Dienstag, 14. Februar 2012

Das Filmtext-Register

Vor einiger Zeit, liebe Mit-Bloggerin, lieber Mit-Blogger, lenkte ich eure Aufmerksamkeit auf die OFDb als ideale Eintragsmöglichkeit für  Besprechungen. Heute möchte ich - einem Versprechen nachkommend -  auch auf das Filmtext-Register hinweisen.

bekay, der Admin von filmforen.de, ist nicht nur Bändiger der Möchtegern-Film-Intelligenzija und anderer staatsgefährdender Gruppen; er bastelt auch tagtäglich an Layouts und Dingen herum, die das Forum ergänzen (möglicherweise züchtet er sogar Viren und Trojaner).  Sein Filmtext-Register sollte ursprünglich den Mitgliedern des Forums die Einträge ihrer - oft durchaus lesenswerten - Filmtagebücher ermöglichen. Mittlerweile erkennen zunehmend Blogger und Online-Magazine mit Filmkritiken den Wert dieses Registers: Man kann sicher nicht jede Menge Klicks von dort erwarten, darf jedoch - wie ich belehrt wurde - dank diverser Einrichtungen, über die die OFDb nicht verfügt, nach Herzenslust darin stöbern und wühlen.

Der Nachteil: Wer seine Besprechungen im Filmtext-Register eintragen will, muss vorher Mitglied bei filmforen.de werden, über deren Qualität sich wie über die aller Foren streiten lässt. Dass ich unterhalb unserer Blogroll auf sie hinweise, liegt nicht zuletzt an Usern wie Splatter-Fanatic, Settembrini, Tommy The Cat, Gerngucker und weiteren (ich beschränke mich auf die Nennung einiger Leute, die nicht anderweitig bei uns auftauchen), die die Möglichkeit nutzen, ihr Filmtagebuch als Blog innerhalb des Forums anzulegen. Ihre Beiträge sind nicht weniger spannend als die der Blogosphäre, mit der wir vertraut sind. Sie verdienen es, zur Kenntnis genommen und von Mitgliedern mit gelegentlichen Kommentaren gewürdigt zu werden. - Abgesehen davon kann man nach seiner Registrierung auch einfach das Register nutzen und das Forum  nicht zur Kenntnis nehmen - oder sich auf die wenigen weiterführenden Bereiche beschränken, die etwa von Phibes und Nemo abgedeckt werden.

Das Filmtext-Register ist lohnenswert, vor allem aber selbsterklärend - und das ist erstaunlich, drückt bekay doch kopulationswilligen Damen seine berüchtigte 78 Seiten umfassende Anleitung in die Hand, ohne dass es sich lohnen würde. Ich habe dort (im Register, natürlich) jetzt meine hundert Titel hinterlegt und gedenke es weiterhin zu nutzen.  Bloggern, die die zwei, drei zusätzlichen Minuten für einen Eintrag ihrer Besprechung in Kauf zu nehmen bereit sind, sei hier ebenfalls das Filmtext-Register ans Herz gelegt. Warum nicht zu einem derartigen Projekt mit Zukunft beitragen?

Mittwoch, 8. Februar 2012

Vom Fließen und Stehen der Zeit: LEBEWOHL, ARCHE

LEBEWOHL, ARCHE (SARABA HAKOBUNE, engl. FAREWELL TO THE ARK)
Japan 1984
Regie: Shūji Terayama
Darsteller: Tsutomu Yamazaki (Sutekichi Tokito), Mayumi Ogawa (Sue Tokito), Yoshio Harada (Daisaki Tokito), Yōko Takahashi (Temari), Keiko Niitaka (Tsubana), Renji Ishibashi (Yonetaro Tokito), Hitomi Takahashi (Chigusa)
Alle Namen sind in der westlichen Reihenfolge Vorname - Familienname angegeben (im Japanischen ist es bekanntlich umgekehrt)


Ein alter Mann und ein Junge erscheinen mit einem Handkarren an einem einsamen Strand. Der Karren ist voll von altmodisch aussehenden Wanduhren, die, wie man wenig später erfährt, im nahen Dorf gestohlen wurden. Der Alte hebt im Sand ein Loch aus, und der Junge wirft die Uhren hinein. "Jetzt", sagt der Alte nach getaner Arbeit, "bist Du der einzige im Dorf, der eine Uhr besitzt". Was er damit eigentlich sagt: Jetzt bist Du im Dorf der alleinige Herrscher über die Zeit.

Prolog: Uhren werden verbuddelt
Shūji Terayamas letzter Film ist eine freie Bearbeitung von Motiven aus Gabriel García Márquez' nobelpreisgekröntem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit". Zugleich ist er so etwas wie sein Vermächtnis. Terayama, der seit seinen jungen Jahren an einer chronischen Nierenkrankheit litt, starb 1983 mit 47 Jahren, der Film erschien 1984 posthum. Bei den Dreharbeiten war Terayama schon schwer angeschlagen, und er wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Es ist ein gemäßigter, ein gereifter Terayama, der uns hier entgegentritt. Es fehlt der ungestüme Impetus von WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE (1971), es gibt keine kühne Wendung, die einem vor Verblüffung den Mund offen stehen lässt wie in PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY (aka PASTORAL HIDE AND SEEK, 1974), es gibt auch weniger Nacktheit als in Terayamas früheren Filmen. Aber eine Reihe von Themen, Motiven und Stilmitteln aus den früheren Werken tritt wieder in Erscheinung, und vor allem gibt es noch einmal atemberaubend schöne Bilder zu sehen. Die weit überwiegende Zahl der Szenen ist in leuchtenden, gesättigten und bisweilen auch unwirklichen Farben gehalten, wie es auch schon in PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY und in GRASS LABYRINTH (1979/83) der Fall war.

Sutekichi (l.o.), Sue, Daisaki, die Greisin
Schauplatz der Handlung ist ein abgelegenes, rückständiges Dorf in der Nähe der Küste, der üppigen, fast subtropischen Vegetation nach im südlichen Japan (tatsächlich wurde der Film auf Okinawa gedreht), die Zeit ist das frühe 20. Jahrhundert, vielleicht die 1920er Jahre. Seit dem Prolog am Strand sind Jahre vergangen, der Junge, Daisaki Tokito, ist jetzt ein junger Mann, und in seinem Haus hängt immer noch die einzige Uhr in der Gegend. Im Dorf wohnt auch das Paar Sutekichi und Sue ("Suë" gesprochen). Sie heißen ebenfalls Tokito, und überhaupt scheinen viele im Dorf irgendwie miteinander verwandt zu sein. Sutekichi und Sue sind Cousin und Cousine, und aufgrund ihrer engen Verwandtschaft gilt ihre Ehe als anrüchig, wenn auch noch geduldet. Im Dorf reisst man Witze über die Mißgeburten, die aus der Verbindung hervorgehen könnten. Doch Sutekichi und Sue haben ein noch gravierenderes Problem. Sue wurde von ihrem inzwischen toten Vater ein Keuschheitsgürtel verpasst, der nun nicht mehr abgeht. Weder der Dorfschmied noch magisch-religiöse Rituale können helfen, und Sutekichi hat unter zusätzlichem Spott zu leiden, obwohl er überhaupt nichts für die Situation kann. Als bei einem Hahnenkampf im Dorf Sutekichis Hahn gegen den favorisierten von Daisaki gewinnt, reagiert sich letzterer ab, indem er Sutekichi wieder einmal verhöhnt. Da dreht dieser durch und ersticht Daisaki in rasendem Zorn.

Hahnenkampf
Überstürzt packen Sutekichi und Sue ihre Sachen auf einen Karren und verlassen das Dorf. Als sie nach dreitägiger Flucht nächtens auf eine leere Hütte stoßen, machen sie erschöpft Rast. Doch am nächsten Morgen müssen sie bestürzt feststellen, dass sie in ihrem eigenen Dorf, in der eigenen Hütte gelandet sind. Sie machen nun keinen Fluchtversuch mehr, doch es scheint sich auch niemand für den Totschlag zu interessieren. Plötzlich sitzt Sutekichi Daisaki gegenüber, der immer noch ständig blutet, aber sonst quicklebendig erscheint. Doch Sue kann außer Sutekichi niemand erkennen. Daisaki spricht Sutekichi an, und der antwortet - doch aus Sues Sicht führt er nur sinnlose Selbstgespräche. Existiert Daisaki nur in Sutekichis Einbildung? Oder handelt es sich um Daisakis Geist, der nur dem Mörder erscheint? Die Interpretation bleibt, wie vieles in dem Film, dem Zuschauer überlassen.

Nächtliche Flucht
Denn auch sonst gehen merkwürdige Dinge vor. Das reicht von einem Herdfeuer, das nicht ausgehen will, obwohl Sue reichlich Wasser darüber gießt, über eine Art von Exorzismus, den ein Priester an einer gelähmten Verwandten von Daisaki ausführt, bis zu einem Loch, das eines Tages ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund auf der Dorfstraße erscheint. Zunächst ist es eng, vielleicht einen halben Meter weit, aber schon unergründlich tief. Doch jedesmal, wenn der Film zum Loch zurückkehrt, hat es sich geweitet, bis es am Ende einen Durchmesser von mehreren Metern hat. Die Dorfbewohner spekulieren, dass es sich um einen Zugang zum Totenreich handelt, und schreiben Briefe an die Verstorbenen, mit denen der Postbote hinabgelassen wird. Doch wird er wirklich hinabgelassen? Es sieht aus, als fahre er in einem unsichtbaren Paternoster hinab in die Unterwelt. Auch einige der Dorfbewohner geben Rätsel auf. Da ist beispielsweise eine uralte Frau, die offenbar zu Daisakis Familie gehört, und die immer nur schweigend dasitzt. Sie tut nichts, sie sagt nichts, sie scheint nicht einmal ihre Umgebung zu beobachten - sie sitzt nur da. Umso aktiver ist ein alter Mann, anscheinend derselbe, der anfangs die Uhren vergrub - man kann es aber schlecht erkennen, weil er nun ein merkwürdiges weißes Gewand mit einem breitkrempigen Hut trägt. Er taucht immer wieder unvermittelt auf, manchmal mit seinem Karren, und obwohl er selten aktiv in die Handlung eingreift, scheint er irgendeinen Einfluss auszuüben. So ist er beim verhängnisvollen Hahnenkampf ebenso anwesend, wie auf Sues und Sutekichis nächtlicher Flucht, und als der Briefträger ins Loch hinabfährt ebenfalls.

Der Mann in Weiß
Ein rätselhaftes Wesen ist auch das Mädchen Chigusa, das allein in der Nähe des Dorfes im Wald lebt. Sie besitzt eine Art Doppelnatur: Einerseits scheint sie ein normales Mädchen zu sein, das nur aus irgendwelchen Gründen abseits der Dorfgemeinschaft lebt - so wird sie etwa einmal beim Aufhängen von Wäsche zum Trocknen gezeigt -, und dann wieder wird sie als eine Art Elfe oder Waldnymphe gezeigt, zu deren Mythologie es gehört, dass jeder, der sie nackt sieht, sofort stirbt. Zwei junge Männer stellen ihr nach, und tatsächlich ereilt einen der beiden bald das Schicksal. Daisaki begegnet ihr ebenfalls, doch der lacht bei ihrer Warnung vor einer Annäherung nur - er ist ja bereits tot. Die Szenen, in denen Chigusa als übernatürliches Wesen erscheint, sind monochrom grün viragiert, wobei es gelegentlich an einigen Stellen im Bild kleine Farbtupfer in anderen Farben gibt. (Terayama benutzte derartige Stilmittel auch schon in WERFT DIE BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE, in PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY und in einigen seiner Kurzfilme.) Ist die übernatürliche Chigusa nur eine Einbildung von Sutekichi, wie bei ihrem ersten Auftreten vielleicht nahegelegt wird? Auch hier bleibt vieles offen und der Fantasie des Zusehers überlassen.

Chigusa
Ein Zirkus mit Gauklern und Artisten bringt Abwechslung ins Dorf. (Auch das gab es schon in PASTORAL, dort mit noch merkwürdigeren Gestalten als in LEBEWOHL, ARCHE). Weitere Neuankömmlinge sind eine fremde Frau, Tsubana, mit ihrem kleinen Sohn. Sie führt in einer Urne die Asche ihres Vaters mit sich, der in seinem Testament den Wunsch geäußert hatte, im Familiengrab der Tokitos (Daisakis Zweig) beigesetzt zu werden, obwohl ihn dort niemand kannte. Weder Tsubana noch Daisakis Familie haben eine Erklärung für diesen seltsamen Wunsch, doch Tsubana wird zunächst einmal bei den Tokitos aufgenommen.

Links oben nochmal Chigusa; Tsubana und Dai
Sutekichi verändert sich seit dem Ende seiner Flucht zusehends. Er unterhält sich nicht nur immer wieder mit Daisaki, den sonst niemand wahrnimmt, er vergisst auch Namen und Bedeutung der alltäglichen Dinge seiner Umgebung. Deshalb schreibt er die Bezeichnungen auf Zettel, die er am jeweiligen Objekt anheftet. Bald gibt es ganze Girlanden von aneinandergehefteten beschrifteten Zetteln, und schließlich bekommt auch Sue einen umgehängt: "Sue - meine Frau". Bald darauf taucht wieder einmal der alte Mann auf, und diesmal führt er auf seinem Karren Uhren mit sich - offenbar dieselben, die einst vergraben und nun wieder ausgegraben wurden. "Wenn man eine Uhr hat", erklärt er Sutekichi, "kann jeder die Sonne auf- und untergehen lassen". Er dreht am Zeiger einer der Uhren - und schon geht tatsächlich die Sonne unter. Überzeugt, kauft Sutekichi eine der Uhren.

Girlanden von Merkzetteln
Unterdessen hat Tsubana die Initiative ergriffen und die Urne eigenmächtig im Familiengrab der Tokitos beigesetzt. Am nächsten Tag fällt ihr junger Sohn Dai versehentlich ins inzwischen riesige Loch - und steigt Sekunden später als junger Mann wieder heraus. Dai, nun ebenfalls Daisaki genannt, ist jetzt ein viriler Muskelprotz, aber charakterlich ist er nicht gereift. Er stellt aggressiv den jungen Frauen im Dorf nach, und schließlich vergewaltigt er sogar Temari, die schwangere Witwe des ersten Daisaki.

Sue und Sutekichi
Sutekichi stößt mit seiner neuen Uhr auf wenig Gegenliebe. Die meisten der Dörfler sind der Meinung, es dürfe im Dorf nur eine Uhr geben, damit keine Verwirrung über die richtige Zeit entstehen könne (dieses Motiv kam ebenfalls bereits in PASTORAL vor). Ein mit Knüppeln bewaffneter Trupp macht sich zu Sutekichi auf und fordert die Herausgabe der Uhr. Als er sich weigert, wird sein Anwesen gestürmt und Sutekichi im Handgemenge erschlagen. Im Augenblick seines Todes verschwindet Daisaki vor seinen Augen. In der folgenden Nacht findet auf dem Dorfplatz ein spektakuläres, archaisch anmutendes Tanzritual statt, von Fackeln erleuchtet und von dumpfen Trommeln begleitet - vielleicht eine Art Totenfeier für Sutekichi. Oder sind es die Geister selbst, die hier erscheinen? Am nächsten Morgen löst sich wie von selbst Sues Keuschheitsgürtel. Wurde es durch das nächtliche Ritual bewirkt? Oder ist es einfach nur eine grimmige Ironie, deren tieferen Sinn niemand kennt, dass jetzt, nach Sutekichis Tod, das Ding abfällt? Wieder bleibt viel Raum für Interpretation und Spekulation.

Ein nächtliches Tanzritual
Der Sturm auf die Uhr war nicht von Erfolg gekrönt - im Gegenteil. Nicht nur hängt Sutekichis Uhr trotz seines Todes immer noch in seiner demolierten Hütte, jetzt kauft auch noch Tsubana eine ganze Reihe Uhren und hängt sie alle in der Wohnung der Tokitos auf, bei denen sie nach wie vor lebt. Bald gibt es in jedem Raum welche, insgesamt dutzende (und wiederum gab es dieses Motiv bereits in PASTORAL). In der letzten halben Stunde des Films halten einige moderne Neuerungen Einzug im Dorf. Es gibt ein erstes Radio, eine elektrische Straßenbeleuchtung wird installiert, und ein erstes Automobil erscheint im Dorf. Es gehört Yonetaro Tokito, einem Verwandten von Daisaki, dem er einst seine Ersparnisse stahl und damit in die Stadt entschwand. Doch nicht das Auto, sondern ein anderes seiner Besitztümer erregt die meiste Aufmerksamkeit: Eine Taschenuhr. Wenn man die Zeit immer mit sich herumtragen kann, dann ist ein neues Kapitel der Herrschaft des Menschen über die Zeit eröffnet. Auch der Alte im weißen Gewand bringt eine Neuheit mit: Einen Fotoapparat - eines jener klobigen Ungetüme mit riesigen Fotoplatten. Damit fotografiert er Tsubana mit dem zweiten Daisaki vor einem theatralisch gemalten Hintergrundbild, und sie bemerkt dabei "ein Foto wird geschossen, eine Seele ist verloren". Und dazu sagt eine Stimme aus dem Off, dass im Dorf nur dieses eine Foto aufgenommen wurde, und als Vorgriff auf den Schluss wird kurz die moderne Stadt gezeigt, in der jetzt die Nachfahren der Dorfbewohner leben. Wer dieser plötzlich auftauchende Erzähler aus der Gegenwart ist, erfährt man nicht. Vielleicht Temaris noch ungeborenes Kind? Wieder bleibt Gelegenheit zur Spekulation.

Elektrische Beleuchtung wird installiert
Eines Tages bleiben die vielen Uhren im Haus der Tokitos stehen, alle auf einmal, und ein symbolischer Zwischenschnitt zeigt monochrom viragiert eine Uhr, die aus großer Höhe in einen Abgrund fällt und zerschellt (eine sehr ähnliche Sequenz gab es bereits in ORI, engl. THE CAGE, Terayamas erstem erhaltenen Kurzfilm von 1964). Die Zeit selbst ist damit sozusagen zum Stillstand gekommen, aber Yonetaros Taschenuhr setzt sie wieder in Gang, wie einer der Dörfler sagt. Gleichzeitig verlässt Temari, die sich mit dem zweiten Daisaki arrangiert hat, mit diesem das Dorf, um in die Stadt zu gehen, wie mittlerweile viele der Dörfler. Während Yonetaro im inzwischen fast leer stehenden Haus der Tokitos einen Schatz entdeckt, der etwas mit den Uhren, aber auch mit Tsubanas totem Vater zu tun hat, wandern weitere Bewohner in die Stadt ab. Letztlich ist die Zeit doch zum Stillstand gekommen, der Städter Yonetaro, der nur zu Besuch kam, kann sie nicht wiederbeleben. Am Ende ist Sue allein im Dorf. In einem furiosen Finale am gigantischen Loch hält sie eine Rede, halb Monolog und halb Dialog mit Sutekichi, und sie beschimpft die abgewanderten Bewohner als Idioten, bezeichnet die Stadt als Illusion und prophezeit, dass sie das erst in hundert Jahren begreifen werden. "Kommt in hundert Jahren zurück", ruft sie - und stürzt sich ins Loch.

Metamorphosen eines Lochs
Epilog: In der Gegenwart, und in der Stadt, die schon einmal kurz zu sehen war. Die Farben sind jetzt nicht mehr übersättigt, sondern betont fahl. Etliche der Bewohner sind Doppelgänger der alten Dorfbewohner. In einem Uhrmacherladen unterhalten sich ein alter Mann - der Uhrmacher - und ein Junge über jenes einzige Foto, das seinerzeit im Dorf gemacht wurde, und das nun im Laden hängt. Der Wiedergänger von Daisaki Tokito liest in einem Bündel von Briefen, die nicht von den Lebenden an die Toten, sondern von den Toten an die Lebenden geschrieben wurden. Am Ende treffen sich die Doppelgänger auf einem Hügel vor der Stadt, um ein Erinnerungsfoto aufzunehmen, für die kommenden Generationen in weiteren hundert Jahren. Der einzige, der keine moderne Kleidung trägt, ist der Fotograf - es ist der Alte im weißen Gewand mit seiner klobigen Kamera.

Finale und Epilog
Shūji Terayama entwarf in LEBEWOHL, ARCHE einen bildgewaltigen und symbolbefrachteten Kosmos in Anlehnung an den "magischen Realismus" in García Márquez' Roman. Unübersehbar ist die Allgegenwart der Uhren als Metaphern für die Zeit selbst. Aber auch der Tod - dem Terayama, wie schon erwähnt, damals selbst ins Auge blickte - ist in Bildsymbolen allgegenwärtig. Dazu dienen auch mehrfach Portraits von Verstorbenen. In einigen früheren Filmen Terayamas, insbesondere im schon mehrfach erwähnten PASTORAL und im Kurzfilm KESHIGOMU (engl. ERASER oder RUBBER, 1977) sind es Portraitfotos von Abwesenden oder Verstorbenen. Oft sind die Bilder nicht unversehrt, sondern das Deckglas ist zerbrochen, oder das Bild selbst zerknittert, zerrissen oder sonstwie beeinträchtigt. In LEBEWOHL, ARCHE übernehmen gemalte Portaits diese Rolle, und auch sie bleiben nicht ungeschoren. So sticht Temari einem Bild ihres toten Mannes die Augen aus (ein Gegenstück, ein Foto mit ausradierten Augen, gibt es in KESHIGOMU), und Sue verwüstet aus Wut über ihren Vater, der ihr den Keuschheitsgürtel verpasste, sein Portrait. Die beiden einzigen Fotos im Film symbolisieren dagegen eher den Sieg über den Tod. So sehe ich es zumindest, aber wie schon mehrfach erwähnt, lässt dieser Film viel Freiraum für Interpretationen.


Das gilt auch für die magischen oder übernatürlichen Bestandteile. Wenn man mag, kann man für vieles davon natürliche Erklärungen suchen, aber letztlich führen solche Rationalisierungen nicht weit, und man kann es auch gleich lassen. Terayama war ohnehin ein Künstler, der allzu detaillierte Erklärungen seiner Werke ablehnte. Autobiografische Bezüge sind in LEBEWOHL, ARCHE weniger offensichtlich als etwa in PASTORAL (wo die Verlässlichkeit der Autobiografie freilich explizit negiert wird). Dennoch spielt eine gewisse nostalgische Sehnsucht nach dem einfachen, vorindustriellen Landleben eine Rolle, sie manifestiert sich etwa in Sues Schlussrede. Terayama wuchs in der Präfektur Aomori im nördlichsten Teil von Honshu auf, seinerzeit eine rückständige ländliche Gegend. Die archaischen Sitten und Gebräuche, die er in LEBEWOHL, ARCHE und mehr noch in PASTORAL zeigte, kannte er jedoch nicht aus eigener Erfahrung - es handelt sich um Produkte seiner Fantasie, um ein ebenso anziehendes wie abstoßendes Sehnsuchtsland.


Terayama war ein Regisseur, der nicht vor Eklektizismus oder Pastiche zurückschreckte. Er verarbeite Einflüsse und Motive vieler Kollegen, japanischer wie europäischer. So erinnert etwa das Bestehen archaischer oder schamanistischer Praktiken in einer Dorfgemeinschaft im südlichen Japan des 20. Jahrhunderts etwas an Shōhei Imamuras PROFOUND DESIRES OF THE GODS, während das Auftreten das toten Daisaki an die Geister der Toten in Hiroshi Teshigaharas PITFALL denken lässt. Es ließen sich noch mehr solche Quellen ausfindig machen, aber auch das führt letztlich zu nichts, weil Terayama ohnehin seine sehr eigene Mischung daraus machte. Zur grandiosen Wirkung des Films trägt neben der Bildgewalt (Kamera: Tatsuo Suzuki) auch der überzeugende Soundtrack bei. Terayamas langjähriger Generalmusikdirektor J.A. Seazer (auch J.A. Caesar geschrieben, eigentlich Takaaki Terahara) lief noch einmal zu großer Form auf. Zu Terayamas Arbeitsweise gehörte es, dass seine Aktivitäten als Dichter, Schriftsteller und Theater- und Filmregisseur eng miteinander verwoben waren und er oft einen Stoff nacheinander in verschiedenen Medien bearbeitete, allerdings oft auch mit beträchtlichen Unterschieden zwischen den aufeinanderfolgenden Versionen. 1981 inszenierte er mit seiner Theatertruppe Tenjō Sajiki in Tokyo sein Stück "Hundert Jahre Einsamkeit" (Hyakunen no kodoku), das in einer großen Halle auf fünf Bühnen gleichzeitig aufgeführt wurde. Dass der Titel des Films dann anders lautete, lag wohl an García Márquez, der Verfilmungen seines Romans grundsätzlich ablehnt. Ob er auch gegen LEBEWOHL, ARCHE etwas einzuwenden hat, weiß ich nicht. Es wäre schade, denn Terayama ist damit ein großer Wurf gelungen.


Zum Weiterlesen:

Avant-garde, Pastiche, and Media Crossing: Films of Terayama Shūji: Profunder Essay von Prof. Norimasa Morita von der Waseda-Universität Tokyo über WERFT DIR BÜCHER WEG UND GEHT AUF DIE STRASSE und PASTORAL: TO DIE IN THE COUNTRY. Aber Vorsicht: In PASTORAL gibt es, wie bereits erwähnt, eine kühne Wendung, von der man sich eigentlich überraschen lassen sollte, und der Text enthält diesbezüglich einen dicken Spoiler.

"FATHERLESS GIRL" AND "DOMINEERING MOTHER". TERAYAMA SHUJI'S PORTRAYAL OF WOMEN: Examensarbeit von Rei Sadakari an der Universität Hawaii. Behandelt ausschließlich Terayamas Theaterarbeit, aber die Erkenntnisse lassen sich auch auf die Filme übertragen (so ist etwa Chigusa so ein "fatherless girl"). Man erfährt auch einiges über Terayamas kompliziertes Verhältnis zu seiner Mutter, unter deren Fuchtel er zeitlebens stand - was sich auch in etlichen seiner Filme niederschlug, insbesondere PASTORAL und GRASS LABYRINTH.

Oedipal Ketchup von Andrew Grant. Kompakte Übersicht über Terayamas Spielfilme.

Schausteller und Zur-Schau-Gestellte. Zur Renaissance der misemono-Tradition in Terayama Shûjis (1935-1983) dramatischem Werk
von Stephan Köhn und Martina Schönbein. Behandelt wie Sadakari nur die Theaterarbeit, enthält aber interessante biografische Details.

Drei Kurzfilme von Terayama von meiner Wenigkeit.

Dienstag, 31. Januar 2012

Jetzt schlägt's 13

Jetzt schlägt's 13 (Alternativtitel: Es schlägt 13)
(Jetzt schlägt's 13, Österreich 1950)

Regie: E.W. Emo

Mit dem Rat “Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht!” verabschiedet sich der soeben entlassene Hausdiener und Nietzsche-Kenner Max von seinem ehemaligen Herrn, der das harte Los der Ehe gezogen hat. Und tatsächlich: Dessen Angetraute soll rasch dafür sorgen, dass sich die vom "jungen Glück" bewohnte Villa Sonnenschein in eine (vermeintliche) Mördergrube verwandelt, die es mit jeder Edgar Wallace-Spelunke aufnehmen kann - woran Max selber allerdings auch nicht ganz unschuldig ist...


Es war nicht zuletzt der während des Dritten Reichs als linientreu geltende Komödienspezialist und Hausregisseur der Wien-Film E.W. Emo (eigentlich Emerich Josef Wojtek), der mit leichten Unterhaltungsfilmen (Theo Lingen bezeichnete sie als “Limonadenfilme”) dafür sorgte, dass dem deutschsprachigen Publikum das Lachen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht abhanden kam. Das Muster, nach dem diese Filme gestrickt waren, darf als denkbar einfach bezeichnet werden. Sie standen in der Tradition des  Schwanks, wie ihn etwa die Autoren Arnold und Bach (“Die spanische Fliege”, 1913, “Der wahre Jakob”, 1924) im frühen 20. Jahrhundert geprägt hatten: Man lasse ein scheinbar geregeltes Familienleben durch ein unvorhergesehenes Ereignis aus dem Lot geraten und sorge dafür, dass ein schier hoffnungsloses Tohuwabohu mit mehreren Beteiligten entsteht, das sich am Ende erstaunlicherweise zur Zufriedenheit aller auflöst. Emos Trümpfe waren zwei hervorragende Komiker, die er wegen der denkbar unterschiedlichen Typen, die sie verkörperten, gerne (gelegentlich mit Heinz Rühmann) zusammen einsetzte und gegeneinander ausspielte: der nuschelnde österreichische Volksschauspieler Hans Moser mit seinem griesgrämigen Gesicht und der näselnde, oft als versnobbter Kleinbürger daherkommende Hannoveraner Theo Lingen. Diese beiden Schauspieler sollten auch nach dem Krieg für Erfolge garantieren; und dies, “brave 50er" hin oder her, wesentlich schneller, pointenreicher, gelegentlich sogar etwas schlüpfriger als unter Goebbels’ totaler Kontrolle. So entstanden ein paar Filme, die trotz des bescheidenen Budgets, das zur Verfügung stand, noch heute entschieden grösseren Unterhaltungswert besitzen als so manche Operette oder Heimatschnulze der Zeit. Deshalb lohnt es sich, an den weitgehend vergessenen E.W. Emo zu erinnern.

Im Hause des erst seit drei Wochen verheirateten Schriftstellers und Verfassers des Buchs “Das Glück in der Ehe” Mario Jaconis herrscht Krieg. Seine eifersüchtige Frau Hedy weiss sehr wohl, dass ihm sein treuer Diener Max, ein gieriger Zeitungsleser und Verschlinger seines Horoskops,  dabei hilft, ehemalige Liebschaften zu verheimlichen und - nicht wörtlich nehmen! - zu erledigen. Der Gehilfe muss weg, ein neuer Hausdiener her. Dieser findet sich im braven Ferdinand, dessen einzige Leidenschaft Kriminalromane sind und der leider betont,  seine früheren Herrschaften seien alle verstorben. - Die Verwechslung zweier Koffer hat zur Folge, dass beide Diener zu der Überzeugung gelangen, der andere sei ein Raubmörder und es sei ihre Pflicht, die Herrschaft vor dem jeweiligen Bösewicht zu schützen. Max kehrt in die Villa Sonnenschein zurück, und als dann noch eine alte Freundin von Hedy nebst Jaconis neuem Verleger eintreffen, bricht das Chaos aus: Ferdinand fühlt sich plötzlich vergiftet, versucht sich mit Milch zu entgiften und lässt sich sogar zu einem “Ich bin lieber feig als tot” (man stelle sich diesen Satz in einer Komödie der Nazi-Zeit vor!) hinreissen. Max wiederum vergeht die Lust, mit den Hausmädchen zu flirten (“Bei jedem jungen Mädchen werde ich mich gerne deiner erinnern”), und die Herrschaften verdächtigen sich noch mehr der gegenseitigen Untreue als zuvor. Werden am Ende nur noch Leichen im Kohlenkeller und unter dem Tisch liegen - oder hilft doch ein spezielles Gemüse: Rhabarber?


Das wirkliche Leben der schon während des Dritten Reichs höchst erfolgreichen Komiker Hans Moser und Theo Lingen zeichnete sich übrigens durch alles andere als unbeschwerte Komik aus: Beide waren mit Frauen jüdischer Herkunft verheiratet und durften sich nur weiterhin als Schauspieler betätigen, weil der Propagandaminister einsah, wie bedeutend sie für das deutsche Lustspiel waren. Der stille, intellektuelle Lingen, in den frühen 30ern in ernsten Rollen von Fritz Lang geschätzt,  konnte mit seiner Frau, einer Halbjüdin, unter Entbehrungen zusammenbleiben, die Frau des Grantlers Hans Moser, der als Mitglied diverser Wanderbühnen Jahre bitterer Armut hinter sich hatte, emigrierte bis Kriegsende nach Ungarn.  - In den 50er Jahren sollten die beiden Schauspieler noch in ein paar sehenswerten Lustspielen wie “Jetzt schlägt’s 13” (ganz auf sie zugeschnitten, weshalb der junge Josef Meinrad als Jaconi erstaunlich blass wirkt) glänzen; als aber die deutsche Komödie nicht zuletzt “dank” sich für Schauspieler haltender Sänger immer mehr ins Seichte abglitt, sank der begnadete Theo Lingen mit ihr und gab sich für peinliche Erzeugnisse wie “Wenn mein Schätzchen auf die Pauke haut” (1971) her. Kein schöner Abschluss einer wirklich bemerkenswerten Karriere! -  Obwohl “Jetzt schlägt’s 13” in mancher Beziehung veraltet und stereotyp wirken mag, nimmt er es tempomässig rasch mit einer amerikanischen Komödie dieses Jahrtausends auf und spart auch nicht mit herrlichen Pointen. Ein Rhabarber-Film, der noch immer für einen heiteren Abend sorgt:

Freitag, 20. Januar 2012

Und noch ein DÖS-Abschluss

Zeit für DÖS

Wie schon beim Eingangsposting, wird auch mein Abschlussposting kürzer als das von Whoknows - ich bin nun mal kein Essay-Schreiber, und ich werde auch keiner mehr. Wirklich grundlegende neue Erkenntnisse hat mir die Aktion DÖS zwar nicht gebracht - ich war diesem Thema gegenüber schon immer aufgeschlossen -, aber doch einige interessante Einsichten. Etwa, dass Zbyněk Brynych, den ich als Fernsehregisseur schon sehr lange kenne und liebe, auch ein interessanter Filmregisseur zu sein scheint (die Überprüfung steht aber noch aus). Einiges neue habe ich über den Schweizer Film erfahren, vor allem natürlich von Whoknows, der das Thema auch schon vor der Aktion behandelte, aber beispielweise auch von gabelingeber. Etwas enttäuschend war dagegen die Ausbeute an österreichischen Filmen. Gab es da überhaupt längere Besprechungen (abgesehen von WIENERINNEN, den ich selbst im Angebot hatte)? Da hätte etwas mehr kommen können, liebe Kollegen aus dem Süden ...

Jetzt sollte eigentlich eine Liste von fünf Lieblingsfilmen kommen, die ich während der Aktion kennengelernt habe (die Nebenbedingung hat Whoknows etwas, äh, kreativ ausgelegt :-). Allein, ich komme auf keine fünf Filme, die dazu geeignet sind. Entweder kenne ich sie schon länger, oder sie haben mich nicht ausreichend überzeugt, um als Lieblingsfilme gelten zu können. Also belasse ich es einmal bei EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL, der für mich wohl die Entdeckung des Jahres ist.

Hier die Liste meiner eigenen Besprechungen:

JONAS (Ottomar Domnick, 1957)
EIN GROSSER GRAUBLAUER VOGEL (Thomas Schamoni, 1970)
SAN DOMINGO (Hans-Jürgen Syberberg, 1970)
DAS STAHLTIER (Willy Zielke, 1934)
WIENERINNEN (Kurt Steinwendner, 1952)
VENEDIG (Kurt Steinwendner, 1961)

Wenn man mag, kann man noch BLUT AN DEN LIPPEN von Harry Kümel dazuzählen, der immerhin eine deutsche Co-Produktion, aber letztlich doch eher ein belgischer Film ist.

Da ich am Beginn der Aktion eigentlich nur mit zwei oder drei Artikeln von mir gerechnet habe, bin ich mit meiner Ausbeute quantitativ sehr zufrieden (die qualitative Beurteilung bleibt natürlich der Leserschaft vorbehalten). Im Hinblick auf die Aktion habe ich aber in den letzten Monaten DÖS-Filme vorgezogen, die sonst länger hätten warten müssen. Das lässt sich aber nicht dauerhaft fortsetzen, es wird also in Zukunft weniger DÖS pro Zeiteinheit von mir geben, auch wenn schon noch die eine oder andere DÖS-Besprechung folgen wird.

Donnerstag, 19. Januar 2012

Aktion DÖS - Abschlussposting von Whoknows


Im März 2011 startete der Intergalactic Ape-Man seine "Aktion DÖS". Erstaunlich viele Blogs glänzten mit einem Eingangsposting und  zählten zehn ihrer deutschsprachigen Lieblingsfilme auf. Dass nur ein Bruchteil dieser Blogs auch längere Besprechungen liefern würde, war zu erwarten. Trotzdem durfte der Urheber der Idee eine stolze Ernte einfahren, und ich möchte mich bei allen bedanken, die dazu beigetragen haben. - Was mich erstaunte: Ich hatte lange den Eindruck, man versuche die Zeit des Dritten Reiches regelrecht aus dem Gedächtnis zu verbannen, während ich sie zum Teil bewusst, manchmal mich von ihr eingeholt fühlend (etwa die Besprechung von Imhoofs "Das Boot ist voll") als problematischen Teil unserer Geschichte in meine Beiträge miteinbezog. Später sollten weitere Blogger hinzukommen, die dies ebenfalls taten und zeigten, dass Filme aus dieser Zeit oft faszinierend sein konnten, ihre Tendenz und Entstehungsbedingungen aber dem über sie Schreibenden die (verbliebenen) Haare zu Berge stehen liessen. Ebenfalls interessant: Gerade einige der mit Pomp oder Anspruch internationale Bedeutung anstrebenden Werke (von Josef von Bákys „Münchhausen“, 1943, über Helmut Käutners sich an „Citizen Kane“ anlehnenden „Ludwig II. – Glanz und Elend eines Königs“, 1955, bis hin zu den Produktionen aus der Bernd Eichinger-Küche) fanden kaum Beachtung. Hingegen wurden neben Unumgehlichem kleine, oft nicht erwartete deutschsprachige Filme in den Mittelpunkt gestellt (sogar der „Neue Deutsche Film“ war mit Überraschungen vertreten). Einige der besprochenen Arbeiten interessierten mich weniger, andere nahm ich dankbar als lohnenswerte Entdeckungen, die ich mir bei Gelegenheit zulegen muss, entgegen.

Was mir die Aktion nebenbei brachte: Es kam nolens, volens zu einer Annäherung an Regisseure, denen ich mich lange Zeit aus kaum nachzuvollziehenden Gründen verweigert hatte: Plötzlich sehe ich mich etwa veranlasst, Werner Herzog eine Chance zu geben. Filme, wie sie mein Co-Admin besprach, erinnerten mich auch an weit zurückliegende Sichtungen, über deren Wert ich auf einmal nachzudenken begann. Dabei fiel mir auf, wie dankbar Regisseure, deren Filme in diesem Jahrtausend etwa in der Reihe „Das kleine Fernsehspiel“ ausgestrahlt wurden,  sein dürfen, weil man diese häufig zusätzlich auf einer DVD begutachten kann. Denn ich rätsle jetzt plötzlich darüber, ob zum Beispiel Hartmut Griesmayers „Fallstudien“ (1979), ein Film, der den Alltag in einem Bordell schildert, den hohen Stellenwert wohl behalten würde, den er in meiner Erinnerung hat. Dieses Rätsel wird sich nicht auflösen, weil die Rarität nicht „gebrannt“ erhältlich und an eine Neuausstrahlung kaum zu denken ist. Ähnlich geht es mir mit ein paar Schweizer Filmen, etwa Mark Rissis "Die schwarze Spinne" (1983) oder Urs Odermatts "Der Tod zu Basel" (1990).  – Dies als kleine Aufforderung, lohnenswerte deutschsprachige Filme vor dem Vergessen zu bewahren und dem Filmfreund als DVD zugänglich zu machen.

Nun zu den fünf „Lieblingsfilmen“: Ich bemerkte schon im Eingangsposting, dass es sich bei meinen zehn ausgewählten Filmen eher um für die jeweilige Zeit bedeutende Ereignisse als um Lieblingsfilme handle. Die geforderte  Betonung auf „Lieblings-„ am Ende der Aktion macht die Sache ausserordentlich schwierig.  Ich müsste etwa als Anhänger des Genres Murnaus „Nosferatu“ (1922) nennen, auch den im Rahmen dieser Aktion überaus geschätzten „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931), dessen Bedeutung mir nicht entgeht. Aber sind dies nach vielen Sichtungen immer noch Filme, die ich der Liste meiner nun rund dreissig Titel umfassenden Lieblingswerke vorziehen würde? Muss ich nicht in diesem Moment erst recht auf Subjektivität beharren? – Hier eine recht willkürliche Auswahl aus meiner schon qualvoll zusammengeschrumpften Liste:


Menschen am Sonntag (Deutschland 1930)
Die von jungen Amateurfilmern gedrehte Collage einer Grossstadt am Sonntag wirkt so poetisch und zugleich authentisch, dass man sich ihrer Unbeschwertheit hingeben möchte und einfach vergessen will, was aus diesen Menschen und dem Land, in dem sie lebten, wenige Jahre später werden sollte. Ein letzter Traum, den ich immer wieder voller Hingabe mitträume – ohne darauf zu achten, welche Szenen „inszeniert“, welche spontan wirken.


Der Untertan (DDR 1951)
Eine Literaturverfilmung gehört einfach in die Liste des ehemaligen Literaturstudenten. Ich schwankte lange zwischen Staudtes Meisterwerk und Schlöndorffs Musil-Adaption, die zu einem der frühen Erfolge des Neuen Deutschen Films werden sollte und die ich bei Gelegenheit besprechen möchte. Die einzigartige Heinrich Mann-Verfilmung erhielt letztlich den Vorrang, weil sie auch als hinterlistige frühe Abrechnung mit dem buckelnden und verehrenden Nationalsozialisten angelegt ist. Für mich zusätzlich reizvoll: Heinrich Mann wurde als ehemaliger Sozialist in der frühen  BRD wie andere heute anerkannte Schriftsteller im Gegensatz zu seinem Bruder gemieden. Wenn es also etwas gibt, wofür wir der DDR dankbar sein müssen, so ist es das Aufrechterhalten der Erinnerung an ihn und manche seiner Zeitgenossen.

 
 Das Brot des Bäckers (Deutschland 1973)
Zwei Schweizer Regisseure, deren grösstes Werk in den 70er Jahren entstand, buhlten um meine Gunst. Eigentlich hätte ich mich für Kurt Früh entscheiden müssen, der seine späte traurige Ballade „Dällebach Kari“ (1970) auch in der Schweiz drehte. Erwin Keuschs Filmdebut wirkt jedoch noch heute so aktuell und überzeugend, dass es letztlich den Vorrang erhielt. Es soll zugleich insistierend an etwas erinnern:  Solche Filme müssen als DVD zu haben sein, wenn man eine einseitige Erinnerung an den deutschen Film jener Zeit verhindern will. „Das Brot des Bäckers" ist überdies ein Meisterwerk, das internationale Beachtung erhielt und sie auch heute noch verdient.


Heimat – Eine deutsche Chronik (Deutschland 1984)
Edgar Reitz‘ im Jahre 1919 einsetzende Alltagsgeschichten aus einem Dorf im Hunsrück sind, wie ich schon in meinem Eingangsposting erwähnte, ein filmisches Ereignis der Sonderklasse. Diese deutsche Chronologie en miniature, die auf raffinierte Weise zwischen Schwarzweiss und Farbe wechselt, wird in den nächsten Jahrzehnten niemand überbieten können. Trotzdem sollte ihr Versuch, sich am Alltäglichen, nicht am Pompösen zu orientieren, für Filmemacher unserer Zeit ein Vorbild sein – und es ist gut, dass viele dies erkannt haben.

Todesspiel (Deutschland 1997)
Heinrich Breloers Doku-Drama über die Rote Armee Fraktion und den berüchtigten Herbst des Jahres 1977 mit der Schleyer-Entführung und Mogadischu ist auch eher zufällig in meiner Liste gelandet. Dass Breloers Talent für Semi-Dokus ungleich grösser ist als das für Spielfilme, bewies er mit seinem desaströsen „Buddenbrooks“ (2008). Hier geht es mir jedoch vor allem darum, dass ich die Geschichte der Rote Armee Fraktion seinerzeit lediglich  über Fernsehreportagen und Tagesschaumeldungen mitbekommen konnte. Deren Einseitigkeit wurde spätestens dann erkannt, wenn man einen brüllenden Franz Josef Strauss vor dem Mikrophon sah. Lange Zeit blieb der Eindruck bestehen, ich würde nie mehr als Bruchstücke über die wirklichen Hintergründe der Abläufe erfahren, die ich mit so grossem (jugendlichem) Interesse verfolgte. Die späte Aufarbeitung als Doku-Drama  faszinierte mich deshalb überaus, und ich bin noch heute dankbar dafür. Sie „erhellte“ mir ein wichtiges Stück deutscher Geschichte.

Jetzt müssten mindestens  zehn, fünfzehn weitere Filme erwähnt werden, angefangen bei „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ (1937), an den mich Manfred Polak erinnerte, vorläufig endend beim provozierenden, weil realistischen „Eierdiebe“ (2003), dessen Regisseur der verheerenden Versuchung Hollywood nicht widerstehen konnte. Ich freue mich über Filmschaffende, die verstehen, wie wichtig es ist, dass sie ihre Arbeit in Deutschland fortsetzen und vom scheinbar unbedeutenden Alltag, von eigenen kleinen Erfahrungen ausgehen, um in ihnen das vorhandene Material für eine gute Geschichte zu entdecken. Eine solche Herangehensweise machte den deutschen Film immer gross und wird es weiterhin tun. Die Schweiz, die in diesem Jahrtausend mehrfach mit viel Schmalz vergeblich um Oscars und internationalen Ruhm buhlte, zeigt: So geht es nicht.

***

Mit diesem Abschlussposting endet für mich die “Aktion DÖS“. Gleichzeitig sehe ich mich unabhängig von ihr – wie wohl diverse andere Teilnehmer auch – in der Pflicht, weiterhin deutschsprachige Filme zu besprechen, mögen diese auch nicht mehr wie in den letzten Monaten als geballte Ladung anrücken. Unser Intergalactic Ape-Man wäre dankbar für die geregelte Fortsetzung seiner Schöpfung in irgendeiner Form gewesen. Er erhielt Absagen, unter anderem auch von mir, in den er ein wenig Hoffnung gesetzt hatte. Ich musste meine Absage mit dem Argument begründen, über das ein paar Leser bereits Bescheid wissen: Als HIV-Langzeitüberlebender mit entsprechender Krankengeschichte wäre ich ein höchst ungeeigneter, weil unzuverlässiger „DÖS“-Leiter. Der Sinn meines Daseins beschränkt sich auf das Ärgern des werten Lesers.

Vielleicht ist es auch ganz gut, jetzt einen Endpunkt zu setzen und die Aktion als Anregung zu betrachten. Würde man sie künstlich am Leben erhalten, könnte dies von einigen als Zwang betrachtet werden, dem sie sich entziehen möchten. Die Situation ist aber so, dass ich sicher nicht der einzige bin, der sich in den letzten neun Monaten eine rechte Anzahl DÖS-Filme (weniger aus der Schweiz, da unsere Produktion so beeindruckend nicht ist) zugelegt hat, die besprochen werden wollen, der verschiedene Stränge aufnehmen und intensiver verfolgen möchte. In meinem Fall steht zum Beispiel ein Aufarbeiten des deutschen Films der letzten acht bis zehn Jahre noch an.

Das wär‘s für den Moment. Ich danke dem Intergalactic Ape-Man für seine spannende Anregung und den Aufwand, dem er sich ausgesetzt hat. Möge die Beschäftigung mit dem deutschsprachigen Film anhalten und weitere Blogger reizen! Leute, wir sind wer! Und mit den Massenproduktionen aus Hollywood nehmen wir es noch lange auf.

Gruss Bruno 


Freitag, 13. Januar 2012

Zwangsneurotisches Oscarvehikel

Aviator
(The Aviator, USA/Deutschland 2004)

Regie: Martin Scorsese

Darsteller: Leonardo DiCaprio, Cate Blanchett, Kate Beckinsale, John C. Reilly, Alec Baldwin, Alan Alda, Ian Holm, Danny Huston, Gwen Stefani, Jude Law, Adam Scott, Matt Ross, Kelli Garner u.a.

“There’s too much Howard Hughes in Howard Hughes.” - Diese der Schauspielerin Katharine Hepburn in den Mund gelegte Bemerkung fasst vielleicht das zusammen, was die Amerikaner auf der Leinwand von ihrer Ikone zu sehen bekommen wollten: einen Mann, der vom Ehrgeiz getrieben das vergass, was einen Menschen ausmacht, der aber seine Energie in so unterschiedliche Bereiche investierte, dass er stattdessen zum Mythos avancierte und  in einer längst versunkenen Glitzerwelt den “American Dream” verkörperte - um letztlich, während ihm die Welt zu Füssen lag, von seinen Obsessionen eingeholt zu werden und innerlich zu scheitern. Die Bemerkung weist aber auch auf Probleme hin, mit denen sich ein Film, der sich mit der Figur beschäftigt, konfrontiert sieht: Wie soll er dieses “too much”  dem Zuschauer, der doch vor allem an den Erfolgen eines Amerikaners, der angeblich die Zukunft gestaltete, teilhaben will, vermitteln, ohne ihn einer banalen “Rise and Fall”-Geschichte auszusetzen? Und wie viel von diesem “too much”, das den historischen Howard Hughes ausmachte, darf er ihm tatsächlich zumuten? Soll er auch auf das Dunkle im Wesen des Tycoons zu sprechen kommen? Wobei ich mit dem Dunklen beileibe nicht dessen Zwangsneurose und ihre Auswirkungen meine...

Howard Hughes war für mich in den 70er Jahren vor allem der steinreiche Exzentriker, der seit langer Zeit versteckt in einer Hotel-Suite in Las Vegas lebte, die auf den ewig gleichen Bildern in Zeitschriften, die in Friseursalons herumlagen, von einem dicken Pfeil “attackiert“ wurde. Er hatte (warum eigentlich?) einst für Jane Russell einen speziellen Büstenhalter kreiert und den Film “Hell’s Angels” gedreht, liess aber so gut wie niemanden mehr an sich heran (seine Pionierleistungen im Bereich der Aviatik interessierte die Damen in Lockenwicklern wenig). Erst als der in einem Flugzeug verstorbene verwahrloste und nur Windeln tragende Milliardär (“mit Fingernägeln wie Krallen”) vom FBI identifiziert werden musste, begann ich mich ein wenig mehr mit ihm und seinem Leben zu beschäftigen. Und wieder einmal bestätigte sich mein boshaftes Vorurteil, dass steinreiche Männer keineswegs in erster Linie die grossen und vielleicht wegen ihrer “Leiden” zu bedauernden Figuren sind, als die sie gerne in die Geschichte eingingen:  Der seiner Zwangsneurose ausgesetzte Hughes war seit jeher auch ein hemmungsloser Rassist und Antisemit mit entsprechenden Verbindungen während des Zweiten Weltkriegs, leistete sich nicht nur Politiker in Massen, sondern unterhielt sogar  enge Verbindungen zur Mafia (der er später halb Las Vegas abkaufte). Nach dem Krieg entwickelte er einen geradezu krankhaften Wahn gegen die angeblich die USA infiltrierenden Kommunisten, weshalb er 1948 die Kontrolle über die RKO übernahm und sie von "Verdächtigen" säuberte. Über seine zweifelhafte Rolle im Watergate-Skandal wurde viel geschrieben, auch über seinen misslungenen Versuch, der CIA bei der Bergung. eines gesunkenen sowjetischen U-Boots zu helfen. Dass der böse Juan Trippe mit seiner angeblich übermächtigen Pan Am ihn und seine "kleine" TWA je an die Wand zu drücken vermochte, gehört hingeben ins Reich der Legende. - Man könnte Howard Hughes - und ich stimme hier einem hervorragenden Artikel von David Walsh in der  “World Socialist Web Site” zu - als “gangster-industrialist”, der Kontakte zu den schlimmsten Diktatoren der Welt nicht scheute, bezeichnen.

 Nun ist das Biopic in seiner amerikanischen Ausprägung seit jeher ein tendenziell reaktionäres Subgenre, dem es um die Verherrlichung seiner Hauptfigur und ihrer Leiden geht. Diese Verherrlichung nimmt es mit den geschichtlichen Abläufen (die Hepburn galt zum Beispiel noch nicht als “Kassengift”, als sie Hughes kennenlernte), auch mit der Wahrheit nicht sehr genau. Sie reduziert das Leben ihres “Sterns”, der sich von den (hier prominent besetzten) Nebenfiguren wie die Sonne von Planeten umkreisen lässt, auf seine Glanzzeit oder einen entscheidenden Wendepunkt - und bringt im besten Fall grosse Unterhaltung mit beschränkter Glaubwürdigkeit zustande. Einige der stilprägenden Biopics verdanken wir den 50er Jahren (“The Glenn Miller Story”, 1954, “Love Me Or Leave Me”, 1955, “I’ll Cry Tomorrow”, 1955 etc.). Was zu dieser Zeit verschwiegen werden musste, verschweigen interessanterweise auch die bekanntesten biographischen Schlaftabletten, die uns dieses Millenium bescherte (etwa “Ray”, 2004, “Walk the Line”, 2005): das, was dem Mythos schaden könnte.


Gerade Martin Scorsese schien freilich der Regisseur zu sein, der dieses ungeschriebene Gesetz der reinen Verherrlichung zu brechen in der Lage war, verkörperte er doch selber einen Mythos: Er galt als Mann, der die Fähigkeit besass, tief in die von ihm ins Auge gefassten Figuren und ihr Umfeld einzudringen und auf diese Weise zusätzlich die amerikanische Geschichte mit ihren Schattenseiten schonungslos aufzuarbeiten. Was das für das Biopic bedeutete, hatte er in seinem grandiosen Boxerfilm „Raging Bull“ (1980) gezeigt; und der leider gefloppte „New York, New York“ (1977) bewies, dass er seine Schwäche für den alten Hollywood-Film, der er bestimmt auch bei einer Verfilmung des Lebens von Howard Hughes würde nachgehen können, gezielt zur Beleuchtung dessen, was sich hinter all dem Glamour abspielte, einsetzen konnte. – Scorsese wartete aber auch seit den späten 70er Jahren vergeblich auf seinen Regie-Oscar, und es war vielleicht damit zu rechnen, dass er das eigentlich für Michael Mann konzipierte Spektakel als Gelegenheit betrachten würde, sich auf beeindruckende Weise – wenn auch vergeblich - an Hollywood anzubiedern. Wie schwierig das Resultat dieses Sich-Anbiederns zu beurteilen sein sollte, zeigte sich an den Reviews, die das Oscarvehikel  zum Teil brüsk ablehnten, die Schuld für sein Scheitern dem unterschätzten  Leonardo DiCaprio oder Cate Blanchett, die aus Katharine Hepburn eine Karikatur machte, in die Schuhe schoben – oder es manchmal mit bemühten Argumenten, oft aber oberflächlich doch zum Meisterwerk erhoben.


„The Aviator“ kommt tatsächlich als beinahe altmodisches Epos daher, will – und dies deuten verschiedene Kleinigkeiten wie das den Filmen der jeweiligen Epoche entsprechende Einfärben einzelner Szenen an – ein gigantischer alter Hollywood-Reigen mit überwältigenden Bildern sein. Er ist im Gegensatz zu anderen Biopics jener Jahre auch ein zumindest vorübergehend berauschendes Erlebnis: Das sich wiederholende Umfahren der mächtigen Flugzeuge wirkt, als möchte die Kamera sie – besässe sie denn Arme – umschlingen. Bachs berühmte Toccata und Fuge in d-Moll wird zur Untermalung solcher Aufnahmen bemüht. Ruhm, Ausschweifungen und Obsessionen, aber auch Hughes‘ Absturz mit der XF-11 in ein Wohngebiet von Beverly Hills werden in Bilder eingefangen, von denen man den Eindruck erhält, man würde sie für immer im Gedächtnis behalten. Für mich besonders beeindruckend: die Gestaltung des nächtlichen Telefonats mit dem „Mädchen für alles“ Noah Dietrich, nachdem Hughes seine Kleider verbrannt hatte (kleine Berichtigung: er tat dies in Wirklichkeit nicht, weil die Hepburn ihn verliess, sondern weil er von der Syphilis erfuhr, die er sich einfing und die auch ihren Anteil an seiner späteren Entwicklung gehabt haben dürfte). – Aber ist dieser Film denn mehr als eine Feier seiner selbst und des Filmemachens der alten Schule? Entfernt er sich nicht vor lauter Gier nach Glanz weit von seinem Thema und der eigentlichen Wahrheit? - Vor allem aber: Warum muss man anlässlich einer zweiten Sichtung zugeben, dass man sich kaum an den Bilderrausch zu erinnern vermag?

Scorsese und Drehbuchautor John Logan beschränken sich bekanntlich auf die Jahre 1927 – 1947, die Zeit, in der Howard Hughes seine grossen Erfolge als Filmregisseur, Produzent, Flugzeugbauer und Besitzer seiner eigenen Fluglinie feierte. Wir begegnen ihm als Millionenerben, der auf dem Set von „Hell’s Angels“, dem grössten privaten Flughafen der Welt, nicht nur energisch mit Mühe zu erfüllende Befehle erteilt, sondern von seinem Meteorologen sogar „private“ Wolken für sich beansprucht („Find me some clouds!“), treffen ihn im dekadenten „Cocoanut Groove“, den er passend zum Song „I’ll Build a Stairway to Paradise“ betritt, um sich von Louis B. Mayer zwei weitere Kameras für sein hoffnungslos verschuldetes Projekt auszuleihen. Mit seinem Flugzeug fliegt er das Set eines Katharine Hepburn-Films an, weil er die Schauspielerin, eine seiner vielen Eroberungen („Actrices are cheap!“), die hier neben Ava Gardner hervorgehoben wird, zum Golf einladen möchte. Später wird ihn der Zwang zum Ruhm trotz der Warnungen seines Managers Noah Dietrich vor waghalsigen bis illegalen Geschäften zum Kauf der TWA verlocken und einflussreiche Männer mit zweifelhaften Mädchen bestechen lassen, weil er den Auftrag zum Bau der Hercules bekommen möchte.

All dies müsste  Hughes eigentlich zum abstossenden Kapitalisten mit einem unerträglich grossen Ego und einem nicht minder grossen Frauenverschleiss machen. Zum „Glück“ litt der Milliardär jedoch noch unter einer Zwangsneurose, die er sich leisten konnte und dank der man ihn mit der Aura des Bemitleidenswerten zu umgeben vermochte. Scorsese führt diese Neurose allerdings auf geradezu billige Weise auf Mutti zurück, die ihren Sohn in einer Zeit der Typhus-Epidemien mit den Worten „You are not safe“ wusch, wozu er das Wort „Q-U-A-R-A-N-T-I-N-E“ (an dem er sich später  festhalten konnte) buchstabierte. Auch in seinem weiteren Leben werden es neben den von ihm entworfenen Flugzeugen, die er liebevoll streichelt, um sie auf herausragende Nieten abzutasten, angeblich Mutterfiguren sein, die Hughes eine Zeitlang zu leiten und ihm Halt zu geben vermögen: Katharine Hepburn mit ihrer Warnung „Howard, we’re … we’re not like everyone else“ (er trinkt während eines Flugs sogar aus der gleichen Milchflasche wie sie!) oder Ava Gardner, die ihn nach seinem Elendsjahr im Vorführungsraum mit vollgepissten Milchflaschen und einer keimfreien Zone für die Anhörung vor dem Senatsausschuss wegen seiner Geschäfte, die ihn zum Kriegsgewinnler zu stempeln drohen, mit den Worten „Nothing’s clean, Howard. But we do our best“ aufrichtet, als er sich nicht waschen möchte, weil der fürchtet, das Wasser könnte nicht rein genug sein. Die anderen Gestalten in seinem Umkreis dienen ihm oder stören im schlimmsten Fall (wie der Flegel Errol Flynn, der eine Erbse von seinem perfekt arrangierten Teller isst) sein Universum. – Abgesehen von den wirklich erschütternden Bildern des völlig dem Wahnsinn verfallenden Mannes im Vorführraum kostet Scorsese vor allem Hughes‘ Waschzwang aus; das wilde Reinigen der Hände mit der Kernseife nimmt, wie verschiedentlich erwähnt wurde, geradezu masturbatorische Züge an.


Doch die Amerikaner bewundern letztlich nicht das Leiden, sondern Erfolg und Macht – und Scorsese  erliegt einer Schwäche, die kennzeichnend für viele Biopics  ist: Er will „The Aviator“, der so verschiedene Stränge verfolgte, dass es ihm ohnehin an einer Richtung fehlt, unbedingt mit einem Triumph seines Helden beenden. Dieser Triumph soll der kurze Flug mit der als „Spruce Goose“ bezeichneten Holzkiste „Hercules“ werden, der seinerzeit ein Medienereignis war, aber eigentlich nur bewies, dass das während des Weltkriegs entwickelte Monster mit voller Last fluguntauglich gewesen wäre (man verstaute das Flugzeug später in einem Hangar; seine Aufbewahrung verschlang Millionen). – Der vermeintliche Höhepunkt verbietet den oft und zu Unrecht beschworenen Vergleich mit „Citizen Kane“ (1941). Hughes bleibt im Film der unangefochten grosse Amerikaner; sein späterer Gang in die Einsamkeit des endgültigen Wahnsinns wird am Schluss nur diskret angedeutet.

"The Aviator" ist ein Film, der im Betrachter selber ein zwangsneurotisches Verhalten auszulösen vermag. Denn es darf doch gar nicht sein, dass ein derart gigantisches Werk von Scorsese in Wirklichkeit so leer ist, viel über Howard Hughes erzählt, ohne wirklich in ihn einzudringen, ja seinen Helden stattdessen auf oberflächliche Weise preist. Man beginnt förmlich nach einer bedeutsameren Ebene hinter dem Biopic der alten Schule zu suchen. - Mich beschäftigte zum Beispiel eine Zeitlang die berühmte Szene in einer Flugzeughalle, in der sich Hughes Blaupausen ansieht (sie endet mit dem mehrfach wiederholten "Show me all the blueprints!"). Man sieht dort für einen Moment, wie rasch sich alles im Gehirn des Pioniers abzuspielen vermag, mit einem Tempo, das unserer Realität nicht mehr standhält und ihn letztlich überfordern, zum Kranken machen muss. Und ich begann mich zu fragen, ob die abrupt wechselnden Schauplätze, an denen er im Film auftritt, sein Wahrnehmen, die mangelnde Kontinuität seines Seins, wiedergeben wollen. Mit anderen Worten: Ist "The Aviator" in erster Linie gar kein Hughes-Biopic, sondern ein Film über einen Zwangsneurotiker, an dessen subjektivem Empfinden wir teilhaben. Dies würde erklären, warum wir nie auch nur einen Funken Liebe in der Liebesgeschichte zwischen ihm und Katharine Hepburn entdecken. Und dieses unfassbare Durcheinander in der "We're all socialists here"-Familie der Diva kann doch nur als weit von jeder Wahrscheinlichkeit entferntes Wahrnehmen gedeutet werden, ebenso die kleinsten Flecken, die Hughes auf den Anzügen anderer Leute stören oder der Versuch von Juan Trippe, den Rauch seiner Pfeife durch ein Türschloss zu blasen. Ich kann heute auch Georg Seßlen bis zu einem gewissen Grad verstehen, der den Film  wiederum überschwänglich als Darstellung der Geschichte der USA loben möchte, die sich als Spirale in die Barbarei erweist, in der Hughes Täter und Opfer ist. - All das mag zutreffen; aber es reicht nicht aus, kommt nicht deutlich genug zur Sprache, weshalb man es förmlich in den Film hineinlesen muss. Und spätestens wenn man abwechslungsweise einen leidenden  Howard Hughes (als Sympathieträger!) in seinem Vorführungsraum und einen vor Reportern gegen ihn hetzenden Senator Brewster sieht, erkennt man die eigentliche Intention von "The Aviator": Martin Scorsese wollte sich mit diesem Vehikel ohne Scorsese selber ein Denkmal setzen. Er, wegen seines Drangs nach Perfektion auch oft als Neurotiker betrachtet (er leidet ironischerweise unter Flugangst), scheute hier nicht vor den billigsten Effekten zurück, weil er endlich an das Ding rankommen wollte, das ihm "Departed" (2006) dann ja  bescheren sollte. Dass er mit seiner einseitigen und verlogenen Hughes-Huldigung langfristig seinen Ruf aufs Spiel setzen könnte, kümmerte ihn offenbar wenig.


In den letzten Jahren ist wenig über "The Aviator" geschrieben worden. Man erhält den Eindruck, die Leute, die den Film einst lobten, seien bemüht, ihre Worte zu verdrängen und sich eher dem vorher geschmähten Blick auf die Anfänge jenes New York, das der Regisseur in den 70ern geschildert hatte, "Gangs of New York" (2002), zuzuwenden. Andere wiederum sehen sich im Urteil von Jonathan Rosenbaum bestätigt: "There just isn't a lot to chew on once it's over." - Vermutlich werde ich mich in ein paar Jahren einer vierten Sichtung aussetzen und erneut nach dem suchen, was der Film nicht enthält. Das ist natürlich auch eine Wirkung, über deren Bedeutsamkeit sich streiten liesse...

Sonntag, 8. Januar 2012

Kurzbesprechung: Venedig im Wasser

VENEDIG
Österreich 1961
Regie: Kurt Steinwendner (Curt Stenvert)

Selbstverständlich liegt Venedig im Wasser - das weiß man doch. Was soll also der Titel? Steinwendners 11-minütiger Film besteht nur aus Ansichten von Venedig, ohne Handlung, ohne Kommentar. Das Besondere: Die Stadt wird nicht direkt gefilmt, sondern als Reflexion im mehr oder weniger gekräuselten Wasser der Lagune und der Kanäle. So ergeben sich Bilder von leicht verzerrt bis völlig abstrakt. Die Kamera wurde dafür kopfüber gehalten, so dass die gespiegelten Bilder wieder aufrecht stehen. Einmal fiel die Kamera ins Wasser, aber sie konnte geborgen werden, und nach gründlicher Reinigung in den Arri-Werken in München konnte es weitergehen. Dass die poetischen Impressionen nicht ins Süßliche abgleiten, dafür sorgt auch die avantgardistische Musik, die von einem Eric Siday stammt, der wohl in den 60er Jahren ein Pionier auf frühen Modellen des Moog-Synthesizers war [siehe Update unten]. Die frühere Vorliebe Steinwendners für das nicht nur in WIENERINNEN eingesetzte Heliophon findet hier seine logische Weiterentwicklung. Die Einrichtung der Musik für den Film, also Tonschnitt etc., übernahm Steinwendners zweite Frau, die frühere Burgschauspielerin Antonia Mittrowsky. Der originelle und extravagante Film erhielt 1962 bei der Berlinale einen Silbernen Bären. Wie schon im Artikel über WIENERINNEN erwähnt, ist VENEDIG als Bonusfilm auf einer DVD enthalten, die als Beilage einer Monographie über Steinwendner erhältlich ist. Und jetzt sollen die Screenshots für sich sprechen.

UPDATE, Januar 2017: In den Credits von VENEDIG wird der Komponist "Eric Sidey" genannt (und so nannte auch ich ihn hier bis jetzt), im Steinwendner-Büchlein dagegen "Erik Sidey". Als ich den Artikel schrieb, habe ich mich darüber gewundert, dass ich so wenig über diesen Herrn zutage fördern konnte. Inzwischen kenne ich die Lösung: Beide Schreibweisen sind falsch, denn er hieß in Wirklichkeit Eric Siday. Er war in der Tat ein Pionier der elektronischen Musikerzeugung, der beispielsweise Musik zur Frühphase der Serie DR. WHO beisteuerte, der in seinen jungen Jahren aber auch ein fähiger Jazzgeiger war. Als Robert Moog im Oktober 1964 seinen ersten Synthesizer auf einer Tagung von Toningenieuren in New York vorstellte, wurden zwei der Geräte vom Fleck weg bestellt - der zweite Besteller war Eric Siday. Er besaß damals ein gut gehendes Tonstudio in New York, das elektronische Musik und Jingles für Radio- und TV-Werbung produzierte. Als der bestellte Synthesizer von Moog persönlich in Sidays Wohnung in Manhattan, die schon mit elektronischen Geräten vollgestopft war, abgeliefert wurde, bekam Sidays Frau einen hysterischen Anfall und schrie "Eric, more shit in this house!" - so erzählte es jedenfalls Moog in späteren Jahren. Der Soundtrack von VENEDIG entstand aber natürlich vorher, konnte also nicht mit einem Gerät von Moog produziert worden sein. Eine Auswahl von Sidays elektronischer Musik ist 2014 unter dem Titel The Ultra Sonic Perception auf CD und LP erschienen.

Nun aber endlich zu den Screenshots: