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Sonntag, 10. Februar 2013

Ein Blick in den Balkan: verbotene Kurzfilme der „schwarzen Welle“

In knapp zwei Monaten beginnt in Wiesbaden das 13. go East Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Es wird interessierten Cinephilen erneut die große Vielfalt des Kino-Schaffens von Warschau bis Belgrad, von Prag bis Moskau, von Priština bis Taškent aus vielen Jahrzehnten präsentieren. Letztes Jahr zeigte das Festival einige Leihgaben der slowenischen Kinemathek. In einer Nachmittags-Vorstellung wurden vier Kurzfilme des jugoslawischen Regisseurs Karpo Godina unter dem Motto „Poetisch-subversive Ironie“ in der Caligari FilmBühne projiziert.
Karpo Godina, 1943 im mazedonischen Skopje geboren, beteiligte sich Ende der 1960er Jahre als Kameramann und Cutter an Filmen der sogenannten „Jugoslawischen Schwarzen Welle“ – gewissermaßen ein lokaler Ableger der nouvelle vague. Regisseure wie Želmir Žilnik und Dušan Makavejev bemühten sich darum, die ästhetischen und thematischen Grenzen des jugoslawischen Kinos auszuloten und zu erweitern, mussten aber oft mit Zensur kämpfen. Als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter in Personalunion drehte Godina seit 1968 eigene Kurzfilme.




GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK (Gratiniertes Hirn von Pupilija Ferkeverk), 1970



Die sehr extreme formale Strenge Karpo Godinas wird bei GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK schnell deutlich: eine statische Kamera hält unentwegt das selbe Dekor fest, filmische Bewegung entsteht ausschließlich durch das Spiel der Darsteller sowie durch Bildmontage und musikalische Untermalung. Welch kreatives und auch humoristisches Resultat diese Selbstbeschränkung erzeugen kann, ist im Endresultat sehr deutlich!
Die Figuranten (von „Schauspiel“ oder „Darstellung“ im engeren Sinne kann hier eigentlich kaum die Rede sein) waren Mitglieder einer experimentellen Theatergruppe aus Ljubljana. Zusammen mit dem ein Jahr später gedrehten ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU wurde der Film bei den 17. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 1971 gezeigt. In Jugoslawien selbst wurde er jedoch sogleich verboten, nicht zuletzt, weil der letzte Zwischentitel zum Konsum von LSD auffordert.



ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU (Die Litanei der heiteren Leute), 1971



Die autonome Region Vojvodina im Norden Serbiens beherbergt bis heute eine der ethnisch-sprachlich vielfältigsten Bevölkerung in Europa. Nebst einer relativen Mehrheit an Serben beherbergt dieses landwirtschaftlich fruchtbare Gebiet auch Magyaren, Slowaken, Kroaten, Roma, Rumänen, Montenegriner, Bunjewatzen, Russinen, Mazedonier, Ukrainer, Muslime, Deutsche, Albaner, Slowenen, Bulgaren und andere Nationalitäten. Wenngleich eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber Serbien unwahrscheinlich ist, so pflegt die Vojvodina durchaus eine gewisse Distanz und Autonomie zum Kerngebiet Serbiens: Novi Sad ist nicht Belgrad!
In ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU präsentiert Godina ein multiethnisches Dorf in dieser Region. Er lässt einige Bewohner frei über alles mögliche sprechen und sinnieren, und kommentiert die Bilder mit einem Lied, der das Brüderlichkeit-und-Einigkeit-Dogma von Titos Jugoslawien mittels Übertreibung auf den Korn nimmt – erneut beansprucht die Musikbegleitung eine so zentrale Rolle, dass man praktisch von einem Musik-Clip sprechen kann. Auch dieser Film wurde verboten, unter dem Vorwurf, das multinationale Zusammenleben in Jugoslawien zu verhöhnen.
Ein gewisses Maß an Frechheit und Respektlosigkeit verströmt der Film sicher, wenngleich nicht unbedingt gegenüber den dargestellten Menschen, sondern durch parodierende Übertreibung eher gegenüber politischen Dogmen, die gerade in Jugoslawien über populäre Musik transportiert wurden. Godina zeigt eben keine funktionale, multikulturelle, sozialistisch-entwickelte Gesellschaft, sondern eher eine in ethnische Clans zersplitterte dörfliche Gemeinschaft. Feindseligkeit zwischen den dargestellten Menschen ist nicht zu spüren – sie leben einfach nur separiert in unterschiedlichen Trachten gekleidet und in verschiedenartig bemalten (und stellenweise durchaus renovierungsbedürftigen) Häusern wohnend nebeneinander und in einer Welt, in der die Begriffe Sozialismus und Jugoslawien anscheinend keine überragende Rolle spielen.
Folgende Nationalitäten werden nacheinander präsentiert:
1 Russinen (bzw. Rusniaken, Ruthenen, Karpato-Ukrainer), deren Sprache von manchen Philologen als unabhängige ostslawische Sprache, von anderen wiederum als westlicher Dialekt des Ukrainischen bezeichnet wird. Der Geistliche bezeichnet sich selbst als „Ukrainer“. Die weltbekannteste Person russinischer Herkunft dürfte übrigens Andy Warhol sein.
2 Magyaren (Ungarn): nach den Serben die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der Vojvodina.
3 Kroaten bzw. eigentlich Bunjewatzen: kleine ethnische Minderheit katholischen Glaubens und mit einem eigenen Dialekt, die trotz beharrlicher ikavischer Aussprache im sozialistischen Jugoslawien den Kroaten zugerechnet wurde.
4 Slowaken
5 Rumänen
6 Roma: mehrere Kommilitonen und Spezialisten des Balkans meinten in Gesprächen mit mir, dass „cigany“ nicht nur eine Fremd-, sondern auch die Eigenbezeichnung südslawischer Roma ist, und per se keinen pejorativen Charakter hat wie „Zigeuner“ oder „tsigane“ in Westeuropa.



O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM (Von der Kunst der Liebe oder Ein Film in 14441 Bildern), 1972



Nach mehreren Verboten dürfte Godina 1972 eigentlich als „heißes Eisen“ gegolten haben. Deshalb erscheint es so skurril, dass er tatsächlich den Zuschlag zur Inszenierung eines Rekrutierungs-Werbefilms für die Jugoslawische Volksarmee erhielt! Das bedeutete, dass dem Regisseur Armee-Gelder und -Materialien sowie Hunderte von Soldaten zur Verfügung gestellt wurden. Was sich die größte Armee Jugoslawiens dabei dachte, erscheint angesichts dessen, wie O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM im Endeffekt aussah, als Rätsel. Soldaten werden scheinbar vollkommen sinnlos durch eine Gebirgslandschaft gehetzt, während dazu ein Sänger fröhlich von den Freuden des Sommers trällert und sich wundert, warum es so viele Männer, so viele Frauen, aber keine Kinder gäbe.
Das Resultat war als Werbefilm für die Volksarmee natürlich vollkommen ungeeignet, und der Regisseur wanderte aufgrund des Vorwurfs, Armee-Gelder, -Personal und -Eigentum missbraucht und zweckentfremdet zu haben, für einige Monate ins Gefängnis (Armee-Verantwortliche sollen sogar eine siebenjährige Haftstrafe gefordert haben).



NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Ich vermisse Sonja Henie), 1972

(Der zweite Teil des Films neigt zu leichter Bild-Ton-Asynchronität. Diese Fassung hier hat dieses Problem nicht, verfügt allerdings auch nicht über Untertitel)

Dieser Film wurde 1972 während des Belgrader Filmfestivals gedreht. Godina wirkte hier nicht so sehr als Regisseur im engeren Sinne, sondern eher als Konzeptgestalter. Er hatte mehrere Filmemacher, die das Festival besuchten, gefragt, ob sie mit jeweils einem Fragment an einem Kurzfilm teilnehmen würden: Tinto Brass, Puriša Đorđević, Miloš Forman, Buck Henry, Dušan Makavejev, Paul Morrissey, Frederick Wiseman. Mit von der Partie war auch der Filmkritiker Bogdan Tirnanić. Folgende Instruktionen erhielten sie von Godina: das Fragment sollte nicht länger als drei Minuten dauern, mit fixer Kamera in einem einzigen Raum gedreht werden und mindestens einer der Darsteller sollte an einer Stelle das Snoopy-Zitat „I miss Sonja Henie“ äußern.
Das Resultat ist ein Film, der größtenteils ziemlich dumm, ziemlich geschmacklos und ziemlich anstrengend ist – und wahlweise frivol oder obszön. Godinas gestalterische Kohärenz mit ihren musikalisch-poetischen rhythmischen Montagen fehlt, ohne, dass irgendetwas wirklich gewinnbringendes an die Stelle tritt. In seiner vollkommenen Absurdität ist NEDOSTAJE MI SONJA HENI trotzdem ganz witzig, zumal Miloš Forman in seinem eigenen Filmabschnitt als ganzkörper-bandagierter Patient mitwirkt. Letzteres hat die jugoslawischen Behörden natürlich nicht davon abgehalten, auch diesen Film zu verbieten.


Sonntag, 3. Februar 2013

Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.

Dienstag, 7. August 2012

Norman McLaren: Minimalismus mit Linien und Kugeln

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

LINES HORIZONTAL
Kanada 1962
Regie: Norman McLaren und Evelyn Lambart

SPHERES
Kanada 1946/1969
Regie: Norman McLaren und René Jodoin

1960 schufen McLaren und Evelyn Lambart LINES VERTICAL (den Kollege gabelingeber ebenso wie BLINKITY BLANK in seinem inzwischen eingestellten Blog Trickfilmzeit vorgestellt hat), indem sie vertikale Linien in schwarzen Film ritzten (um die Linien möglichst gerade hinzubekommen, wurde eigens ein spezielles Lineal für technische Zeichner aus rostfreiem Stahl aus England geordert). Eine zunächst einzelne weiße Linie beginnt, sich quer zu bewegen, und spaltet sich dabei in vielfältiger Weise auf. Nachdem der Film fertig war, fragten sich Lambart und McLaren, wie er wohl aussehen würde, wenn sich stattdessen horizontale Linien auf und ab bewegen würden. Ein erster Test mit quergelegtem Kopf verlief vielversprechend, und so wurde die Idee in die Tat umgesetzt. Das Ergebnis ist LINES HORIZONTAL:



Es handelt sich tatsächlich um denselben Film wie LINES VERTICAL, abgesehen davon, dass das Bild um 90° gedreht (und danach natürlich wieder in das richtige Bildformat gebracht) wurde, dass aus weißen nun dunkle Linien und auch die Farben des Hintergrunds geändert wurden, und dass der ursprüngliche Soundtrack von Maurice Blackburn durch einen neuen von Pete Seeger ersetzt wurde.

Seeger, damals schon eine Folk-Legende, spielte alle Instrumente selbst. Dazu richtete er sich in seiner eigenen Scheune ein improvisiertes Aufnahmestudio samt Filmprojektor und Leinwand ein. Ähnlich wie Ravi Shankar und Chatur Lal fünf Jahre zuvor, sah er sich den Film dutzende Male an, aber eine komplizierte Schemazeichnung gab es diesmal nicht, weil Seeger mehr nach Gefühl arbeitete. Er zerlegte schließlich den Film in vier Teile, die er jeweils in einer Endlosschleife ansah und dazu nacheinander die einzelnen Instrumente einspielte. Beispielsweise begann er beim ersten Teil mit einer Flöte, ließ sich dann diese Aufnahme von einem Tonband auf seine Kopfhörer übertragen und spielte eine Gitarrenbegleitung dazu, und so weiter. Am Ende hatte er neun separate Tonspuren, die dann am NFB zusammengemischt wurden. In seinen technischen Anmerkungen zur Enststehung zog er folgendes bescheidene Fazit: "If my music is good, credit should be shared three ways: between the visual inspiration of the film, the technical staff and the instrumentalist."

1965 setzten McLaren und Lambart noch einen drauf. Sie überlagerten Schwarzweiß-Kopien von LINES VERTICAL und LINES HORIZONTAL derart, dass sich jetzt nur noch die Schnittpunkte (genauer gesagt die kleinen, annähernd quadratischen Schnittflächen) der Linien bewegen. In dem Maß, wie sich in den LINES-Filmen die Linien aufspalten, entstehen in MOSAIC ganze Schwärme von kleinen Quadraten, die sich vorwiegend diagonal durch das Bild bewegen. Zur Auflockerung setzt McLaren selbst die Bewegung in Gang, und am Ende fängt er die Quadrate wieder ein. Einen neuen Soundtrack gab es natürlich auch wieder.



1946 animierten McLaren und René Jodoin die "Kugeln" aus SPHERES (bei denen es sich in Wirklichkeit um ausgestanzte Blechscheiben handelte), aber beide fanden das Ergebnis langweilig, und so wurde der Film unveröffentlicht eingemottet. Doch in den 60er Jahren, als sich der Minimalismus einen Platz in der Musik und anderen Künsten erobert hatte, holte ihn McLaren wieder hervor und fand ihn überhaupt nicht mehr langweilig. Mit einem Hintergrund und Musik versehen, wurde SPHERES schließlich 1969 veröffentlicht. Die Stücke aus J.S. Bachs "Wohltemperiertem Klavier" spielte Kanadas damaliger Star-Pianist Glenn Gould.

Die Animation des Hintergrunds ist technisch interessanter als die der Kugeln. McLaren verwendete Pastellzeichnungen, die er mit Hilfe von Techniken, die er Mix of Chains und Travelling Zoom nannte, und die er selbst erfunden hatte, ineinander überführte. Beim Mix of Chains wird eine Zeichnung als Einzelbild aufgenommen, dann in einigen Details verändert, wieder aufgenommen, wieder etwas verändert, und so weiter. Dann werden die Bilder in einem optischen Printer gemischt. Zunächst stellt Bild A 100%. Dann wird der Anteil von A linear gesenkt und im selben Ausmaß der von Bild B gesteigert, bis nach beispielsweise 50 Frames das Bild zu 100% aus B besteht. In diesem Augenblick wird der Anteil von B wieder gesenkt und dafür Bild C eingeblendet, und so weiter. So ergibt sich eine endlose Kette von weichen Metamorphosen im Bild ohne erkennbare Brüche oder Schnittstellen. Für eine mehrminütige Sequenz braucht man zwar eine ganze Reihe von Einzelbildern, aber viel weniger, als wenn man für jeden Frame des Films ein eigenes Bild anfertigen müsste. Beim Travelling Zoom (nicht zu verwechseln mit dem Dolly Zoom, der manchmal ebenfalls Travelling Zoom genannt wird) zoomt die Kamera zunächst auf ein Bild zu (ob tatsächlich ein Zoom-Objektiv benutzt wird oder die Kamera selbst auf das Bild zufährt, ist dabei zweitrangig). Beim minimalen Abstand wird die Kamera zurückgesetzt und gleichzeitig das Bild durch eine vergrößerte Version des Innenbereichs des ursprünglichen Bilds ersetzt, und dann wird wieder herangefahren, dann gibt es wieder ein vergrößertes Bild, usw. Der Clou: Da die Bilder Zeichnungen sind, können bei jeder Vergrößerung problemlos neue Details hinzugefügt werden, und das ohne Begrenzung. So kann endlos in das Bild "hineingezoomt" werden, und selbst bei "Vergrößerungsstufen", bei denen man in der Realität bei einzelnen Atomen angekommen wäre, gibt es hier keine Grenze. Indem man die einzelnen Abschnitte sanft überblendet, sind auch hier keine Brüche sichtbar. McLaren erfand diese Technik bereits Ende der 30er Jahre. Erwähnte ich schon, dass er ein Genie war?

Damit ist die kleine McLaren-Reihe zu Ende. Ich hätte noch weitere Themen ansprechen können, z.B. McLarens surrealistische Filme wie A PHANTASY (er begeisterte sich schon früh für surrealistische Maler, insbesondere Yves Tanguy), aber man soll ja aufhören, bevor die ersten zu gähnen beginnen.

1990 drehte Donald McWilliams den zweistündigen Dokumentarfilm CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN. McWilliams hatte McLaren 1968 kennengelernt und sich seitdem zu einem führenden McLaren-Experten entwickelt. Bis zu seinem Tod 1987 wirkte McLaren noch an den Vorbereitungen zum Film mit, und es sind Ausschnitte aus älteren Dokus und Interviews enthalten, außerdem natürlich Ausschnitte aus diversen Filmen von McLaren und Erläuterungen der dafür verwendeten Techniken. Das NFB stellt CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN lobenswerterweise online in voller Länge zur Verfügung:



Beim NFB gibt es auch noch weitere Filme McLarens online, aber bei weitem nicht alle, und bei YouTube findet man auch etwas.

McLaren auf DVD:

2006 veröffentlichte das NFB in Zusammenarbeit mit Image Entertainment die Box "Norman McLaren: The Master's Edition" mit sieben DVDs, die alle Filme McLarens digital restauriert enthält (auch die aus seiner Zeit vor dem NFB), selbst Vorstudien und unvollendete Filme sind enthalten. Auch für Komplettisten bleiben hier kaum Wünsche offen. Ebenfalls enthalten sind zwei ältere einstündige Fernseh-Dokus über McLaren, 15 neue Featurettes von jeweils ca. fünf Minuten und weiteres Doku-Material.

Schon 2003 hatte das NFB zusammen mit Milestone Film & Video das Set "Norman McLaren: The Collector's Edition" mit zwei DVDs veröffentlicht. Enthalten sind auf einer Scheibe McWilliams' CREATIVE PROCESS: NORMAN McLAREN und auf der anderen eine Auswahl von McLarens wichtigsten Filmen, darunter fast alle hier besprochenen. Enthalten ist auch ein 106-seitiges Booklet, das neben allgemeineren Inhalten auch detaillierte technische Informationen zu den enthaltenen Filmen liefert, die von McLaren selbst (und in einigen Fällen zusätzlich von seinen Mitstreitern wie Maurice Blackburn und Pete Seeger) verfasst wurden. Ein beträchtlicher Teil der Infos für meine Artikel hier stammt daraus. Beide DVD-Sets sind leider nicht ganz billig.

Montag, 6. August 2012

Norman McLaren und Pixil(l)ation

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

NEIGHBOURS
Kanada 1952
Regie: Norman McLaren
Darsteller: Grant Munro, Jean Paul Ladouceur

A CHAIRY TALE
Kanada 1957
Regie: Norman McLaren, Claude Jutra
Darsteller: Claude Jutra

McLarens radikale politische Ansichten aus den 30er Jahren gingen ihm später zwar nicht vollends verloren, wurden aber von seinen künstlerischen Ambitionen in den Schatten gestellt. (Die Säuberungen in der Sowjetunion Ende der 30er Jahre hatten ihm zwar den Glauben an den orthodoxen Kommunismus ausgetrieben, aber als er 1949 im Auftrag der UNESCO für einige Monate als Instruktor in China lebte, waren ihm die Ideen und Maßnahmen der dort gerade an die Macht gekommenen Kommunisten nicht unsympathisch. Der wenig später ausgebrochene Koreakrieg bewirkte auch hier eine gewisse Ernüchterung. Später war McLaren im Auftrag der UNESCO auch in Indien tätig.) Der einzige seiner späteren Filme, der eine politische, und zwar eine pazifistische, Botschaft transportiert, ist NEIGHBOURS.


Die Variante der Stop-Motion-Technik mit menschlichen Darstellern, die hier an etlichen Stellen zum Einsatz kommt, heißt heute Pixilation. McLaren und sein Umfeld benutzten die Schreibweise Pixillation. Erfunden wurde der Ausdruck von Grant Munro für einen seiner eigenen Filme. Munro war einer derjenigen Nachwuchskräfte, die ab Mitte der 40er Jahre ans NFB unter die Fittiche von McLaren kamen, und er wurde dann neben Evelyn Lambart sein engster Mitarbeiter, sei es als Darsteller wie hier, sei es als Co-Regisseur und in anderen Funktionen. Munro wurde auch als Regisseur seiner eigenen Animationsfilme erfolgreich, später drehte er auch Dokumentationen, und er blieb mit McLaren befreundet.

Pixilation wurde in NEIGHBOURS beispielsweise benutzt, um die beiden Protagonisten auf dem Rücken über den Rasen gleiten zu lassen, sie wie Schlittschuhläufer wirken und schließlich schweben zu lassen. Letzteres war ziemlich anstrengend. Die beiden Darsteller mussten synchron auf der Stelle in die Höhe springen und dabei die Knie anziehen. Auf dem höchsten Punkt der Flugbahn wurden sie aufgenommen. Dann ein kleiner Schritt zur Seite, nächster Sprung und nächstes Einzelbild, und so weiter. Insgesamt musste jeder der beiden ca. 300 Sprünge absolvieren, wie sich Munro in einer Doku über McLaren erinnerte. Die meisten Sequenzen von NEIGHBOURS wurden aber weniger aufwendig mit einer Kamera mit variabler Geschwindigkeit aufgenommen, mit der sich gemäßigter bis extremer Zeitraffer-Effekt erzielen ließ. Doch nicht nur die Kamera lief mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sondern gleichzeitig bewegten sich oft auch die Darsteller in sehr kontrollierter Weise langsamer als bei natürlichen Bewegungen, was zusätzliche Effekte ermöglichte. Dieselbe Kombination von verschiedenen Techniken kam auch bei OPENING SPEECH, A CHAIRY TALE und einigen weiteren Filmen McLarens zum Einsatz. Erfunden wurde Pixilation aber schon lange bevor es den Ausdruck gab. Bereits Georges Méliès hat regelmäßig mit Stop-Motion-Tricks gearbeitet.

Schon 1939, in seiner New Yorker Zeit, begann McLaren damit, nicht nur Bilder, sondern auch Töne manuell auf Filmmaterial aufzubringen, indem er entweder mit Tusche schwarze Kleckse mit variierender Dicke, Höhe und Abstand voneinander auf klaren Film malte, oder entsprechende Figuren auf schwarzem Film einritzte, nur eben nicht im Bildbereich, sondern auf der Lichttonspur des Films. Später verfeinerte er das Verfahren, indem er schwarze Balken auf Papier druckte und dann, entsprechend verkleinert, photographisch auf die Tonspur des Films übertrug. Durch unterschiedliche Breite, Höhe und Abstand ergaben sich unterschiedliche Tonhöhe und Lautstärke, und durch weitere Maßnahmen, etwa Sägezahnkurven statt rechteckiger Balken, konnte auch zwischen relativ reinen und dissonanten Klängen unterschieden werden. Dadurch, dass die Tonmuster Frame für Frame aufgebracht wurden, ergab sich automatisch die ultimative Kontrolle über die Synchronizität von Bild und Ton. Auf diese komplizierte Weise entstand auch der Soundtrack von NEIGHBOURS. (McLaren trieb das Verfahren in SYNCHROMY auf die Spitze, indem die Balken, die den Ton erzeugen, auch Inhalt der Bilder sind, so dass man "den Ton sehen" und "die Bilder hören" kann - ein Ausdruck von McLarens Interesse für Synästhesie.)

NEIGHBOURS wurde einer von McLarens bekanntesten und erfolgreichsten Filmen, was auch daran lag, dass es sein einziger war, der einen Oscar gewann - und zwar merkwürdigerweise in der Kategorie Best Documentary (Short Subject). Später hat die Academy selbst eingestanden, dass das eigentlich die falsche Kategorie war.


"I have sympathy for things that are sat upon." (McLaren)

Die Musik zu A CHAIRY TALE schrieb kein Geringerer als Ravi Shankar, der sie mit seinem Tabla-Spieler Chatur Lal auch einspielte. Die beiden waren zu einem Fernseh-Auftritt in Montreal, als A CHAIRY TALE schon fertig geschnitten, aber noch ohne Sound war. McLaren war ratlos, welche Musik er verwenden sollte, da sah er Shankar im Fernsehen und hatte eine Erleuchtung. Die Übertragung der Bilder in Musik wurde ähnlich bewerkstelligt wie bei BEGONE DULL CARE, nur in umgekehrter Reihenfolge: Die Struktur des Films wurde in eine komplizierte Graphik auf Millimeterpapier mit schriftlichen Anmerkungen übertragen, ein Kästchen entsprach dabei einer Sekunde. Dann führte McLaren den beiden Musikern den Film ungefähr ein Dutzend Mal vor, wobei sie die Graphik zur Hand hatten, so dass sie am Ende beim Blick auf das Schema sofort jeder Stelle die entsprechende Sequenz des Films zuordnen konnten. Derart gewappnet, wurde dann in einer dreiwöchigen Sitzung die Musik geprobt und aufgenommen. McLaren wollte keine rein klassisch-indische Musik, sondern eine Mischung aus indischen und europäischen Elementen, und Shankar hat wunschgemäß geliefert (auch Opernmuffel werden wahrscheinlich "Carmen" erkannt haben).

McLarens Darsteller und Co-Regisseur Claude Jutra war damals als Einsteiger kurze Zeit beim NFB beschäftigt. Wenig später wurde er mit seinen eigenen Spiel- und Dokumentarfilmen einer der Mitbegründer eines eigenständigen franko-kanadischen Kinos und einer der wichtigsten kanadischen Regisseure überhaupt. Sein MON ONCLE ANTOINE von 1971 wurde gelegentlich als bester kanadischer Film überhaupt bezeichnet. McLaren und den französischen Cinéma-vérité-Pionier Jean Rouch (mit dem er ebenfalls zusammengearbeitet hatte) bezeichnete er als seine wichtigsten Einflüsse; seit einem längeren Frankreich-Aufenthalt Ende der 50er Jahre war er auch mit François Truffaut befreundet. Als bei Jutra eine beginnende Alzheimer-Erkrankung diagnostiziert wurde, ertränkte er sich im St. Lawrence River - ein Ende, das er in gewisser Weise schon 1964 in seinem Film À TOUT PRENDRE vorweggenommen hatte.

Samstag, 4. August 2012

Norman McLaren - Genie mit Festanstellung

Einige Kurzfilme von Norman McLaren

Teil 1: Ein Regisseur mit Festanstellung auf Lebenszeit
Teil 2: Pixil(l)ation
Teil 3: Minimalismus mit Linien und Kugeln

OPENING SPEECH
Kanada 1960
Regie und Darsteller: Norman McLaren

BEGONE DULL CARE
Kanada 1949
Regie: Norman McLaren und Evelyn Lambart

PAS DE DEUX
Kanada 1968
Regie: Norman McLaren
Tänzer: Margaret Mercier, Vincent Warren

Lassen wir zunächst Norman McLaren selbst einige Worte an das geschätzte Publikum richten:


Damit ist eigentlich schon alles Wesentliche gesagt - außer vielleicht, dass Norman McLaren (1914-87) einer der genialsten Animationsfilmer aller Zeiten war. Dazu verwendete er eine ganze Reihe von Techniken und Stilen, beispielsweise direkt auf das Filmmaterial gemalte oder eingeritzte abstrakte Filme wie BEGONE DULL CARE. Nachdem der gebürtige Schotte noch als Student Preise auf Amateurfilmfestivals in Glasgow gewonnen hatte, wurde John Grierson auf ihn aufmerksam und holte ihn nach London zur Filmabteilung der Britischen Post (GPO Film Unit). Grierson, der Pionier der britischen Dokumentarfilmbewegung, versammelte dort nicht nur reinrassige Dokumentarfilmer, sondern auch experimentierfreudige junge Leute wie McLaren und den Neuseeländer Len Lye, der wie McLaren zu einem der führenden Vertreter des abstrakten Films werden sollte. So arbeitete McLaren also in den 30er Jahren für das GPO, und er drehte in dieser Zeit als Kameramann auch einen Film über den spanischen Bürgerkrieg (Regie führte Ivor Montagu), der von seiner sozialistischen und pazifistischen Einstellung geprägt war, ebenso wie der ungestüme Antikriegs- und Antikapitalismusfilm HELL UNLIMITED, den er gemeinsam mit Helen Biggar realisierte. 1939 ging er dann in die USA und lebte fast zwei Jahre in New York, wo er als angestellter Mitarbeiter für Mary Ellen Bute und Ted Nemeth arbeitete, die seit 1934 gemeinsam abstrakte Filme drehten (seit 1940 waren sie auch miteinander verheiratet), und McLaren drehte in dieser Zeit auch einige kleinere eigene Filme. Eigentlich wollte er in New York bleiben, aber dann holte ihn John Grierson nach Kanada. Grierson hatte in einem Report für die kanadische Regierung die Einrichtung einer nationalen Filmbehörde empfohlen. Daraufhin wurde das National Film Board of Canada (NFB, bzw. auf Französisch Office national du film du Canada, ONF) ins Leben gerufen, und Grierson wurde der erste Vorsitzende. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, McLaren zum Leiter der Animationsabteilung des NFB zu berufen, wobei er nicht nur selbst Filme drehen, sondern auch die Ausbildung von Nachwuchskräften leiten sollte. Grierson konnte traumhafte Bedingungen bieten, so dass McLaren 1941 schließlich nach Kanada zog, wo er bis an sein Lebensende blieb. McLaren bekam eine feste Anstellung und gesicherte Finanzierung für seine Projekte - Bedingungen, von denen die meisten seiner Kollegen nur träumen konnten (beispielsweise konnte der in die USA emigrierte Oskar Fischinger in den letzten 20 Jahren seines Lebens keinen Film mehr realisieren, weil er das nötige Geld nicht auftreiben konnte). Da das NFB eine staatliche Einrichtung ist, besaß McLaren fast so etwas wie Beamtenstatus. Im Lauf der Jahre und Jahrzehnte wurde er der wichtigste kanadische Animationsfilmer, und schließlich der Übervater des NFB - das Hauptquartier des NFB in Montreal heißt heute Norman McLaren Building. Eine Auswahl seiner zahlreichen Preise und Auszeichnungen (insgesamt über 200) kann man in Wikipedia nachlesen.

Sehen wir uns jetzt BEGONE DULL CARE an, einen abstrakten Film zu einer Musik vom Oscar Peterson Trio (bei entsprechender Bandbreite kann man die Qualität auf 1080p erhöhen):


Die Musik wurde vor dem Film aufgenommen, aber in enger Kooperation mit McLaren eigens für BEGONE DULL CARE geschrieben und in einer viertägigen Aufnahmesitzung, an der McLaren aktiv teilnahm, eingespielt. Dann wurde die exakte zeitliche Struktur der Musik mit sehr detaillierten Zeitangaben in ein Schema auf Papier übertragen, und damit wiederum wurden auf 35mm-Filmmaterial Zeitmarkierungen zwischen den Perforationslöchern angebracht, so dass letztendlich Musik und Bilder genau synchronisiert werden konnten. Wie oben schon erwähnt, wurde der Film ohne Zuhilfenahme einer Kamera manuell direkt auf Filmmaterial aufgebracht. Dazu wurden einzelne Filmstreifen auf ein mehr als vier Meter langes Brett gespannt. Im ersten und dritten Satz wurden die Bilder zum größten Teil in einem überaus komplizierten Prozess auf beide Seiten von Klarfilm gemalt. Um zu verdeutlichen, wie diffizil das war, lassen wir McLaren selbst (in einem Statement von 1949) zu Wort kommen:
In various ways, almost too many to list, we applied all kinds of transparent coloured dyes, and scratched or engraved on them. [...] We applied the dyes with big and little brushes, with stipple brushes, with sprayers, with finely crumpled paper, and with cloths of various textures. We pressed dry, textured fabrics into washes of still wet dye. Netting, mesh and fine lace were stretched out tightly in various ways against the celluloid, to act as stencils when dye was sprayed on the film. Different types of dust were sprinkled on wet dye, which formed circles as it recoiled from each dust speck. We found a black opaque paint which, as it dried, created a crackle pattern. And so on.
Und so geht das noch einige Absätze weiter. (Quelle: Booklet des DVD-Set Norman McLaren. The Collector's Edition. Mehr zu DVDs am Ende des dritten Teils der Artikelserie). Im langsamen Mittelteil (und an einigen wenigen kurzen Stellen im ersten und dritten Teil) wurden die Bilder mit Messern in Schwarzfilm (black leader) unter Zuhilfenahme einer Moviola eingeritzt.

Co-Regisseurin Evelyn Lambart war in den 40er Jahren eine von McLarens Schülerinnen in der Animations-Abteilung des NFB, und dann mehr als zehn Jahre lang seine engste Mitarbeiterin. (Sie hatten aber nichts miteinander, denn McLaren war schwul und lebte 50 Jahre lang mit dem Film- und Fernsehproduzenten Guy Glover zusammen.) BEGONE DULL CARE ist der schönste und komplizierteste Film, den McLaren auf die beschriebene Weise erschaffen hat. Ein weniger elaborierter Vorläufer ist beispielsweise BOOGIE-DOODLE von 1941; seine ersten Versuche mit handgemaltem Film machte McLaren bereits auf der Kunsthochschule in Glasgow. Der fertige Filmstreifen von BEGONE DULL CARE diente als Master-Positiv, von dem ein Negativ und davon schließlich die Vorführ-Kopien gezogen wurden.

Kommen wir jetzt zu PAS DE DEUX:


Um den Zeitlupeneffekt zu erzielen, wurde mit doppelter Geschwindigkeit (48fps) gefilmt, mit weiß gekleideten Tänzern in einem komplett schwarzen Studio (was für die Tänzer ziemlich schwierig war). Die Beleuchtung erfolgte von schräg hinten. Das war essentiell - nur dadurch, dass nur die Umrisse der Tänzer zu sehen sind, kommt die Überlagerung positiv zur Geltung. Bei Beleuchtung von vorn hätten sich damit nur verschwommene weiße Flecken ergeben. Die wirklich erstaunlichen Überlagerungseffekte wurden durch den virtuosen Einsatz eines optischen Printers erzielt. Dabei wurden bis zu elf einzelne Bilder übereinandergelegt. Der zeitliche Versatz der Einzelbilder - der dann den räumlichen Abstand im Gesamtbild bestimmt - betrug meist drei, vier oder fünf Frames, gelegentlich auch bis zu zwanzig Frames (bei weniger Frames ergibt sich eine dichte, bei mehr Frames eine räumlich weit auseinandergezogene Überlagerung). Am NFB wurde übrigens auch Pionierarbeit zur Computeranimation geleistet, McLaren selbst hat aber nie Computer für seine Filme verwendet.

Bei PAS DE DEUX entstanden erst die Bilder und dann der Soundtrack. Die Musik stammt in ihrer ursprünglichen Form vom rumänischen Panflötisten Constantin Dobre. Das Problem dabei war, dass das Stück nur drei Minuten dauert und der Film dreizehn. Die nötige Streckung übernahm Maurice Blackburn, ein am NFB fest angestellter experimentierfreudiger Komponist, der oft und intensiv mit McLaren zusammenarbeitete. Er zerlegte das Stück in sehr kurze Teile, die auf Magnetband gespeichert und dann nach einer elektronischen Bearbeitung mit Hilfe eines Toningenieurs in geeigneter Weise wieder zusammengesetzt wurden, so dass sich der nahtlos dahinfließende Soundtrack ergab.

Montag, 28. Mai 2012

Weltraumfolie und Drogen: THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA

THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA
USA 1968
Regie: Ira Cohen
Darsteller: Ira Cohen, Angus MacLise, Hetty MacLise, Peter Birnbaum, Robert LaVigne, Tony Conrad, Beverly Grant, Jack Smith, Ziska Baum, Loren Standlee u.a.

"There is the science of mirrors and there is the magic of mirrors." (Ian MacFadyen im Booklet der DVD des Films)


"Mylar" ist der bekannteste von mehreren Handelsnamen einer speziellen Polyesterfolie, die sehr leicht und dabei besonders reißfest und in sonstiger Hinsicht widerstandsfähig ist. Mit Aluminium beschichtet, ist Mylar auch gasdicht und reflektiert bis zu 99% des auftreffenden Lichts. Die vielfältigen Anwendungen des Materials reichen von Lebensmittelverpackungen bis zur Nutzung im Weltraum, etwa in Raumanzügen der Nasa, zur thermischen Isolierung von Satelliten und als Sonnensegel zum Antrieb der Sonde Cosmos 1 (die allerdings schon beim Start abstürzte). Der New Yorker Fotograf und Poet Ira Cohen (1935-2011) hingegen kam auf eine gänzlich andere Anwendung: In seiner Wohnung in der Lower East Side von Manhattan richtete er sich Mitte der 60er Jahre mit metallbeschichteter Folie eine Mylar Chamber ein, ein flexibles Spiegelkabinett. Dort schoss er im Lauf der Jahre Tausende Fotos, meist Portraits von Künstlern aller Art und von seinen Freunden und Bekannten. Seinerzeit recht bekannt wurde etwa ein Portrait von Jimi Hendrix. Hier und auf anderen Websites kann man sich einige weitere Beispiele ansehen. Aber nicht nur in der Mylar Chamber, sondern auch auf Cohens ausgedehnten Reisen, die ihn vor allem zu damaligen Hippie-Anziehungspunkten wie Marokko, Indien und Nepal führten, kam die leichte und strapazierfähige Folie zum Einsatz. 1968 reifte der Entschluss zum nächsten Schritt: Warum nicht auch einen Film in der Mylar Chamber drehen? Das Ergebnis, THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA, kann man getrost als ultra-psychedelisch bezeichnen.


1961 war Cohen für vier Jahre nach Marokko gegangen, wo er mit anderen Marokko-Exilanten aus der Literatur- und Subkulturszene wie William S. Burroughs, Paul Bowles und Brion Gysin in Kontakt trat, ein Magazin für Beatnik-Literatur und obskure Themen wie Exorzismus herausgab und in Zusammenarbeit mit Bowles und Gysin Tonaufnahmen marokkanischer Sufi-Musiker machte (einige Jahre später machte Stones-Gitarrist Brian Jones einen Teil dieser Musiker durch das von ihm produzierte Album Brian Jones presents the Pipes of Pan at Joujouka international bekannt) und als LP herausbrachte. Nach seiner Rückkehr nach New York 1966 veröffentlichte Cohen unter einem Pseudonym ein Hashish Cookbook, das seine damalige Freundin in Tanger geschrieben hatte, und er begann mit Mylar zu experimentieren. Cohen war damals in die Ostküsten-Avantgarde- und Underground-Szene integriert, die sich um Leitfiguren wie Andy Warhol und Jack Smith scharte, und aus diesem Kreis stammte die Mehrheit der rund 40 Beteiligten an THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA. Vor allem der Underground-Regisseur, Fotograf und Aktionskünstler Jack Smith, dessen berühmt-berüchtigter erster Film FLAMING CREATURES (1963) bei der Premiere von der New Yorker Polizei beschlagnahmt wurde (was eine heftige öffentliche Debatte auslöste), wurde zu einem Vorbild und Freund von Cohen, und er spielte auch in THUNDERBOLT PAGODA mit. Die Gesamtheit der Mitwirkenden am Film bekam von Cohen die ad-hoc-Bezeichnung The Universal Mutant Repertory Company verpasst.


Weil sich der Eindruck des Films kaum angemessen in Worte fassen lässt, zunächst hier und hier zwei kurze Ausschnitte auf YouTube. Es wurde keineswegs der ganze Film als Mylar-Reflexion gedreht, dafür kamen auch andere Stilmittel wie Mehrfachbelichtung und durch Prismenvorsätze erzeugte kaleidoskopische Split-Screen-Effekte zum Einsatz. Aber auch die durchaus vorhandenen "plain" gefilmten Sequenzen wirken völlig surreal, weil alle Darsteller mit äußerst fantasievollen Masken und Kostümen versehen waren, mit merkwürdigen Objekten hantierten und sich wie in Trance oder im Drogenrausch bewegten. Hauptverantwortlicher für Masken, Kostüme und das sonstige Produktionsdesign war Robert LaVigne, ein Maler aus San Francisco, der in den 50er Jahren zum Dunstkreis der Beatniks um Allen Ginsberg gehört hatte.


Die erste Hälfte des rund 22 min langen Films wurde in der Mylar Chamber gedreht, die zweite im Freien auf einer Lichtung (aber auch hier teilweise unter Nutzung der Folie). Die letzten zwei oder drei Minuten bestehen aus gänzlich abstrakten wunderschönen bläulichen Bildern, die mit Hilfe von flüssigem Quecksilber, das auf horizontal gehaltener Folie erratisch umherfloss, gedreht wurden. Wenn man will, kann man in den Film so etwas wie eine rudimentäre Handlung, die schamanistische oder alchemistische Rituale enthält, hineinlesen, man kann es aber auch lassen. Offensichtlich ist jedoch, dass auf die Wirkung von Opium, LSD und anderen psychoaktiven Substanzen angespielt wird. Das wurde von Cohen noch betont, indem er einigen der Gestalten Namen wie The Majoon Traveler (gespielt von Cohen selbst) oder The Methedrine Cardinal gab.


Ein beträchtlicher Teil der hypnotischen Wirkung des Films beruht auf dem flirrend-fiebrigen Soundtrack, der unter Leitung von Angus MacLise von einer Combo eingespielt wurde, die ebenfalls einen ad-hoc-Namen erhielt, nämlich The Joyous Lake. Sie bestand aus Angus und seiner Frau Hetty MacLise, Tony Conrad, Ziska Baum, Loren Standlee und drei weiteren Mitspielern - sie alle spielten auch im Film mit. Der größte Teil der Musik wurde 1968 live zu einer Vorstellung des Films in einer New Yorker Kirche eingespielt. Angus MacLise ist heute am ehesten dadurch in Erinnerung, dass er der erste Percussionist von The Velvet Underground war. In den frühen 60er Jahren spielten er und Tony Conrad zusammen mit La Monte Young, John Cale und anderen in der Formation Theatre of Eternal Music, auch als The Dream Syndicate bekannt, wo sie zu Mitbegründern von Minimal Music und Drone Music wurden. Sein damaliger Mitstreiter John Cale holte MacLise dann zu den gerade gegründeten Velvet Underground, aber als 1965 der erste bezahlte Auftritt anstand, verweigerte sich der radikale MacLise dieser "Kommerzialisierung" der Band, stieg aus und wurde durch Maureen Tucker ersetzt. Ähnlich wie Cohen, begab sich MacLise später zusammen mit Hetty auf ausgiebige Reisen in Länder wie Indien und Nepal. Durch langjährigen Drogenkonsum und eine Tuberkulose geschwächt, starb Angus MacLise 1979 mit 41 Jahren in Kathmandu. Sein musikalisches Werk, das Minimal Music mit orientalischen Rhythmen verband, blieb lange weitgehend unbekannt und unveröffentlicht, erst seit Ende der 90er Jahre kam es zu CD-Veröffentlichungen. Eine CD von 1999 mit dem Titel The Invasion of Thunderbolt Pagoda enthält als Titelstück eine 39-minütige Version des Filmsoundtracks, die man hier auf YouTube anhören kann [leider inzwischen gelöscht].


MacLises alter Freund und Kollege Tony Conrad erweiterte unter dem Einfluss seiner damaligen Frau Beverly Grant, die als Schauspielerin in diversen Undergroundfilmen der 60er Jahre mitwirkte und zu Warhols sogenannten Superstars in der Factory gehörte, seine Interessen von der Musik in Richtung Experimentalfilm (sein THE FLICKER von 1965 gilt als einer der ersten Structural Films), später zur Videokunst, und er ist bis heute in verschiedenen Kunstrichtungen aktiv. Am bekanntesten wurde er wohl durch seine Zusammenarbeit mit der deutschen Band Faust, in der die Synthese von Minimal Music und Krautrock gelang. Das Poeten- und Musikerpaar Ziska Baum und Loren Standlee lebte Mitte der 60er Jahre in einer Hippie-Kolonie auf der Insel Formentera, dann in Paris, wo sie zur ersten Inkarnation der anglo-französischen Band Gong gehörten, bevor sie schließlich nach New York übersiedelten und über das Filmemacherpaar Sheldon und Diane Rochlin (die auch in THUNDERBOLT PAGODA mitwirkten und die Kamera führten) zu Cohens Kreis stießen. Über Raja Samyana, Henry Flynt und Jackson Mac Low, die restlichen Mitglieder von The Joyous Lake, weiß ich nichts zu berichten. [UPDATE: Henry Flynt ist ein Philosoph, Wissenschaftler, Konzeptkünstler, experimenteller Musiker, und ein Aktivist gegen den etablierten Kulturbetrieb. Seit Ende der 50er Jahre gehörte auch er zum Dunstkreis von Tony Conrad und La Monte Young. Mehr zu seiner Biographie und seinen Aktivitäten gibt es hier. In seiner Musik, von der es mittlerweile einiges auf YouTube gibt, vereint er unter dem Dach der Minimal Music Elemente von Hillbilly und Blues über Elektronik bis zu indischen Ragas. 2013 war ihm in Düsseldorf und Karlruhe eine Ausstellung gewidmet (siehe auch dieses einstündige Video mit ihm).]


So außergewöhnlich THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA ist, ist er doch nicht im luftleeren Raum entstanden. An Vorgängern würde ich zunächst Kenneth Angers INAUGURATION OF THE PLEASURE DOME benennen. Von den Filmen, die ich kenne, ist jedoch CHUMLUM (1964), der letzte Film des jung verstorbenen Ron Rice, THUNDERBOLT PAGODA am ähnlichsten. Es gibt auch personelle Verbindungen zwischen den Filmen: Angus MacLise war auch bei CHUMLUM für den Soundtrack verantwortlich, und Beverly Grant und Jack Smith spielten mit. Den auf manchen Websites behaupteten Einfluss von Sergej Paradschanow auf Cohens Film halte ich dagegen für eher unwahrscheinlich.


Wie schon angedeutet, machte Cohen lange Reisen, die ihn nach Äthiopien, Japan, Indien oder Nepal (wo er in Kontakt mit den dort lebenden MacLises stand) führten, lebte auch eine Zeit lang in Amsterdam, und zwischendurch immer wieder in New York. Er fotografierte weiterhin und schrieb Gedichte, und gelegentlich gab er Magazine und handwerklich hochwertig produzierte Bücher heraus. Dagegen drehte er nur noch einen Film, nämlich eine Doku über das Kumbh-Mela-Fest in Indien, das von den Teilnehmerzahlen her das größte religiöse Fest der Welt ist. Ein einstündiges Fernsehgespräch mit ihm darüber kann man hier ansehen. An einer digitalen Veröffentlichung von THUNDERBOLT PAGODA hatte er lange kein Interesse, aber Mitte der 2000er Jahre konnte er dazu überredet werden. Der in der IMDb als Produzent von THUNDERBOLT PAGODA bezeichnete Will Swofford hat in Wirklichkeit nicht den Film, sondern die 2006 erschienene DVD produziert. In Cohens Wohnung fanden sich auch noch rund vier Stunden an Outtakes, die zur Anreicherung der DVD genutzt wurden. Einerseits fügte Cohen dem doch recht kurzen Film einen optionalen achtminütigen Prolog hinzu, der einen eigenen neuen Soundtrack erhielt, und der nicht farbig, sondern monochrom in Sepia viragiert ist. Er zeigt die Protagonisten überwiegend nicht in den Masken und Kostümen des Hauptfilms, sondern in schlichter Aufmachung bei merkwürdigen Verrichtungen im Schlamm, die an Rituale von Stammesangehörigen in Neuguinea denken lassen. Wer schon mal das Bild in meinem Google-Profil genauer betrachtet hat, wird bei Ansicht des Prologs ein Déjà-vu haben ...

Prolog: Angus MacLise (links oben), Ira Cohen
Und andererseits montierte Swofford aus Teilen der Outtakes einen 30-minütigen Bonusfilm mit dem Titel BRAIN DAMAGE, ebenfalls mit neuem Soundtrack. Eine Slideshow von Mylar-Fotos, ein konfuses Kurzportrait von Cohen, das einer seiner Söhne und Swofford drehten, und ein schön gestaltetes Booklet bilden weiteres Bonusmaterial. Für den eigentlichen Film gibt es auch zwei zusätzliche alternative Soundtracks. Der eine wurde 2003 von Acid Mothers Temple SWR, einer Fraktion des verzweigten japanischen Band-Projekts Acid Mothers Temple, bei einem Festival in Schottland live eingespielt. Der andere wurde 2006 von der US-Band Sunburned Hand of the Man, die in den 2000ern Cohen auch gelegentlich bei Lesungen seiner Gedichte begleitet hatte, ebenfalls live aufgenommen. Die Original-DVD von 2006 ist inzwischen out of print und wird stark überteuert gehandelt, es scheint aber neuerdings eine Neuauflage zu geben.

Abstrakte Bilder am Schluss

Sonntag, 8. Januar 2012

Kurzbesprechung: Venedig im Wasser

VENEDIG
Österreich 1961
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)

Selbstverständlich liegt Venedig im Wasser - das weiß man doch. Was soll also der Titel? Steinwendners 11-minütiger Film besteht nur aus Ansichten von Venedig, ohne Handlung, ohne Kommentar. Das Besondere: Die Stadt wird nicht direkt gefilmt, sondern als Reflexion im mehr oder weniger gekräuselten Wasser der Lagune und der Kanäle. So ergeben sich Bilder von leicht verzerrt bis völlig abstrakt. Die Kamera wurde dafür kopfüber gehalten, so dass die gespiegelten Bilder wieder aufrecht stehen. Einmal fiel die Kamera ins Wasser, aber sie konnte geborgen werden, und nach gründlicher Reinigung in den Arri-Werken in München konnte es weitergehen. Dass die poetischen Impressionen nicht ins Süßliche abgleiten, dafür sorgt auch die avantgardistische Musik, die von einem Eric Siday stammt, der wohl in den 60er Jahren ein Pionier auf frühen Modellen des Moog-Synthesizers war [siehe Update unten]. Die frühere Vorliebe Steinwendners für das nicht nur in WIENERINNEN eingesetzte Heliophon findet hier seine logische Weiterentwicklung. Die Einrichtung der Musik für den Film, also Tonschnitt etc., übernahm Steinwendners zweite Frau, die frühere Burgschauspielerin Antonia Mittrowsky. Der originelle und extravagante Film erhielt 1962 bei der Berlinale einen Silbernen Bären. Wie schon im Artikel über WIENERINNEN erwähnt, ist VENEDIG als Bonusfilm auf einer DVD enthalten, die als Beilage einer Monographie über Steinwendner erhältlich ist. Und jetzt sollen die Screenshots für sich sprechen.

UPDATE, Januar 2017: In den Credits von VENEDIG wird der Komponist "Eric Sidey" genannt (und so nannte auch ich ihn hier bis jetzt), im Steinwendner-Büchlein dagegen "Erik Sidey". Als ich den Artikel schrieb, habe ich mich darüber gewundert, dass ich so wenig über diesen Herrn zutage fördern konnte. Inzwischen kenne ich die Lösung: Beide Schreibweisen sind falsch, denn er hieß in Wirklichkeit Eric Siday. Er war in der Tat ein Pionier der elektronischen Musikerzeugung, der beispielsweise Musik zur Frühphase der Serie DR. WHO beisteuerte, der in seinen jungen Jahren aber auch ein fähiger Jazzgeiger war. Als Robert Moog im Oktober 1964 seinen ersten Synthesizer auf einer Tagung von Toningenieuren in New York vorstellte, wurden zwei der Geräte vom Fleck weg bestellt - der zweite Besteller war Eric Siday. Er besaß damals ein gut gehendes Tonstudio in New York, das elektronische Musik und Jingles für Radio- und TV-Werbung produzierte. Als der bestellte Synthesizer von Moog persönlich in Sidays Wohnung in Manhattan, die schon mit elektronischen Geräten vollgestopft war, abgeliefert wurde, bekam Sidays Frau einen hysterischen Anfall und schrie "Eric, more shit in this house!" - so erzählte es jedenfalls Moog in späteren Jahren. Der Soundtrack von VENEDIG entstand aber natürlich vorher, konnte also nicht mit einem Gerät von Moog produziert worden sein. Eine Auswahl von Sidays elektronischer Musik ist 2014 unter dem Titel The Ultra Sonic Perception auf CD und LP erschienen.

Nun aber endlich zu den Screenshots:










Freitag, 25. November 2011

DAS STAHLTIER, Leni Riefenstahl, und ein Regisseur im Irrenhaus - Teil 2

Teil 1: Der Film
Teil 2: Der Fall

Am 13. Juli 1935 begannen in Nürnberg die Jubiläumsfeiern der Bahn, doch DAS STAHLTIER wurde nicht gezeigt. Nachdem zuvor monatelang in der Presse über den Fortgang der Dreharbeiten berichtet worden war, fiel die Premiere sang- und klanglos aus. Wenig später, am 25. Juli, wurde DAS STAHLTIER von der Filmprüfstelle Berlin verboten, und zwar auf Betreiben der Reichsbahn. Wie konnte es dazu kommen, wo doch die Reichsbahn alles für das Zustandekommen des Films getan hatte, und noch im Januar Zielkes Budget verdoppelt worden war?

DAS STAHLTIER

Der erste Querschuss kam im März 1935. Die "Reichsvereinigung Deutscher Lichtspielstellen, Kultur- und Werbefilmhersteller e.V.", der innerhalb der Reichsfilmkammer für Kultur- und Dokumentarfilme zuständige Fachverband, schreibt an den Stellvertretenden Generaldirektor der Reichsbahn in Berlin und drückt sein Befremden darüber aus, dass ein so unerfahrener Regisseur wie Zielke, der noch keine "größeren Kulturfilme" abgeliefert habe, mit dem wichtigen Jubiläumsfilm betraut wurde, und dass die Reichsbahn-Filmstelle Berlin (die Mitglied in jener Reichsvereinigung war) nicht in die Herstellung involviert sei. Die Hauptverwaltung der Reichsbahn, die bisher München weitgehend freie Hand gelassen hatte, bekam nun kalte Füße. In einem Spitzengespräch zwischen Berlin und München Ende April wurde entschieden, dass die Reichsbahn-Filmstelle von nun an beteiligt sein soll, und es wurde für den 22. Mai eine Probevorführung des bisher gedrehten Materials angesetzt. Diese wurde jedoch von Zielke wegen technischer Gründe abgesagt. Ob diese Gründe echt oder von Zielke nur vorgeschoben waren, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls bat Zielke, sich zu einem späteren Zeitpunkt den fertigen Film anzusehen.

DAS STAHLTIER

Dazu kam es im Juni in Berlin. Anwesend waren außer Zielke und den Reichsbahn-Oberen auch Leni Riefenstahl und einige weitere Filmleute, darunter Hans Ertl. Der Bergsteiger und Kameramann Ertl war 1932 bei den Dreharbeiten zu S.O.S. EISBERG in Grönland mit Riefenstahl in Berührung gekommen (im wahrsten Sinn des Wortes, denn sie hatten eine kurze Affäre). Später war er einer der wichtigsten Kameramänner bei Riefenstahls zweiteiligem Olympiafilm. Insbesondere filmte er das Turmspringen, den Höhepunkt des ganzen Films. - Die Reaktionen auf die Probevorführung waren zweigeteilt: Die Leute von der Reichsbahn waren entsetzt, Riefenstahl und ihr Anhang waren begeistert. Hans Ertl erinnert sich in seinen 1982 erschienen Memoiren "Meine wilden dreißiger Jahre": "Mit rückhaltloser Bewunderung gratulierten wir Willy Zielke zu diesem Kunstwerk, während der damalige Generaldirektor der Deutschen Reichsbahn, Herr Dr. Julius Dorpmüller, sich stumm erhob, seine Melone aufsetzte und - zusammen mit diversen Reichsbahnräten - kopfschüttelnd den Raum verließ."

DAS STAHLTIER

Und das war es dann - die Reichsbahn-Führung entscheidet, dass der Film "zur Aufführung nicht geeignet" sei. Zielkes Fürsprecher Albert Gollwitzer versucht, durch Änderungsvorschläge zu retten, was noch zu retten ist, aber diese werden sowohl von Berlin als auch von Zielke abgelehnt. Gollwitzer gegenüber wird das Verbot damit begründet, dass bei den historischen Episoden zuviel aus England und zuwenig aus Deutschland behandelt wurde. Aber das ist offensichtlich ein Vorwand, weil ja gerade die historischen Episoden bei der ersten Probevorführung im Dezember 1934 Generaldirektor Dorpmüller gut gefallen hatten. Warum wurde gerade dieser Vorwand gewählt? Martin Loiperdinger vermutet in seinem Artikel über den Film, dass es zur rechtlichen Absicherung geschah. Wenn Zielke gegen das Verbot vorgegangen wäre, hätte die ungenügende Repräsentation deutscher Belange mit Hilfe von Zielkes Vertrag und des Reichslichtspielgesetzes eine (wenn auch an den Haaren herbeigezogene) Handhabe für die Bahn geboten. Auch der zusätzlich genannte Verbotsgrund, dass Zielke für seine Aufnahmen den in Bayern gefertigten Lok-Typ S 3/6 statt der von Berlin favorisierten Baureihe 01 verwendete, ist wenig glaubwürdig. Woran lag es dann? Letztlich erwartete die Reichsbahn trotz der Bekundungen, einen künstlerischen Film zu wollen, einen langen und handwerklich perfekten Werbefilm - und den hat Zielke nicht geliefert. Die Bahn sah den Zuschauer als potenziellen Kunden, der zum Kauf von Bahntickets animiert werden sollte. Aber Zielkes Film vermittelte keine Eindrücke behaglichen und sicheren Reisens - eher im Gegenteil. Die teilweise brachialen Montage-Sequenzen waren geeignet, empfindliche Gemüter in Angst und Schrecken zu versetzen. Das bemerkte auch schon Hans Ertl bei der Probevorführung. "Zugegeben, ein Werbefilm im üblichen Sinn, mit fröhlichen Schaffnern, zufriedenen Gästen im Speisewagen, Postkarten-Fensterblicken auf weidende Kühe, winkende Kinder sowie Fluss- und Gebirgslandschaften war das nicht", schreibt er in seinen Memoiren, und weiter: "Was zuletzt in unnachahmlichen Montagen und Überblendungen von glitzernden Schienenschlangen, fauchenden Dampflokomotiven, gefährlichen Rangiermanövern in einem optisch-akustischen Furioso über die Leinwand donnerte, war Filmkunst in höchster Vollendung. Schweißgebadet erhob sich mancher Zuschauer aus den Tiefen seines Sessels, in den er - Deckung suchend - gerutscht war, wenn ein ›Stahltier‹ nach dem anderen über die zwischen den Schienen eingegrabenen Kameras - und damit gewissermaßen auch über die biederen Kinobesucher - hinwegbrauste." Und Ertl ergänzt als Verbotsbegründung, dass "kein normaler Mensch mehr Eisenbahn fahren würde, der diese zermalmende Wirkung im Wechselspiel von Schienen, Puffern und Dampfsirenen auf der Leinwand erlebt habe." Und das war der Punkt. Letztlich ist Zielke wohl auch daran gescheitert, dass er nicht nur die Absichten seiner Auftraggeber, sondern auch den Rahmen seiner eigenen Freiheiten falsch einschätzte, vielleicht verführt durch die Vorbilder Riefenstahl und Ruttmann, die auch unter den Nazis noch Avantgarde produzieren durften. Aber diese beiden kannten die Wünsche ihrer Auftraggeber genau und bedienten sie auch, im Gegensatz zu Zielke.

DAS STAHLTIER

Leni Riefenstahl wollte das Verbot rückgängig machen lassen und sprach deshalb bei Goebbels vor. In einer Privatvorführung beim Minister, die je nach Quelle im Juli (Stefan Vockrodt) oder erst im Oktober 1935 (Loiperdinger) stattfand, sah sich Goebbels in Anwesenheit Riefenstahls den Film an, aber er fand ihn schlecht und weigerte sich, das Verbot zu revidieren. Goebbels oder sein Ministerium haben den Film also nicht verboten (wie gelegentlich behauptet wurde), er hat nur das Verbot nicht aufgehoben (was er jederzeit gekonnt hätte, weil er gegenüber den Filmbewertungsstellen natürlich weisungsbefugt war). Walter Frentz, in den 30er Jahren einer von Riefenstahls regelmäßig beschäftigten Kameraleuten, und danach sowas wie Hitlers persönlicher Kameramann, hielt im Februar 1938 im Filmseminar einer Berliner Hochschule einen Vortrag über den "filmischen Film", womit weitgehend das gleiche wie mit "absoluter Film" gemeint war, und zeigte - mit einer Sondergenehmigung - die erste und die vierte Rolle von DAS STAHLTIER als Anschauungsmaterial. Dies war wohl die einzige (halb-)öffentliche Vorführung von Teilen des Films im Dritten Reich.

DAS STAHLTIER

Für Zielke war das Verbot natürlich ein Debakel. Er wusste es noch nicht, aber seine Laufbahn als eigenständiger Produzent und Regisseur war damit so gut wie beendet. Um ihm über die Runden zu helfen (und natürlich auch, um sich seine Fähigkeiten zu sichern), verpflichtete ihn Riefenstahl als Kameramann für ihren dritten Parteitagsfilm TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT. Bei TRIUMPH DES WILLENS, dem zweiten und mit Abstand aufwendigsten Parteitagsfilm, war die Wehrmacht zu kurz gekommen. Bei den Aufnahmen hatte es geregnet, und Riefenstahl, die immer auf "schöne Bilder" aus war, ließ diese Sequenzen konsequent weg, sehr zum Verdruß der Wehrmachtsführung. Da Hitler die Wehrmacht für seine Kriegspläne brauchte (u.a. deshalb hatte er 1934 die SA-Führung liquidiert), drängte er Riefenstahl zu einer Lösung. Diese machte den Kompromissvorschlag, einen kurzen dritten Parteitagsfilm zu drehen, der ausschließlich der Wehrmacht gewidmet sein sollte. Hitler, Goebbels und die Generäle waren zufrieden, und so wurde im September 1935 das Material für TAG DER FREIHEIT gedreht. Riefenstahls Arbeitsprinzip bei ihren dokumentarischen Propagandafilmen war es, das Geschehen von möglichst vielen Kameraleuten aus allen möglichen Perspektiven filmen zu lassen und dann aus der Überfülle des Materials einen organisch wirkenden und in den Höhepunkten spektakulären Ablauf zusammenzuschneiden, ohne auf die tatsächliche Chronologie der Ereignisse allzuviel Rücksicht zu nehmen. Bei dieser Arbeitsweise konnte ein begabter Kameramann wie Zielke jederzeit ins Team integriert werden. Es traf sich gut für alle Beteiligten, dass beim Parteitag 1935 erstmals auch ein größeres Manöver stattfand, bei dem die Wehrmacht schon mal Krieg spielen durfte. Die Aufnahmen davon bilden die letzten acht Minuten und den Höhepunkt des 28-minütigen Films. Beispielsweise ließ sich Ertl, der auch mit dabei war, in einem Erdloch mit seiner Kamera eingraben und darin von Panzern überrollen - vielleicht inspiriert von Zielkes zwischen den Schienen vergrabener Kamera. Laut Martin Loiperdinger war Zielke bei TAG DER FREIHEIT nicht nur einer der Kameramänner, sondern er arbeitete gemeinsam mit Peter Kreuder, der auch hier als Komponist engagiert war, an der Nachvertonung des Films. Der Originalton vom Manöver war zu einem unbrauchbaren Soundbrei geronnen, und so wurden Fahrgeräusche, Geschützfeuer etc. nochmal separat aufgenommen und abgemischt.

TAG DER FREIHEIT - UNSERE WEHRMACHT (Aufnahme Hans Ertl)

Zielkes nächster Auftrag kam wieder von Riefenstahl, und er war noch weit bedeutender. Für FEST DER VÖLKER, den ersten Teil des zweiteiligen Olympiafilms, sollte Zielke den Prolog drehen, und zwar nicht nur als Kameramann, sondern auch als Regisseur und Cutter. Vorgegeben war zunächst nur ein grobes Gerüst: Es sollte ein Bogen von der Antike zur Gegenwart gespannt werden, und die Entzündung des olympischen Feuers und der Staffellauf sollte integriert werden. Im Vertrag, den Zielke abschloss, war festgehalten, dass er den Prolog eigenverantwortlich gestalten und zwei verschiedene Schnittfassungen abliefern sollte. Wörtlich hieß es:
Die Arbeit muss am 31. Oktober [1936] vollkommen geschnitten und vertont sein, und zwar in 2 Versionen:
1) Ihre eigene Auffassung auf Grund des vorliegenden Manuskriptes,
2) 1 Version nach Auffassung von Fräulein Riefenstahl.
     (Das Manuskript hierfür wird noch nachgereicht).
Für Ihre Arbeit erhalten Sie eine Pauschale von RM 10.000.-- brutto
Zielke reiste zunächst mit ein paar Technikern im Juni 1936 nach Griechenland und nahm auf der Akropolis in Athen und anderswo antike Tempel und Statuen auf - gemäß der Riefenstahl'schen Arbeitsweise mehr, als er selbst für sinnvoll hielt, aber Zeit und Kosten spielten für Riefenstahl keine Rolle. Nach Zielkes Rückkehr fuhr Riefenstahl mit anderen Kameramännern im Juli selbst nach Griechenland, um in Olympia die Entzündung des Feuers und den Beginn des Fackellaufs zu filmen. Doch was sie da sah und filmen ließ, entsprach nicht ihren Vorstellungen von "schönen Bildern", und sie verwarf das Material. Stattdessen erhielt Zielke den Auftrag, die Ereignisse nachzustellen, und zwar auf der Kurischen Nehrung, einer langgestreckten schmalen Halbinsel an der Ostsee, im damaligen Ostpreußen.

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Zielkes "Operation Ostsee" begann mit einer delikaten Mission. Der Plan für den Prolog sah junge griechische Tempeltänzerinnen vor, die splitternackt um einen Altar tanzen sollten. Zielke besuchte Schulen für Ausdruckstanz und Sportgymnastik, um geeignete Modelle auszuwählen. Für eine derartige Aufgabe war er durchaus prädestiniert, denn wie im ersten Teil schon erwähnt, hatte er sich bereits professionell mit Aktfotografie befasst. Nachdem er die Lehrer von der Seriosität seines Anliegens überzeugt hatte - wobei auch die Tatsache half, dass der geplante Film das besondere Wohlwollen Hitlers und Goebbels' genoss -, kamen von ca. 300 Bewerberinnen, die einzeln nackt vortanzen mussten, 30 in die engere Auswahl, und Zielke machte sich mit ihnen und einigen Sportlern auf zur Ostsee. Die Aufnahmen fanden dann offenbar in ungezwungener Atmosphäre statt. In den Drehpausen machte Zielke auch Aktfotos, und als er 1952 ein kleines Büchlein über Aktfotografie veröffentlichte, nahm er zwei dieser Fotos darin auf, und im Begleittext dazu heißt es:
"Einmal in meinem Leben habe ich mit allen Möglichkeiten der Aktaufnahme spielen können... Wir saßen in einem abgesperrten Revier an der Kurischen Nehrung, allein mit 30 ins Paradies zurückgekehrten Evas, einer unendlichen Stille und den letzten Elchen Europas, um den Prolog zum Olympiade-Film 1936 zu schaffen.
Wir hatten diese Evas aus 300 Sportstudentinnen wählen können, ein prachtvolles Menschenmaterial. Mit Anmut und Grazie führten sie alle Studien, Bewegungen und Übungen vor, die wir brauchten. In den Drehpausen standen, lagen oder liefen sie am Strand und freuten sich ihres jungen Lebens. Es berührte weder uns noch unsere Helfer, daß sie splitterfasernackt waren. Sie auch nicht. Die schöpferische Arbeit hatte uns alle viel zu sehr im Bann."
An anderer Stelle schrieb er: "Nur die sehr anstrengende Arbeit in dem tiefen Sand mit der umständlichen Filmapparatur und die ganze Verantwortung für das Gelingen zahlreicher Kameratricks, lenkte mich von dem erotischen Teil solcher Aufnahmen ab!"

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Auch die übrigen Arbeiten gingen gut vonstatten, beispielsweise die zu einer komplizierten Überblendung, bei der eine antike Statue - ein Diskuswerfer vom Bildhauer Myron - in den Zehnkämpfer Erwin Huber in identischer Körperhaltung übergeht, der daraufhin sozusagen zum Leben erwacht und den Diskus wirft. Im September 1936 - die Olympischen Spiele waren bereits vorbei - besuchte Riefenstahl Zielkes Team und war mit den Ergebnissen sehr zufrieden. Heinz von Jaworsky, seit DAS BLAUE LICHT auch einer von Riefenstahls regelmäßigen Kameramännern, überliefert die Anekdote, Riefenstahl habe sich bei ihrem Besuch selbst nackt unter die Tempeltänzerinnen gemischt. Das wurde später dahingehend aufgebauscht, dass sich Riefenstahl tatsächlich nackt im Prolog sehen wollte, dass Zielke das aber abgelehnt habe, weil er sie zu "vollschlank" fand, und dass es deshalb zum Zerwürfnis zwischen den beiden gekommen sei. Das erscheint aber wenig glaubwürdig. Falls sich die Begebenheit tatsächlich so ereignete, war es wohl kaum mehr als ein übermütiger Scherz von Riefenstahl. In Zielkes eigener Erinnerung ließ Riefenstahl jedenfalls den Badeanzug an: "Und als sie sich kurz vor Beendigung der Aufnahmen am Grabschen Hacken in der Kurischen Nehrung selbst vor die Kamera posierte, sah ich diese Frau das erste Mal im Badetrikot und war enttäuscht. Ihre Figur konnte nicht an meine Modelle heran! Sie war außerdem viel zu vollschlank. So begnügte sie sich mit einer Grossaufnahme ihrer Hände, die den Tanz der Flammen interpretierten, was ihr sehr gut gelang!" Trotzdem war sein Verhältnis zu Riefenstahl nicht unbelastet. Riefenstahl ging mit ihren Mitarbeitern ziemlich fordernd und teilweise sogar rüde um, trotz ihrer Wertschätzung ihrer Fähigkeiten. Die meisten nahmen es gelassen hin, aber Zielke war ein sensibler Charakter, er litt darunter, dass er jetzt ökonomisch von Riefenstahl abhängig war, und er war wohl auch unglücklich in sie verliebt - das schreibt zumindest Hans Ertl in seinen Memoiren. Riefenstahl hatte damals einen recht hohen Männerverschleiß. Auch unter ihren Filmpartnern und Mitarbeitern hatte sie einige Liebhaber, neben Ertl etwa Luis Trenker, Hans Schneeberger und Peter Kreuder. Aber Zielke mit seiner "Falstaff-Figur" (Ertl) kam nicht zum Zug. Ab dem Besuch im September kam es zunehmend zu Unstimmigkeiten über die Gestaltung des Prologs, Zielke fühlte sich von Riefenstahl verfolgt, was diese mit einem mehrfach geäußerten "Du bist ja verrückt!" quittiert haben soll. In seiner späteren Krankenakte aus Haar hieß es: "Über seine psychotischen Inhalte ist vorläufig von anderer Seite nur in Erfahrung zu bringen, daß er seit Sept. 1936 voller Beziehungs- u. Verfolgungsideen steckt, in die er besonders die Filmschauspielerin Leni Riefenstahl einbezieht."

OLYMPIA - FEST DER VÖLKER (Prolog)

Zielke lieferte seine fertig geschnittenen Versionen des Prologs bei Riefenstahl ab, doch die schnitt ihn noch einmal drastisch um. Das war wohl einer der Gründe, die das Fass zum Überlaufen brachten. Im Februar 1937 erlitt Zielke einen Nervenzusammenbruch und wurde in eine Münchner Klinik eingeliefert. Nach einigen weiteren Stationen landete er schließlich in der Heil- und Pflegeanstalt (der früheren "Kreisirrenanstalt") Haar bei München, wurde als "unheilbar schizophren" diagnostiziert und auf Beschluss des Amtsgerichts München im Juni 1937 zwangssterilisiert. Laut Zielkes späteren Bekundungen wurden auch medizinische Versuche an ihm durchgeführt. Auf jeden Fall war er als "unheilbar Geisteskranker" vom Tod bedroht. Aus Haar wurden mindestens 900 Patienten zur "Euthanasie" in andere Lager gebracht und dort ermordet, andere Tötungsaktionen forderten hunderte weitere Opfer. Doch Zielke wurde im August 1942, nach insgesamt fünfeinhalb Jahren in der Psychiatrie, aus Haar befreit. Und zwar ausgerechnet von Leni Riefenstahl, die ihn persönlich dort abholte. Sie konnte ihn dort loseisen, weil sie ihn als Kameramann für TIEFLAND anforderte.

DAS STAHLTIER

Die Dreharbeiten zu TIEFLAND begannen schon Anfang 1940, und der Kameramann war Albert Benitz, der wie Riefenstahl selbst und viele ihrer Kameraleute aus der Schule von Arnold Fanck kam. Aber wegen der vielen und langen Unterbrechungen (wie schon erwähnt, wurde TIEFLAND bis Kriegsende nicht fertig) suchte sich Benitz zwischenzeitlich andere Beschäftigung und unterschrieb einen Vertrag mit der Terra. Riefenstahl holte sich also Zielke als Ersatz oder zumindest Ergänzung für Benitz, aber anscheinend hatten seine Fähigkeiten gelitten, was nicht weiter verwunderlich wäre. Riefenstahl schrieb in ihren 1987 erschienenen "Memoiren", die freilich mit Vorsicht zu genießen sind: "Bemerkenswerterweise beherrschte er die Technik noch einwandfrei, aber die Motive, die er aufnahm, zeigten Symptome seiner Erkrankung - sie waren extrem verfremdet." Ob es wirklich Zielkes Erkrankung oder erst die Folgen seiner "Behandlung" waren, die ihn beeinträchtigten, sei dahingestellt. Jedenfalls trug Zielke sehr wenig, wenn überhaupt etwas, zu TIEFLAND bei. Es gab mit Franz Weihmayr einen weiteren Kameramann, und später hatte Riefenstahl auch wieder Benitz für sich allein. Auf ihre Intervention hin versetzte Reichsfilmintendant Hans Hinkel Benitz von der Terra wieder zu Riefenstahl, wodurch ein bei der Terra geplanter Farbfilm mit Benitz an der Kamera ersatzlos ausfiel. Aus Zielkes Aufzeichnungen geht auch hervor, dass er nicht sofort bei TIEFLAND eingesetzt wurde, sondern zunächst mal eine Reise mit seiner späteren zweiten Frau Ilse unternahm. Vielleicht war es von vornherein Riefenstahls Hauptabsicht, Zielke aus den Fängen der Psychiatrie zu retten, und sie benötigte ihn nicht unbedingt für TIEFLAND. Sie hätte wohl auch einen anderen ihrer Kameraleute wie Frentz, Ertl oder Guzzi Lantschner anfordern können, die zu der Zeit meist als Kriegsberichterstatter tätig waren. Solche Personalanforderungen Riefenstahls wurden fast immer erfüllt. Auf jeden Fall wusste sie genau, was Zielke in der Psychiatrie drohte, und sie scheint sich echte Sorgen um ihn gemacht zu haben. Das geht aus den Erinnerungen von Bernhard Grzimek hervor. In TIEFLAND wird ein Wolf von einem Schäfer erwürgt, und zu den Dreharbeiten dazu, die 1942 in den Dolomiten stattfanden, engagierte Riefenstahl den Zoologen und späteren Fernsehmoderator samt einem von ihm gezähmten Wolf. In den Drehpausen unterhielten sie sich auch über das Thema "Euthanasie" und Zwangssterilisation. Grzimek schreibt in seinen 1974 erschienenen Memoiren "Auf den Mensch gekommen: Erfahrungen mit Leuten": "Leni Riefenstahl war zum Beispiel durchaus gegen die Tötung von unheilbar Geisteskranken, die damals von den Nazis eingeführt wurde. Ich entsinne mich, daß sie einen überaus begabten Regisseur kannte, dessen Geist gestört war, und von dem sie immer hoffte, er werde noch einmal genesen oder in lichten Augenblicken künstlerisch Ungewöhnliches schaffen."

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Zielke sah Riefenstahls Rolle nach 1945 (und wohl auch schon 1942, vielleicht sogar schon 1937) jedoch ganz anders. In seinem Nachlass fand sich ein undatierter Text (laut Lutz Kinkels Riefenstahl-Biographie ist er vermutlich in den 70er Jahren entstanden) mit dem Titel "Kurze Beschreibung meiner Freiheitsberaubung im Dritten Reich". Darin schreibt Zielke: "Erst nach Jahren konnte ich die wahre Ursache meiner Freiheitsberaubung feststellen! Es war Frau Leni Riefenstahl! Diese Frau war meine Feindin! Sie engagierte mich 1935 mit der ganz nüchternen Berechnung: einen Todgeweihten für ihre ehrgeizigen Filmpläne völlig - bis zur Selbstaufgabe - zu gewinnen und dienstbar zu machen! Für diese "Filmpolitik" engagierte sie außer einem Stab junger Athleten aus den Kreisen weltbekannter Skiläufer und Bergsteiger, auch kriegsgefangene Russen und sogar Zigeuner aus dem Vernichtungslager. Nach Ablieferung des fertigen "Prologs" war ich dieser Frau im Wege! Da sie maßlos eitel und krankhaft ehrgeizig war, wollte sie nur allein glänzen, bewundert werden und als die einmalige Erscheinung im gesamten Deutschen Filmwesen gelten. Deshalb passte es ihr nicht, dass sie den Verdienst an diesem Film mit einem Zielke teilen sollte. Ihre Mitarbeiter waren nur Handlanger, Palladine und Kuli!" Seine Einlieferung im Februar 1937 schilderte Zielke als regelrechte Entführung, und nach seiner Freilassung 1942 fühlte er sich von Riefenstahl kontrolliert und manipuliert.

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Das war starker Tobak. Was ist davon zu halten? Die Charaktereigenschaften, die Zielke Leni Riefenstahl zuschreibt - maßloser Ehrgeiz und Geltungssucht -, sind gut belegt. In den Credits des Olympiafilms, wie man ihn heute auf DVD bekommt, wird außer Riefenstahl selbst nur Komponist Herbert Windt namentlich genannt - Zielke kommt nicht vor. Möglicherweise schwante ihm das bereits Anfang 1937, und er wollte dagegen vorgehen, denn im Januar ließ er seinen mit Riefenstahl geschlossenen Vertrag durch einen Notar beglaubigen. Seine Einlieferung im Februar verhinderte weitere Schritte, falls er sie denn vorgehabt hatte. Aufschlussreich ist auch die Geschichte der Credits von DAS BLAUE LICHT. Riefenstahls erste Regiearbeit war ein Gemeinschaftswerk. Riefenstahl, der ungarische Filmtheoretiker und Drehbuchautor Béla Balázs und Carl Mayer, der wichtigste Filmautor der Weimarer Republik, schrieben das Drehbuch (wobei Mayers Anteil ziemlich unklar ist), Riefenstahl und Kameramann Hans Schneeberger erprobten gemeinsam innovative Techniken, insbesondere den Einsatz von Infrarot-Filmmaterial in Verbindung mit diversen Filtern (die Anregung dazu kam laut Hanno Loewy von Balázs), bei Riefenstahls Szenen als Darstellerin übernahm Balázs die Co-Regie, den Schnitt übernahmen Riefenstahl und ihr Lehrmeister Arnold Fanck, der Hauptteil der Finanzierung kam von dem Bankkaufmann Henry R. Sokal (auch als Harry Sokal bekannt). Als der Film im März 1932 ins Kino kam, hieß es in den Credits noch "Eine Berglegende aus den Dolomiten. Nacherzählt in Bildern von Leni Riefenstahl, Béla Balázs, Hans Schneeberger", und "hergestellt vom Leni Riefenstahl-Studio der H.R. Sokal-Film". Fanck und Mayer fehlten bereits. Als es 1938 im Gefolge der Olympiafilme zur erneuten Kino-Auswertung kam, hieß es "Eine Berglegende, erzählt und ins Bild gesetzt von Leni Riefenstahl". Balázs und Produzent Sokal (beide Juden, und Balázs obendrein Kommunist) fehlten jetzt natürlich, aber auch der durchaus "arische" Schneeberger musste hinter Riefenstahls Ego zurücktreten. 1952 kam eine leicht gekürzte und bearbeitete Fassung in die Kinos der Bundesrepublik, und jetzt erfuhr man: "Leni Riefenstahl Produktion zeigt: DAS BLAUE LICHT / Eine Berglegende von Leni Riefenstahl / Mitarbeit am Drehbuch: Béla Balázs / Buch Regie Bildgestaltung Leni Riefenstahl". Balázs ist also wieder drin (im Gegensatz zu Sokal), aber nur mit einem Trostpreis. (Übrigens befinden sich auf der Arthaus-DVD des Films sowohl die längere als auch die etwas kürzere Fassung, und erstere wird ausdrücklich als "Premierenfassung" beworben. Diese enthält jedoch nicht die originalen Credits, sondern die von 1952, nur das "Leni Riefenstahl Produktion zeigt:" wurde weggelassen. Es ist ein Ärgernis, um nicht zu sagen ein Skandal, dass Arthaus die Riefenstahl'sche Geschichtsklitterung noch posthum unterstützt.) À propos "Berglegende": Riefenstahl hat im Lauf der Jahrzehnte diverse Versionen davon verbreitet, wo der Stoff für DAS BLAUE LICHT hergekommen sein soll. Mal war es die besagte "Legende", mal kam es als Eingebung oder Vision über sie. In Wirklichkeit beruhte die Handlung auf der 1930 erschienenen Novelle "Bergkristall" des österreichisch-schweizerischen Schriftstellers Gustav Renker, der ihr von Fanck empfohlen worden war. Natürlich kommt auch Renker in keiner Version der Credits vor.

DAS BLAUE LICHT - Endpunkt einer Metamorphose

Da Riefenstahl bei der Produktion von DAS BLAUE LICHT ihren Beitrag zum Budget nur mit Mühe aufbringen konnte, hatte Balázs seine Honorarforderung zunächst zurückgestellt. Als der Film dann Geld einspielte, wollte Riefenstahl trotzdem nicht zahlen. Ende 1933 strengte Balázs einen Prozess an, doch Riefenstahl holte sich Hilfe bei ihren neuen Freunden. Ihr damals engster Vertrauter in der Nazi-Prominenz neben Hitler war Julius Streicher, Gauleiter von Franken und Herausgeber des Hetzblattes "Der Stürmer", selbst für Nazi-Verhältnisse ein besonders wüster Antisemit. Am 11. Dezember schrieb Riefenstahl einen handschriftlichen Brief an Streicher mit folgendem kurzen Inhalt: "Ich erteile Herrn Gauleiter Julius Streicher aus Nürnberg - Herausgeber des "Stürmer" Vollmacht in Sachen der Forderung des Juden Bela Balacs [sic] an mich. Leni Riefenstahl". Natürlich hatte Balázs keine Chance mehr, an sein Geld zu kommen. Auch nach dem Krieg sah der 1949 Verstorbene nichts davon. Dass Riefenstahl ziemlich unangenehm werden konnte, zeigt auch der Fall Schünemann. Als Riefenstahl 1934 ihre Kameramänner für TRIUMPH DES WILLENS zusammensuchte, forderte sie auch Emil Schünemann zur Mitarbeit auf, doch der lehnte telefonisch mit der Begründung, der Auftrag sei unter seiner Würde, ab. Darauf schwärzte ihn Riefenstahl in einem Brief an Carl Auen, den Leiter der Reichsfachschaft Film innerhalb der Reichsfilmkammer, an. Von Auen zur Stellungnahme aufgefordert, redete Schünemann sich damit heraus, es sei generell unter seiner Würde, unter einer Frau zu arbeiten. Damit ließ es Auen bewenden, aber Riefenstahl kartete in einem zweiten Brief an Auen nach: "[...] aber das ändert nichts an der Tatsache, dass diese Äusserung von Herrn Schünemann ein Boykott gegen den Führer ist. [...] Wenn der Führer es nicht unter seiner Würde findet, mich mit der künstlerischen Oberleitung dieser Arbeit zu betrauen, so ist es zumindest eigenartig, wenn Herr Schünemann es unter seiner Würde findet, dies anzuerkennen. [...] Aus diesem Grunde habe ich es notwendig gefunden, Ihnen dies mitzuteilen." Anfang 1949 veröffentlichte Die Welt die beiden Briefe Riefenstahls, und Schünemann antwortete in einem Leserbrief mit der Überschrift "Flucht vor Leni". Darin schreibt er, "[...] Da für mich daraufhin sehr dicke Luft war, habe ich auf Veranlassung des Herrn Alberti, der damals Leiter der Kulturabteilung und Vorgesetzter des Herrn Auen war, die Angelegenheit dahin abgeändert, daß es unter meiner Würde sei, unter Leni Riefenstahl zu arbeiten [Schünemann hatte in mindestens einem Film mit dem früheren Schauspieler Fritz Alberti zusammengearbeitet]. [...] Mich hätte sie seinerzeit gern der Gestapo ausgeliefert, wenn Herr Alberti mich nicht gedeckt hätte."

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Aber wie steht es mit dem "Fall Zielke"? Hat Riefenstahl ihn wirklich in die Psychiatrie einweisen lassen? Das ist eher unwahrscheinlich. Sie besaß die besondere Protektion Hitlers und gute Beziehungen zu weiteren Nazi-Bonzen wie Streicher, Albert Speer und Martin Bormann. Ihre Manipulationen mit den Credits konnte sie gefahrlos durchführen, ohne jemanden ins Irrenhaus stecken zu müssen - spätestens seit TRIUMPH DES WILLENS war sie für jemanden wie Zielke juristisch unangreifbar. Seine Krankenakte ist zu unergiebig, um die Diagnose "Schizophrenie" zu belegen, aber Zielkes Verhalten legt den Verdacht nahe, dass er zumindest zeitweise an irgendeiner Form von Verfolgungswahn litt. Und im Anhang von Lutz Kinkels Riefenstahl-Biographie werden zwei Briefe erwähnt, die Zielkes erste Frau Elfriede 1937 und 1938 an Walter Traut, den Produktionsleiter von Riefenstahls Olympia-Film GmbH, bzw. einen "Carl Froehlich" (ich nehme an, Kinkel meint den Regisseur und Filmfunktionär Carl Froelich) schrieb, aus denen zweifelsfrei hervorgehen soll, dass Riefenstahl Zielkes Einweisung nicht veranlasst hat. Leider kenne ich den konkreten Inhalt dieser Briefe nicht, aber da Kinkel in seinem Buch insgesamt sehr kritisch mit Riefenstahl umgeht, darf man davon ausgehen, dass er sie in diesem Punkt nicht leichtfertig freispricht.

DAS STAHLTIER

Zielke hat sich körperlich nie vollständig von seiner Zeit in der Psychiatrie erholt. Nach dem Krieg stellte er einen Antrag auf Entschädigung für die Zwangssterilisation, der jedoch abgelehnt wurde, weil die Sterilisation nach dem damals geltenden Recht legal gewesen sei. Er arbeitete u.a. als Übersetzer für Russisch in den Filmstudios Babelsberg, 1952 veröffentlichte er das Büchlein über Aktfotografie mit dem Titel nakt, das antiquarisch noch zu haben ist. In den 50er Jahren konnte er wieder einige meist kurze Dokumentationen drehen. In VERZAUBERTER NIEDERRHEIN (1953) und VERLORENE FREIHEIT (1956) gibt es "weich gezeichnete Traumbilder und bedeutungsvolle Landschaften" (Gesine Haseloff) zu sehen, dann folgen mit SCHÖPFUNG OHNE ENDE (1956, nur Kamera) und ALUMINIUM - PORTRÄT EINES METALLES (1957) zwei Industriefilme. Für SCHÖPFUNG OHNE ENDE gewinnt Zielke 1957 beim Deutschen Filmpreis ein Filmband in Silber für die beste Farbfilmkameraführung, allerdings nicht er allein, sondern als Mitglied eines Teams von fünf Kameramännern, die diesen Film im Auftrag der chemischen Industrie filmten. Bei allen Nachkriegsfilmen Zielkes stammte die Musik von Oskar Sala, der mit seinem Mixturtrautonium auch den Soundtrack zu Hitchcocks DIE VÖGEL lieferte. Nachdem in den frühen 50er Jahren eine vollständige Kopie von DAS STAHLTIER in der Cinémathèque Française auftauchte und nach Deutschland gelangte, machte sich die Deutsche Bundesbahn an die Veröffentlichung. Doch die Bundesbahn als Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn schien auch deren Bedenken geerbt zu haben. Der bei der Bahn versammelte Filmfachverstand entschied, dass DAS STAHLTIER in der vorliegenden Form nicht zur Veröffentlichung geeignet sei, und Zielke wurde gedrängt, den Film zu kürzen. So kam 1954 nur eine verstümmelte 43-minütige Version in die Kinos. Nur gelegentlich bekam ausgewähltes Publikum die Langfassung zu sehen. Erst 1985 wurde der vollständige Film in einigen Dritten Programmen im Fernsehen gezeigt, nachdem der Bayerische Rundfunk schon 1982 ein Portrait Zielkes ausstrahlte, in dem er selbst auftrat, das jedoch nur die Zeit bis Anfang 1937 behandelte. Ein übermäßiges Medienecho scheinen diese Sendungen nicht hervorgerufen zu haben, ich konnte jedenfalls nichts darüber finden. In seinen späten Jahren wurde der frühe Zielke als Fotograf wiederentdeckt. Es gab Ausstellungen seiner Werke aus den 20er Jahren, auch im Ausland, und in Frankreich wurde ihm dafür sogar eine Medaille zugesprochen. Zielke starb 1989 in Bad Pyrmont. Zwei Jahre zuvor hatte er von der Bundesrepublik doch noch eine Entschädigung für die Zwangssterilisation in Höhe von 5000 DM erhalten.

DAS STAHLTIER

Im März 2010 sendete das 3. Programm des WDR eine Folge der Serie "Vorfahren gesucht", in der sich Ann-Kathrin Kramer mit Hilfe eines Ahnenforschers auf die Spuren ihres Großonkels Willy Zielke begibt, den sie nicht persönlich kannte, und von dem sie bis dahin fast nichts wusste. Zwar werden manche etwa schon aus Kinkels Buch bekannte Tatsachen als neu präsentiert, und Riefenstahl entlastende Dokumente wie die Briefe von Elfriede Zielke werden nicht erwähnt, trotzdem ist die Sendung seriös gemacht, und Kramer agiert nachdenklich und zurückhaltend. Das plakative Zitat, das ihr von Bild am Sonntag in den Mund gelegt wurde, fällt im Film nicht. Als Reaktion auf den Film gab es einige Presseberichte, neben dem in Bild am Sonntag auch seriösere wie diesen in der Berliner Zeitung. Im Juni 2010 gab es im 3sat-Magazin "Kulturzeit" einen Beitrag über Zielke; im März und April 2011 griff eine Ausstellung in München, die sich der unrühmlichen Vergangenheit der Psychiatrischen Klinik Haar widmete, Zielkes Schicksal exemplarisch heraus, und in Verbindung damit wurden ARBEITSLOS. DAS SCHICKSAL VON MILLIONEN und DAS STAHLTIER im Münchner Filmmuseum gezeigt. Es hat sich also etwas getan - aber der Obskurität entrissen, etwa im Vergleich zu Walter Ruttmann, ist Zielke noch lange nicht.


Quellen:

Martin Loiperdinger: Die Geschichte vom "Stahltier". Willy Zielke und die Reichsbahn (filmwärts, 2/1994, S. 50-55), online als PDF hier abrufbar

Stefan Vockrodt: Bewegung! Der Dampflokfilm schlechthin? Willy Zielkes "Das Stahltier" war und ist umstritten - aber zweifellos ein Höhepunkt der Avantgarde (Eisenbahn Geschichte 42, Okt./Nov. 2010, S. 70-76)

Hans-Jürgen Tast: Das Stahltier. Die Bahn im Schatten deutscher Geschichte (Philatelie 398, Aug. 2010, S. 31-34)

Hanno Loewy: Das Menschenbild des fanatischen Fatalisten oder: Leni Riefenstahl, Béla Balázs und DAS BLAUE LICHT (Universität Konstanz 1999), online hier abrufbar

Kurzbiographie Zielkes auf film-zeit.de von Gesine Haseloff

Lutz Kinkel: Die Scheinwerferin. Leni Riefenstahl und das "Dritte Reich" (Europa Verlag, 2002)

Rainer Rother: Leni Riefenstahl. Die Verführung des Talents (Henschel Verlag, 2000, als Taschenbuch Heyne Verlag, 2003)

Zielkes Nachlass (darunter Produktionsfotos von DAS STAHLTIER) wird im Filmmuseum Potsdam aufbewahrt. Wenn man Zielkes Texte lesen will, muss man leider persönlich dort hinfahren.