komödien sind heute eine Rarität!

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  2. Ein weiterer Nadelstich in einen schwarzen Schirm, welcher eine Sonne bedeckt, die ich noch nie erblicken durfte. Ein weiterer kleiner Strahl, der mich von ihrer Leuchtkraft kosten läßt. Mir scheints, als habe ich die Taghelle noch nie erlebt. Der Horizont ist eben doch nicht nur in einer Richtung zu suchen. Vielen Dank!

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  3. Vielen Dank für dieses ausführliche Review! Großartiger Film! Die Infos im letzten Absatz waten mir auch noch nicht bekannt. Die von dir erwähnten MORGIANA und AUTOVAMPIR sind ebenfalls sehr zu empfehlen, wenngleich sie auch etwas "leichter" und nicht ganz so morbid sind wie der LEICHENVERBRENNER.

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  4. @Whoknows:
    Die Neue Welle war auf jeden Fall eine Bewegung mit innerem Zusammenhalt. Die meisten Regisseure studierten ungefähr zur selben Zeit an der Filmhochschule FAMU und waren seit ihren Studententagen miteinander befreundet. Sie und weitere Künstlerfreunde traten öfters in Nebenrollen in den Filmen auf, so hat auch Jiří Menzel eine Rolle im LEICHENVERBRENNER. Eine Rolle als Integrationsfigur besaß auch die Drehbuchautorin Ester Krumbachová, die Filme für Věra Chytilová, Jan Němec (mit dem sie einige Jahre verheiratet war), Jaromil Jireš und andere schrieb. Ich werde noch mindestens einen Film der Neuen Welle besprechen (von Němec), vielleicht auch mehr. Ob die tschechoslowakische Neue Welle bedeutender war als die Nouvelle Vague? Ich weiß nicht so recht. Wenn man den Einfluß auf das weltweite Filmschaffen als Gradmesser nimmt, dann sicher nicht.

    Es wird dir nicht schwer fallen, den Film aufzutreiben. Die DVDs von Second Run gibt es bei amazon.co.uk und anderen engl. Versendern, und sie sind nicht teuer (meistens um 10 £). Second Run ist überhaupt ein interessantes Label. Die haben viele interesante Filme aus der CSSR (nicht nur aus der Neuen Welle), Polen und Ungarn. Auch aus anderen Ländern, aber der Schwerpunkt liegt auf Osteuropa. Wenn man sich dafür interessiert und die jeweiligen Sprachen nicht spricht, dann kommt man an Second Run nicht vorbei.

    @Intergalactic Ape-Man:
    Huch, Du bist ja ein Poet! :-Þ

    @Alex:
    MORGIANA gibt es auch bei Second Run, und er ist schon auf meiner Einkaufsliste, nach dem AUTOVAMPIR hab ich mich noch nicht erkundigt.

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  5. Ausführlich und kompetent wie gewohnt. Vielen Dank! Es dürfte also doch nicht zuletzt der "politische" Sprengstoff gewesen sein, der neben den höchst originellen Geschichten die Bewegung so bedeutend machte. Wird Zeit, dass ich mich darum kümmere.

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  6. Den Film habe ich vor 12 Jahren oder so auf arte gesehen und ich hatte noch keine Ahnung von Film. Ich habe ihn geguckt, weil ihn die TV Spielfilm zum Tipp des Tages gemacht hat und naja ... ich wurde weggeblasen. So was Krankes hatte ich nicht erwartet. Es hat mir nicht sonderlich Genuß bereitet, den Film zu sehen, aber dafür hat er sich in meinen Kopf gebrannt und ich habe bis heute Angst ihn nochmal zu sehen ... vll auch, weil ich Angst habe, dass er nicht mehr die süße Macht des Terrors hat, sondern einfach nur noch ein Film ist, wie viele andere auch ... tja, aber danke mal wieder von dem Film gehört zu haben.

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  7. Glaub's oder nich: hab gerade beim rumstöbern diese Besprechung entdeckt. So ein Zufall hatte ich doch vor kurzem ebenfalls das große Vergnügen diesen Film zu schauen...
    Hab ihn auch im Blog besprochen ohne (wirklich und wahrhaftig ohne) vorher von der Existenz dieses Beitrags zu wissen... Nochmal: Was für ein Zufall... Aber so ist das halt mit diesen Mainstream-Filmen ;-)

    Nichtsdestotrotz mal wieder eine schon gewohnt brilliante Analyse vom Manfred, die mir -trotzdem ich mich intensiv mit dem Film beschäftigt habe- noch viele neue Aspekte und Hintergründe aufgezeigt hat.

    Bitte immer weiter so...

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  8. @unoculus
    Jaja, wir sollten uns von den Blockbustern lösen und lieber Nischenfilme wie TITANIC und AVATAR besprechen! :-Þ

    Natürlich glaube ich dir, dass Du ganz unabhängig auf den Film gestoßen bist, auch wenn ich gestern zuerst dachte, dass Du durch meine Besprechung darauf aufmerksam wurdest (was mich ja auch gefreut hätte). Lustig ist, dass dein erster Screenshot fast exakt meinem ersten entspricht, und bei meinem vorletzten hatte ich alternativ einen in der Auswahl, der fast exakt deinem zweiten entspricht. Anscheinend haben wir da dasselbe Auge.

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