Sonntag, 27. März 2011

JONAS - Man geht nicht mehr ohne Schädelindex!

JONAS
Deutschland 1957
Regie: Ottomar Domnick
Darsteller: Robert Graf (Jonas), Elisabeth Bohaty (Nanni), Dieter Eppler (M.S.), Willy Reichmann (der fremde Herr)

Die Vergangenheit ist ein Bumerang aus Filz!

Eine Einblendung im Stil eines Nachrichtenagentur-Tickers am Anfang des Films gibt die Grundstimmung vor: "meldung ... 10. August 1957 ... mehr selbstmorde als verkehrsopfer ... täglich gehen 30 personen freiwillig aus dem leben ... tag für tag das gleiche schicksal ... trotz wohlstand trotz wirtschaftlicher blüte ... grund: schwermut ... 47% der befragten bevölkerung äusserte: ANGST...". Eine Reihe von Architekturaufnahmen zeigt eine moderne, anonyme deutsche Großstadt als Betonwüste. (Tatsächlich handelt es sich um Stuttgart, aber das spielt keine Rolle.) Einer ihrer Bewohner ist Jonas. Er ist Arbeiter in einer Druckerei, bewohnt ein möbliertes Zimmer, lebt isoliert. Von seiner Vermieterin erfährt er, dass jemand, der seinen Namen nicht genannt hat, hier war und sich nach ihm erkundigt hat. Man kennt seine Adresse! Was will man von ihm?


Auch in der Arbeit fragt jemand nach ihm. Doch als Jonas im Büro erscheint, ist der Unbekannte verschwunden. Er muss auf der Hut sein! "Was, Du kennst niemand hier? Eine Verwechslung?" "Jonas, Du bist im Labyrinth! Hier gibt es keine Verwechslung!" Es sind zwei Stimmen aus dem Off, die hier zu hören sind. Es ist kein einzelner Erzähler, der aus "göttlicher Perspektive" dem Zuschauer berichtet, auch kein innerer Monolog von Jonas, sondern ein bald vielstimmiger Kanon von Kommentaren, die zu Jonas sprechen, die über ihn sprechen, die gelegentlich auch gegeneinander argumentieren, die den Zeitgeist sarkastisch wiedergeben, etwa wenn echte zeitgenössische Werbeslogans, Pressemeldungen oder amtliche Texte sowie Bibelzitate aufgegriffen und ironisch abgewandelt werden. "Man geht nicht mehr ohne Hut!" Aus einer Laune heraus kauft sich Jonas einen teuren Hut. "Die deutsche Industrie-Norm sieht für die Herren-Konfektion acht Hutgrößen vor, die nach dem Schädelindex zu bestimmen sind." Im Hutladen gibt es einen sogenannten Konformateur, ein kompliziertes Gerät zur Messung des "Schädelindex". "Man geht nicht mehr ohne Schädelindex!"


Jonas hat nicht viel von seinem edlen "Homburg Royal". In einer Schnellgaststätte wird er ihm gleich wieder von der Garderobe weg gestohlen. "Für Garderobe wird nicht gehaftet. Aber keine Angst, es kommt ja nichts weg!" Jonas stiehlt kurzerhand selbst einen Hut und macht sich davon. "Auge um Auge, Hut um Hut!" Doch Jonas wird mit dem "Ersatzhut" nicht froh: Er fühlt sich ertappt, beobachtet. Er betrachtet sein Beutestück und findet darin das Monogramm "M.S.", was ihn in Panik versetzt. Eine Rückblende, der noch weitere folgen werden, offenbart den Grund: Jonas war vor Jahren in einem Lager interniert. (Die Natur dieses Lagers bleibt unklar - vielleicht ein Kriegsgefangenenlager nach dem Zweiten Weltkrieg.) Zusammen mit seinem Freund Martin Seiler wagte er die Flucht. Schüsse fielen, Martin brach getroffen zusammen. Jonas kümmerte sich nur kurz um ihn, dann setzte er die Flucht fort und ließ den Sterbenden, der noch nach ihm rief, im Stich. Doch ist Martin wirklich tot? Hat etwa er sich nach ihm erkundigt? Fordert er Rechenschaft? Ist er ihm schon auf den Fersen, und hat Jonas unwissentlich seinen Hut gestohlen? Er muss den Hut loswerden. In der Schnellgaststätte hängt er den Hut unauffällig an den Ständer und macht sich aus dem Staub. "Geh ohne Hut, ohne Monogramm, ohne Schuld!" Doch ein aufmerksamer Kellner glaubt, er habe den Hut vergessen, und trägt ihn ihm hinterher. "Er kommt zurück! Ein Bumerang aus Filz!" Auch ein zweiter Versuch scheitert: Jonas wirft den Hut von einer Brücke, aber ein Junge bringt ihn wieder. "Die Vergangenheit, Jonas, ist ein Bumerang aus Filz!" Zuhause zerschneidet er den Hut geradezu panisch mit einer Schere und verbrennt ihn im Ofen. "Aber die Vergangenheit, Jonas, ist feuerfest."


Zusehends angeschlagen, wandert Jonas durch die Stadt und kommt dabei auch in eine Kirche, in der gerade von Jonas und dem Wal gepredigt wird. "Niemand wird hören deine Stimme ewiglich!". Er trifft Nanni wieder, die Verkäuferin aus dem Hutgeschäft. Die beiden gehen miteinander spazieren, sind sich sympathisch, doch letztlich reden sie aneinander vorbei. Nanni erzählt von ihren kleinbürgerlichen Vorstellungen vom Glück, mit denen Jonas nichts anfangen kann, und er ergeht sich in Andeutungen, ohne auszusprechen, was ihn umtreibt. Die beiden besuchen die fragliche Schnellgaststätte, doch M.S. hat inzwischen den Verlust des Hutes gemeldet und seine Adresse hinterlassen. Jonas wird aufgefordert, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen, aber in Panik sucht er das Weite. Während er ziellos durch die anbrechende Nacht irrt, lässt sich Nanni von einem Schnösel in ein Restaurant einladen. Er lässt sich dort "Herr Direktor" nennen, doch in Wirklichkeit ist er nur Versicherungsvertreter. Jonas wird wegen seines auffälligen Verhaltens von der Polizei aufgegriffen, aber wieder freigelassen. "Es ist die letzte Chance, Jonas! Der Herr verfolgt dich mit seinem Zorn wegen deiner alten Schuld, verfolgt dich bis zu der Erde Gründen!". Jonas beschließt, M.S. aufzusuchen, der vielleicht sein alter Freund Martin ist. Er klingelt, doch er bleibt im dunkeln, er wagt nicht, sich zu zeigen. Er findet keine Erlösung von seinem Schuldkomplex. "Die Erde hatte mich verriegelt ewiglich."


Jonas strandet nächtens wieder im Hutladen bei Nanni, doch die Begegnung endet mehr denn je in Jonas' Sprachlosigkeit. Nanni ergreift die Initiative und fährt mit dem Taxi selbst zu M.S., um die leidige Angelegenheit aus der Vergangenheit zu regeln. Doch M.S. kennt keinen Jonas, er heißt nicht Seiler, sondern Schmidt. Während ihrer Abwesenheit steigert sich Jonas - allein unter Hüten - in eine Art Delirium; als sie zurückkehrt, ist er verschwunden, aufgebrochen zu einer neuerlichen ziellosen Wanderung durch die Nacht.


"Der mutigste, einsamste, und unwiederholbarste deutsche Film unserer Tage. Kein anderer deutscher Film seit Jahr und Tag verfügt über ähnliche Bildkunst." (Gunter Groll, Süddeutsche Zeitung 1957). Im deutschen Filmschaffen der 50er Jahre ist JONAS fast eine singuläre Erscheinung. Auch ambitionierte Filme, wie etwa DER VERLORENE des vorübergehenden Heimkehrers Peter Lorre, wirken im Vergleich konventionell. JONAS wurde 1957 mit Erfolg auf der Berlinale gezeigt, er erhielt das Prädikat "Besonders wertvoll", gewann den Preis der deutschen Filmkritik 1957 für die Bildgestaltung, erhielt zwei Bundesfilmpreise sowie - man glaubt es kaum - einen Bambi. Auch im Ausland, insbesondere Frankreich, erregte er Aufmerksamkeit. Unverständnis und heftige Ablehnung gab es auch - im Adenauer-Deutschland nicht weiter verwunderlich. Das Aufsehen und der Erfolg lagen nicht am dürren Handlungsgerüst - ein Mann schleppt einen Schuld- und Verfolgungskomplex mit sich herum, ein Beziehungsversuch scheitert -, sondern an der formalen Gestaltung. Am ungewöhnlichsten war der polyphone Kommentar, der den größten Teil des gesprochenen Textes ausmacht (Dialoge sind fast auf die Begegnungen von Jonas mit Nanni beschränkt und dünn gesät). Regisseur Domnick schrieb auch das Drehbuch, doch die Kommentare verfasste Hans Magnus Enzensberger, und zwar, nachdem der Film bereits abgedreht war, so dass er - in Absprache mit Domnick - noch eine ganz neue Ebene über den Film legen konnte. Enzensberger war bis 1957 Hörfunkredakteur beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Im selben Jahr veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband und begann seine Laufbahn als freier Schriftsteller. Wie bereits erwähnt, bediente sich Enzensberger bei den Kommentaren auch authentischer Textbausteine. So war etwa "Übrigens...man geht nicht mehr ohne Hut!" ein Werbeslogan, der 1955 im Auftrag der deutschen Hut-Industrie von Plakatwänden prangte. Der vielschichtige Soundtrack von JONAS wird komplettiert durch Stücke von Duke Ellington sowie durch Musik und elektronische Geräusche von Winfried Zillig. Der Avantgarde-Komponist und Musiktheoretiker Zillig (1905-1963) war ein Schüler von Arnold Schönberg (was ihn nicht davon abhielt, auch einen Film wie WO DER WILDBACH RAUSCHT zu vertonen). Auch die Bildgestaltung von JONAS ist außergewöhnlich. Neben gelegentlichen Anklängen an den Expressionismus zeigt sich vor allem eine Tendenz zur Abstraktion. Von der Architektur geprägte Linien dominieren immer wieder das Bild. Hierin spiegelt sich Domnicks Begeisterung für abstrakte Kunst wider.


Ottomar Domnick (1907-1989) war ein wohlhabender Neurologe und Psychiater mit eigener Privatklinik in Stuttgart. Er war Kunstsammler und -mäzen, er fuhr Autorennen, spielte Cello - und er drehte unabhängig produzierte Filme. Nach zwei kurzen Dokumentarfilmen über Themen der abstrakten Kunst war JONAS der erste Spielfilm. Bis 1972 folgten vier weitere Filme, in denen sich die Tendenz zur Reduktion konventioneller Handlung zugunsten einer Abstraktion der Bild- und Tonsprache fortsetzte. Auch Domnicks Interessen und Erfahrungen als Nervenarzt flossen immer ein. In GINO (1960) bespitzelt ein junger italienischer Gastarbeiter im Auftrag eines eifersüchtigen Unternehmers dessen Ex-Frau, eine Schriftstellerin. Die mögliche Beziehung der beiden ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. OHNE DATUM (1962) ist eine radikale Reflexion über die Situation eines unheilbar an Krebs Erkrankten, mit Querbezügen zur atomaren Bedrohung. In N.N. (1968) soll ein Architekt ein Gefängnis bauen und kommt zur Erkenntnis, dass die ganze moderne Welt mit ihrer anonymen verwalteten Gesellschaft ein Gefängnis ist. Und AUGENBLICKE (1972) thematisiert die Umweltzerstörung, die damals gerade erst ins öffentliche Bewusstsein rückte, ohne Sentimentalität ("eine lyrische Paraphrase", wie Domnick sagte), gezeigt aus der Perspektive der menschenleeren Nachwelt. Überlagert sind die Reflexionen einer Psychose-Patientin, die den Zerfall ihrer Innenwelt analog zu dem der Außenwelt erlebt. 1979 schließlich drehte Domnick noch für den Süddeutschen Rundfunk das 43-minütige Selbstportrait DOMNICK ÜBER DOMNICK.


Es liegt nahe, in Domnick einen Vorläufer des "Jungen" oder "Neuen Deutschen Films" zu sehen, doch die Verbindungen zu den Jungfilmern der 60er Jahre waren nur schwach. Sie bestanden im Wesentlichen aus Herbert Vesely. Der in Wien geborene Vesely war in den 50er Jahren mit experimentellen Kurzfilmen hervorgetreten, vor allem NICHT MEHR FLIEHEN, der fast schon Spielfilmlänge hatte. Im Gegensatz zum Autodidakten Domnick hatte Vesely eine Filmschule besucht, und Domnick engagierte ihn für JONAS als technischen Berater. Im Februar 1962 gehörte Vesely zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, und sein im selben Jahr erschienener DAS BROT DER FRÜHEN JAHRE ist neben Ferdinand Khittls DIE PARALLELSTRASSE eines der Gründungswerke des Jungen Deutschen Films. Domnick ließ sich 1967 bei Nürtingen in der Nähe von Stuttgart eine Villa als Privatmuseum für seine Kunstsammlung (neben Gemälden abstrakte Metallskulpturen im Park) errichten. Die Villa und die Sammlung werden heute von einer Stiftung verwaltet, die Domnick und seine Frau gegründet haben, und sind der Öffentlichkeit zugänglich.

JONAS ist in Deutschland auf DVD erschienen. Für die, die es genau wissen wollen, gibt es ein Buch über die Entstehung des Films sowie ein weiteres, das sich speziell Enzensbergers Rolle widmet.

Freitag, 25. März 2011

Aktion deutscher Film

 
Der Intergalaktische Affenmann ist - wie schon Charles Darwin darlegte - dem durchschnittlichen Menschen entschieden überlegen; und so erstaunt es auch nicht, dass mein Blogger-Kumpel von Intergalaktische Filmreisen auf die Idee kam, eine Aktion ins Leben zu rufen, deren Anfänge sich zwar bescheiden geben, die aber letztlich nichts anderes zum Ziel hat als dem Interessierten eine Art Nachschlagewerk über Blogger-Einträge zum deutschsprachigen Film aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (vom billigsten Schlagerfilmchen über Goebbels Ablenkungsstreifen bis zum jedem Hollywood-Blockbuster überlegenen Meisterwerk) zu bieten. Ein solches Nachschlagewerk wäre einmalig im Internet, behandeln wir doch den deutschen Film regelrecht stiefmütterlich. Woran dies liegen mag, ist schwer auszumachen, geben sich z.B. Franzosen oder Italiener ihrer einheimischen Produktion gegenüber bekanntlich wesentlich aufgeschlossener. Und wir brauchen uns hinter so manchem billigen Machwerk aus Tinseltown, dem sich viele Blogger inbrünstig widmen, nun wirklich nicht zu verstecken.

Es wäre deshalb schön, wenn die Idee des Intergalactic Ape-Man bei jenen Leuten, die immer mal wieder einen deutschsprachigen Film (lobend, kritisierend, vernichtend) besprechen, Anklang fände. Denn vorläufig geht es lediglich um gegenseitige Inspiration, um das Erinnern an sehenswerte Filme - um ein Eingangsposting, mit dem die "Aktion deutscher Film" ins Leben gerufen werden soll. Gleichzeitig dürft ihr einige eurer Lieblingsfilme (wie auch immer ihr den Begriff definiert) auflisten und an die deutschsprachigen Filme erinnern, über die ihr schon geschrieben habt. - Den genauen Ablauf und die Teilnahmebedingungen (sie lesen sich nur am Anfang schwer) findet ihr hier:

http://intergalactic-ape-man.blogspot.com/2011/03/jetzt-mitmachen-aktion-deutscher-film.html

Dies könnte der Beginn einer Aktion sein, die dem deutschsprachigen Film in seiner erstaunlichen Vielfalt ein Erscheinungsbild ermöglicht und die Schreiber zur vermehrten Beschäftigung mit ihm anregt. Was mich anbelangt, so habe ich mir auf jeden Fall vorgenommen, mich nach meinem Urlaub als Blogger möglichst jeden Monat (sei es auch nur als Kurz-Review) einem Film aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz zu widmen.

Dies sind zehn meiner "Lieblingsfilme", die ich anderen Teilnehmern ans Herz legen möchte - wobei es mir darum ging, nicht nur in erster Linie die gängigen Streifen anzubieten, sondern  an  Filme zu erinnern, die als "Zeitdokumente" zu betrachten sind:

1.) Die weisse Hölle vom Piz Palü (Deutschland 1929)
- Das gewaltige Bergdrama von Arnold Fanck und Georg Wilhelm Pabst, das daran erinnert, was vielleicht aus dem deutschen Film geworden wäre, hätte nicht eines Tages ein humpelnder Propagandaminister gierig die Hände nach ihm ausgestreckt








2.) Romeo und Julia auf dem Dorfe (Schweiz 1941)
- Düstere Verfilmung der Novelle von Gottfried Keller von Hans Trommer, die als sagenumwobenes Meisterwerk des Schweizer Films lange Zeit verschollen war und leider auch heute nicht auf DVD zugänglich ist







3.) HD-Soldat Läppli (Schweiz 1959)
 - Verfilmung eines wahrhaft anarchischen Bühnenstücks von Alfred Rasser, das den "braven Soldaten Schwejk" zum Schweizer macht, der während des Zweiten Weltkriegs diverse Vorgesetzte in den Wahnsinn treibt








4.) Rosen für den Staatsanwalt (Deutschland 1959)
 - Wolfgang Staudtes bissige Abrechnung mit den ehemaligen Nazis, die in den 50er Jahren ihre Karriere ungebremst fortsetzten








5.) Dällebach Kari (Schweiz 1970)
- Der späte Anschluss des "Regisseurs für das Kleinbürgertum" Kurt Früh an den Jungen Schweizer Film erzählt in Form einer Ballade die Geschichte eines Berner Coiffeurs, der sich das Leben nimmt








6.) Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (Deutschland 1971)
- Wie alle Filme von Rosa von Praunheim aus künstlerischer Sicht höchst unbefriedigend, war das Plädoyer mit dem Motto "Raus aus den Toiletten, rein in die Strassen!" für die Entstehung einer  Schwulenbewegung in Deutschland von grosser Bedeutung - und veranlasste den BR, sich während der Fernsehausstrahlung auszuschalten




7.) Die Geschwister Oppermann (Deutschland/Schweden/Italien/Grossbritannien/Österreich/Schweiz  1983)
- Die aufwändige Romanverfilmung für das Fernsehen liess viele Leser erstmals erkennen, dass Lion Feuchtwanger als Romancier zu betrachten ist, der nicht hinter den Mann-Brüdern zurückstehen muss







8.) Heimat - Eine deutsche Chronik (Deutschland 1984)
- Wohl mehr als DAS deutsche Filmereignis seit 1945! Edgar Reitz begleitet ein kleines Dorf im Hunsrück und seine Bewohner durch über 60 Jahre deutsche Geschichte. Als Marathon in den Kinos vieler Städte gezeigt - und von der ersten bis zur letzten Minute fesselnd





 9.) Comedian Harmonists (Österreich/Deutschland 1997)
- Joseph Vilsmaiers Geschichte der berühmten Gesangsgruppe kommt zweifellos um einige Klitterungen nicht herum, glänzt  aber mit einem weitaus grösseren Unterhaltungswert als so viele Hollywood-Biopics - und erinnert an die  Melodien einer versunkenen Zeit








10.) Silentium (Österreich 2004)
- Was wohl nur die Österreicher in ihren besten Momenten können: den Dreck hinter Klerus und Kultur  auf so drastische Weise aufdecken. Hervorragende Romanverfilmung, benötigt eine Sichtung auch Untertitel








Und hier gibts noch eine - laufend erweiterte - Liste mit DÖS-Filmen, die von mir bereits besprochen wurden (sie zeigt auch, dass ich manche Veröffentlichungen sehenswerter Werke auf DVD vermisse):

 - Der zerbrochene Krug (1937)
- Gilberte de Courgenay (1941)
- Frauen sind doch bessere Diplomaten  (1941)
- Titanic (1943)
- Jetzt schlägt's 13(1950)
- Das Haus in Montevideo (1951)
- Feuerwerk (1954)
- Die Käserei in der Vehfreude (1958)
- Der Greifer (1958)
- Buddenbrooks (1959)
-Die Bande des Schreckens (1960)
- Das Glas Wasser (1960)
- Der junge Törless (1966)
- Die Frau in Weiss (1971)
- Lina Braake(1975)
- Das Brot des Bäckers (1977)
- Das Boot ist voll (1981)
- Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (1997)
- Achtung, fertig, Charlie! (2003)
- Tod eines Keilers (2006)
- Welthund (2008)
- Auge in Auge - Eine deutsche Filmgeschichte (2008)
- Die Entdeckung der Currywurst (2008)
- Glauser (2011) 

Das wärs für den Moment! Nun hoffe ich, auch andere Blogger für die Aktion deutscher Film interessiert zu haben - denn: sie könnte durchaus zu lohnenden Ergebnissen führen und dem deutschsprachigen Film zu jenem Ansehen verhelfen, das er verdient.

Whoknows

Samstag, 12. März 2011

DER LEICHENVERBRENNER

DER LEICHENVERBRENNER (SPALOVAČ MRTVOL)
Tschechoslowakei 1968
Regie: Juraj Herz
Darsteller: Rudolf Hrušínský (Karel Kopfrkingl), Vlasta Chramostová (Lakmé), Jana Stehnová (Zina), Miloš Vognič (Mili) u.a.

Karel Kopfrkingl ist Leichenverbrenner aus Beruf und Berufung. Um genau zu sein, er ist Angestellter im Krematorium einer tschechischen Stadt in den 1930er Jahren. Als geistige Richtschnur für seine Tätigkeit dient ihm ein Buch über tibetischen Buddhismus. Daraus bezieht er die Überzeugung, dass die Seelen der Toten erst dann in den Äther aufsteigen können und zu einer Wiedergeburt zur Verfügung stehen, wenn der Körper vollständig zerfallen sei. Das aber dauere bei einer Einäscherung 75 Minuten, bei einer Erdbestattung 20 Jahre. Somit sei es ein Gebot der Humanität, die Toten zu verbrennen, und zivilisierte Nationen erkenne man daran, dass sie den Krematorien einen hohen Stellenwert einräumen. Der Tod hat für Karel keinen Schrecken - irdisches Leiden ist ein Übel, der Tod dagegen eine Erlösung. Karel Kopfrkingl ist ein liebevoller Familienvater. Seine Frau heißt eigentlich Maria, doch er nennt sie Lakmé (die indische Titelheldin einer Oper), seine Tochter Zina ist 16. Gewisse Sorgen bereitet ihm sein 14-jähriger Sohn Mili, ein schlaksiger, schwächlicher Typ mit Brille und abstehenden Ohren - nicht ganz das, was sich Karel erhofft hatte! Karel Kopfrkingl ist auch ein guter Patriot. Als er seinen alten Kriegskameraden Walter Reinke, mit dem er einst im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft hatte, wiedertrifft, will ihn dieser für die NSDAP gewinnen. Doch Karel lehnt ab - fließt nicht tschechisches Blut in seinen Adern, spricht die Familie nicht Tschechisch?


Das muss Karel freilich überdenken, als sich die Deutschen zu den neuen Herren in Böhmen machen. Hat Deutschland nicht ein fortschrittliches Krematoriengesetz, ist also ein zivilisiertes Land? Und fließt nicht auch ein Tropfen deutsches Blut in seinen Adern? Karel tritt nun doch in die Partei ein. Das mit dem Blut will Karel genau wissen, und er befragt seinen Arzt Dr. Bettelheim, von dem er sich in zwanghafter Häufigkeit auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lässt. Doch der antwortet nur, Blut sei Blut, und der Rest sei Unsinn. Aber ist Dr. Bettelheim nicht Jude? Überhaupt, die Juden - Karels neue Freunde eröffnen ihm darüber Dinge, die er freilich schon immer geahnt hatte. Für Reinke spioniert er bei einem jüdischen religiösen Fest, doch weil da nichts besonderes passiert, erfindet Karel einfach, was Reinke hören will. Karel weiß auch gewisse Dinge über seinen Chef und seine Kollegen. Dieser hat sich abfällig über die Deutschen geäußert, jener ist morphiumsüchtig, und dergleichen. Es wäre unverantwortlich, solche Tatsachen für sich zu behalten. Ein paar klitzekleine Denunziationen, und Karel ist da, wo er eigentlich schon immer hingehörte - an der Spitze des Krematoriums. Umso schlimmer trifft ihn die Erkenntnis, dass Lakmé eine "Halbjüdin" ist. Karels Parteifreunde machen ihm klar, dass so eine Ehe sein Fortkommen erheblich behindern werde.


Dem Zuschauer ist inzwischen klar, dass Karel nicht nur ein übler Opportunist, sondern auch nicht ganz richtig im Kopf ist. Zu abstrus sind seine Thesen, zu merkwürdig manche seiner Verhaltensweisen. Wenn die Kamera seinen subjektiven Standpunkt einnimmt, ist das Bild oft durch eine Weitwinkeloptik verzerrt, besonders ausgeprägt im Krematorium, Karels Reich. Bald hat er eine Vision: Ein Abgesandter aus Tibet - in Karels eigener Gestalt - erscheint ihm und verkündet, er sei der neue Dalai Lama, ja Buddha selbst, und er werde in Lhasa erwartet, um die Welt zu erlösen. Vorher muss Karel freilich noch einige irdische Dinge regeln. Da ist zunächst Lakmé. Karel erhängt sie im Badezimmer, was sie wie in Trance ohne Widerstand geschehen lässt. Und Mili erst! Ist er nicht ein Weichling? Kein Wunder, bei dieser Mutter! Und hat man nicht in Sparta schwächliche Kinder beizeiten umgebracht, was letztlich auch zu ihrem eigenen Vorteil war, weil sie in der Welt doch nur gelitten hätten? Karel lockt Mili ins Krematorium, schlägt ihm mit einer Eisenstange den Schädel ein und verstaut die Leiche in einem Sarg zur späteren Entsorgung. Dieses Problem wäre zufriedenstellend gelöst. Aber hat Zina nicht auch jüdisches Blut in ihren Adern? Karel bringt auch sie ins Krematorium ... Am Ende des Films geht sein Wahnsinn in einem viel größeren auf: Die Deutschen engagieren ihn, um Verbrennungsöfen für Vernichtungslager zu konstruieren.


DER LEICHENVERBRENNER ist eine abgrundtief morbide und makabre Satire auf den Aufstieg eines Kleinbürgers in einer Diktatur. Mit Hilfe der überragenden Kamera von Stanislav Milota und des wunderbaren Soundtracks von Zdeněk Liška, und mit stilistischen Anleihen bei Expressionismus und Surrealismus, gelang Juraj Herz ein grandioser Film nach einem Roman von Ladislav Fuks, der mit Herz auch das Drehbuch schrieb. Auch der Schnitt ist virtuos. Das Zentrum des Films bildet aber Rudolf Hrušínský, der den Wirrkopf und Opportunisten mit einer bösartig schillernden Beiläufigkeit verkörpert. Das Lachen bleibt einem in diesem Film meist im Halse stecken, doch für etwas Entspannung sorgt ein ständig streitendes Paar, das als running gag immer wieder auftaucht. Ebenfalls immer wieder erscheint eine mysteriöse schwarzhaarige junge Frau, die außer Karel niemand zur Kenntnis nimmt. Ist sie eine Einbildung von ihm? Oder eine allegorische Figur, eine Art Todesengel, die ihn begleitet? Die Interpretation bleibt dem Zuschauer überlassen.


Juraj Herz, der nach wie vor aktiv ist und kürzlich mit HABERMANN Erfolge feierte, aber auch kontroverse Reaktionen hervorrief, gehörte seinerzeit zur "Neuen Welle" im tschechoslowakischen Film der 60er Jahre, die nach dem Vorbild der Nouvelle Vague benannt wurde. Während die meisten Protagonisten der Neuen Welle Tschechen sind und an der Prager Filmhochschule FAMU studiert hatten, ist Herz ein Slowake jüdischer Herkunft, der in Prag Fotografie und Puppentheater studierte, bevor er sich Regie und Schauspielerei zuwandte. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Herz mit seinen Eltern im Konzentrationslager Ravensbrück (zum Glück überlebte die ganze Familie). Seine berufliche Laufbahn begann Herz am Prager Semafor-Theater, wo er mit Jan Švankmajer einen Geistesverwandten traf (beide sind auch am selben Tag geboren). Švankmajer sollte mit seinen surrealen und oft abgründigen Animationsfilmen bekannt werden, und er und Herz arbeiteten bei ihren Filmen gelegentlich zusammen. In den früher 60er Jahren absolvierte Herz eine zusätzliche Ausbildung in den Prager Barrandov-Filmstudios, wo dann auch DER LEICHENVERBRENNER entstand. In dieser Zeit wirkte Herz als Regieassistent und Darsteller in Filmen von Zbyněk Brynych, Vojtěch Jasný und anderen mit, insbesondere bei DAS GESCHÄFT IN DER HAUPTSTRASSE von Ján Kadár und Elmar Klos, einem Klassiker des tschechoslowakischen Films.


DER LEICHENVERBRENNER ist Herz' dritter eigener Spielfilm, und die Dreharbeiten wurden im August 1968 durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts unterbrochen. Die Fortsetzung war gefährdet, weil Rudolf Hrušínský in Südbohmen untertauchte, doch nach einiger Zeit wurde es ihm dort zu langweilig, er kehrte nach Prag zurück, und es konnte weiter gehen. Die Neue Welle wurde nach dem Ende des Prager Frühlings weitgehend abgewürgt - viele Regisseure erhielten mehrjährige Berufsverbote oder gingen ins Ausland. Doch Herz traf es nicht so schlimm, vielleicht, weil er bis zum August 1968 nur einen Kurz- und einen Spielfilm herausbrachte und somit wenig Gelegenheit hatte, sich bei den Machthabern zu diskreditieren. Das hätte aber durchaus passieren können: Herz drehte als Schluss von DER LEICHENVERBRENNER einen Epilog, der 1968 vor den einrückenden russischen Panzern spielt, und in dem Karel Kopfrkingl wieder auftaucht. Doch der Direktor des Barrandov-Studios erhob Einspruch und ließ das Material herausschneiden, das seitdem verschollen ist. Herz vermutete, dass es der Direktor aus Angst vor Konsequenzen verbrennen ließ. Herz konnte seine Karriere jedenfalls relativ problemlos fortsetzen, und er bediente dabei eine Reihe von Genres, wie Horror (MORGIANA und DER AUTOVAMPIR), Musical, und insbesondere Märchenfilme. In MICH ÜBERFIEL DIE NACHT (1986) verarbeitete Herz seine Erfahrungen aus Ravensbrück. Darin gibt es eine Szene in den "Duschräumen" des KZ, bei der sich Steven Spielberg möglicherweise für SCHINDLERS LISTE bedient hat, jedenfalls soll die Übereinstimmung frappierend sein.


DER LEICHENVERBRENNER ist beim englischen Label Second Run auf DVD erschienen (engl. Titel THE CREMATOR).

Mittwoch, 9. März 2011

During Wind and Rain


Thomas Hardy (1840-1928) ist im deutschsprachigen Raum vor allem als bedeutender Erzähler bekannt, der in seinen Romanen nachzeichnete, wie sich sein ländliches England,  das noch die Gemeinschaft in den Mittelpunkt stellte, im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in eine von der Industrialisierung und einem rücksichtslosen Egoismus beherrschte Nation verwandelte, die nichts von ihren Opfern hören wollte. Dass Hardy als Lyriker nicht weniger bedeutend, ja vielleicht sogar noch einflussreicher war, dürfte, da sich Gedichte nur schwer und unzureichend in andere Sprachen übersetzen lassen, neben Fachleuten vor allem Liebhaber interessiert haben.

Tatsächlich fühlte sich Hardy, der Architektur studiert hatte, von Anfang an zum Lyriker berufen. Seine Gedichte fanden allerdings bei den Verlegern, die ganz auf den an die Romantik anknüpfenden Lord Alfred Tennyson und die "dramatic poetry" eines Robert Browning fixiert waren, kein Gehör. Und so wandte er sich dem im Viktorianischen Zeitalter ohnehin beliebten Roman zu, der ihm auch zu grossem Erfolg verhalf. - Als seine zunehmend pessimistischer werdenden Werke jedoch gegen Ende des Jahrhunderts auf harsche Kritik stiessen ("Jude the Obscure", 1895, wurde von boshaften Geistern in "Jude the Obscene" umbenannt), besann er sich wieder auf sein eigentliches Gebiet und veröffentlichte bis zu seinem Tod im Jahre 1928 mehrere Gedichtbände. Sie enthielten neben neuen Versen auch jene Arbeiten, die bereits während seiner Karriere als Romanschriftsteller entstanden waren; und heute darf man sagen, Thomas Hardy sei mit seinen über 900 Gedichten für die englische Lyrik des 20. Jahrhunderts (von den jung verstorbenen "War Poets" bis zu Philip Larkin, Ted Hughes oder Jon Silkin) von ähnlich grosser Bedeutung gewesen wie Walt Whitman für die amerikanische. Seine Rückbesinnung auf die englische Tradition (auch die der "oral poetry") führte letztlich dazu, dass der Modernismus etwa eines T.S. Eliot oder Ezra Pound nur  vorübergehend Nachahmer fand.

 Ländliche Idylle im 19. Jahrhundert: "Der Heuwagen" von John Constable (1776-1837)

Hardy's Lyrik ist nicht nur in metrischer und formaler Hinsicht äusserst vielgestaltig; sie umfasst neben Gedichten, in denen der Dichter als "private man" zum Ausdruck kommt, auch "Lieder" und Balladen (in den sarkastischen "Satires of Circumstance" aufs Nötigste reduziert) oder Verse, in denen er sich philosophischer Themen annimmt (Gedichte wie "Hap" erwecken z.B. den Eindruck, er hadere mit Gott wegen dessen Nicht-Existenz). Seine "public poems" wiederum zeigen, welch würdiger 'poeta laureatus' er eigentlich gewesen wäre, fand er doch gültige Worte für den Burenkrieg ("Drummer Hodge"), den Untergang der Titanic ("The Convergence of the Twain") und natürlich den Ersten Weltkrieg. - Was alle diese trotz gewisser Eigenheiten (Rückgriffe auf archaisches Vokabular, Wortneuschöpfungen) leicht zu verstehenden Gedichte durchzieht: Dem Augenblicklichen wird das Bleibende der Natur (die er etwa in "Snow in the Suburbs" auch in London entdeckt) entgegengestellt, das Werden und Vergehen betont ("Life and Death at Sunrise")  - und auf die  - zweifellos oft geringe - Hoffnung verwiesen (etwa wenn das lyrische Ich in "The Darkling Thrush" am letzten Tag des Jahres in der kalten Dämmerung den freudigen Klang einer alten Drossel vernimmt).

Es ist verständlicherweise schwierig, aus dieser riesigen Anzahl von Versen eine Handvoll Lieblingsgedichte auszuwählen. Der eine mag das schwer zu deutende "In Front of the Landscape" bewundern, der andere dem späten kleinen "How She Went to Ireland" den Vorzug geben. Wenn jedoch so etwas wie ein ultimatives, sogar von den dem Dichter sonst eher nicht so gesonnenen "New Critics" geachtetes Hardy-Gedicht existiert, dann ist es "During Wind and Rain":

During Wind and Rain

 They sing their dearest songs --
 He, she, all of them -- yea,
 Treble and tenor and bass,
   And one to play; 
 With the candles mooning each face. ...
   Ah, no; the years O! 
How the sick leaves reel down in throngs!

 They clear the creeping moss --
  Elders and juniors -- aye,
  Making the pathways neat
     And the garden gay;
  And they build a shady seat. ...
     Ah, no; the years, the years;
See, the white stormbirds wing across!

  They are blithely breakfasting all --
  Men and maidens -- yea,
  Under the summer tree,
    With a glimpse of the bay,
  While the pet fowl come to the knee. ...
    Ah, no; the years O!
And the rotten rose is ripped from the wall.

  They change to a high new house,
  He, she, all of them -- aye,
  Clocks and carpets and chairs
    On the lawn all day,
  And brightest things that are theirs. ...
    Ah, no; the years, the years;
Down their carved names the raindrop plows.

Kritiker vermuteten schon früh, das im Band “Moments of Vision” (1917) erschienene Gedicht sei im Umfeld der “Poems of 1912-13” anzusiedeln, in denen Hardy schuldig, fragend, sich erinnernd dem für ihn  unerwarteten Tod seiner ersten Frau Emma, einer Pastorentochter, nachging, mit der ihn einst eine grosse Liebe verband, die jedoch in eine gegenseitige Entfremdung und ein jahrelanges wortloses Nebeneinander mündete. Und man stellte nach der Veröffentlichung der “Notebooks” von Emma tatsächlich auch fest, dass Hardy für die ersten Zeilen einer jeden Strophe von “During Wind and Rain” eine Jugenderinnerung der Verstorbenen benutzte (er hatte  in Cornwall die Orte besucht, an denen sie aufwuchs).  - Dies mindert jedoch in keiner Weise die Bedeutung und Eindringlichkeit des Gedichts, in dem einem unbeschwerten, hoffnungsvollen Leben das Vergehen und der Tod entgegengestellt werden.

 Ich will mich hier nicht allzu detailliert in der “Kunst der Interpretation” üben. Der Leser erkennt von alleine vier auffallend analog und präzise gestaltete  Strophen, die dennoch in Details voneinander abweichen. Der erste Teil einer jeden Strophe schildert jeweils einen kleinen Ausschnitt aus einem glücklichen, möglicherweise mit den Augen eines staunenden Kindes wahrgenommenen Familienlebens, wobei in der zweiten Zeile in einem Semi-Refrain auf unterschiedliche Weise das Gemeinsame betont wird (he, she, all of them; elders and juniors etc.). Man kann sicher vieles in diese Szenen hineinlesen (etwa das langsame Erwachsenwerden), betrachtet sie aber wohl am besten als idyllische Momente in einem ländlichen England, in dem sich der Einzelne noch in einer singenden, den Garten bearbeitenden oder zusammen im Sommer draussen frühstückenden Gemeinschaft aufgehoben fühlt, die, man hat sich nach oben gearbeitet, am Ende ein grösseres Haus bezieht. Solche Momente kennen nur sich selber, bedenken ihre Vergänglichkeit nicht.

Max Gate, Dorchester. Das Haus, das Thomas Hardy ab 1885 bis zu seinem Tod bewohnte.
Hier entstanden viele seiner Gedichte.

Auffallend an der Gestaltung dieser Episoden ist das Bemühen, den Leser zum Beispiel durch Alliterationen (“shady seat”, “blithely breakfasting”) und das leichte Gleiten der Verse regelrecht zum lauten Mitlesen einzuladen, wozu ihn schon das gemeinsame Singen am Anfang aufzufordern scheint. Hardy, dem nachgesagt wird, vielen seiner Gedichte die Rhythmen alter Lieder zugrunde gelegt zu haben, schliesst  hier an die Tradition der ‘oral poetry’ mit ihrem liedhaften Charakter an, der vom Zuhörer ohnehin eine Teilnahme erwartet.

Die auf diese Weise auch vom Leser geteilten Glücksmomente werden allerdings im jeweils zweitletzten, leicht variierenden Vers durch das Klagen über das Vergehen der Jahre in Frage gestellt - und im  letzten Vers  einer jeden Strophe kündigt sich der Sturm an, der am Ende den heftigen Regen über die Grabsteine der mittlerweile Verstorbenen, die einst der kleinen Momente teilhaftig geworden waren, prasseln lässt. Diese letzten Verse weisen auch eine hinterhältige Verbindung zur vorangegangenen Szene auf: dem Singen wird das Geräusch der kranken  hinabwirbelnden Blätter entgegengesetzt, den fleissigen Bewegungen im Garten das rasche Vorüberfliegen der Vögel... --- Vor allem aber gerät selbst ein Engländer, der sich zum lauten Mitlesen verführen liess, beim Lesen dieser Verse mit ihren vielen Plosivlauten und anderen ungewohnten Konsonantenanhäufungen (“reel down in throngs”, "the rotten rose is ripped" etc.) beinahe ins Stottern. Denn diese Verse richten sich  nicht nach der "sangbaren" mündlichen Überlieferung; sie sind im wahrsten Sinne des Wortes “literate poetry”, und wer sie zusammen, als Gedicht für sich liest, erkennt rasch, dass man sie eigentlich als Grabinschrift, als Epitaph, betrachten kann.

So stehen Leben und Tod einander in einem Gedicht gegenüber, und der Leser, eben noch zum Mit-"Singen" verführt, fühlt sich aus seinem Rhythmus hinausgeworfen. Es ist dies ein bezeichnender, wenn auch nicht immer in solcher Perfektion zu findender Wesenszug der Gedichte Thomas Hardy's, die der im 19. Jahrhundert gerne zelebrierten Idylle und ihrer Eindeutigkeit noch etwas anderes hinzufügen: Er fordert im Gegensatz zu den Modernisten den Leser nicht zum mühsamen Interpretieren auf, sondern nimmt ihn scheinbar bei der Hand, lädt ihn ein,  um ihm dann doch den endgültigen Zugang zu verwehren. Im Titanic-Gedicht geschieht dies beispielsweise durch geradezu groteske Bilder, die dem Schrecken über das Unglück die Vergänglichkeit menschlicher Überheblichkeit entgegenstellen. Das lyrische Ich in "Wessex Heights" wiederum verneint die angebliche Befreiung von "Gedanken-Fesseln"  auf den Höhen allein schon durch die harten Laute ("mind-chains do not clank where one's next neighbour is the sky").  Weitere Beispiele gibt es zuhauf. - Hardy findet in dem kleinen  philosophischen Gedicht “Nature’s Questioning” sogar die Worte, die dieses Verhalten des Dichters, eine fehlende Eindeutigkeit, erklären: “No answerer I”. Ich bin nicht der Mann, der für euch die Antworten hat. - Und tatsächlich: Er war nur der Mann, der das unerklärliche, mächtige Walten der Natur beschrieb, der seinem "During Wind und Rain" mit dem während des Ersten Weltkriegs geschriebenen Gedicht "In Time of 'The Breaking of Nations'" auch das Bleibende inmitten der Zerstörung entgegenstellte:

Yonder a maid and her wight
   Come whispering by:
War's annals will cloud into night
    Ere their story die.

Und er war der Mann, der für sein ländliches England, deren singende und arbeitende Gemeinschaft mit Leben und Sterben in Einklang war, einzigartige Verse fand, aber auch das Vergehen dieses Englands in Worte fassen musste.

                       ***

Auch wenn es mir nicht gelungen sein sollte, jemanden zur Lektüre einzelner Gedichte dieses grossen Lyrikers, der mich schon seit vielen Jahren begleitet, zu bewegen, pausiere ich jetzt für fünf, sechs Wochen als Blogger und überlasse das Feld Manfred Polak, der euch sicherlich bei Gelegenheit spannende Beiträge zu bieten hat. - Bekanntlich stehen meine Ausflüge in die Literatur aber meistens nicht zusammenhanglos in der Gegend herum.  Dieses Mal handelt es sich sogar um eine Verpflichtung, nach den Ferien einen Film zu besprechen, der mir schon lange am Herzen liegt. Ich kann euch versprechen: Auch in diesem Film werden wir das Singen einer ländlichen Gemeinschaft vernehmen - und auch dort peitscht der Regen über die eingeritzten Buchstaben eines Grabsteins. - Wir lesen uns!

Samstag, 5. März 2011

Unmassgebliche Gedanken zu einem vollendeten Filmfragment

 "Ein Narr, wer mono.micha erzählt, von welchen Frauen er schwärmt."
(Altväterliches Sprichwort, soeben von mir erfunden)


Mulholland Drive - Strasse der Finsternis
(Mulholland Dr., USA/Frankreich 2001)

Regie: David Lynch
Darsteller: Naomi Watts, Laura Harring, Ann Miller, Justin Theroux, Dan Hedaya, Lee Grant, Robert Forster, Lori Heuring, Chad Everett, Billy Ray Cyrus u.a.

“... and now I’m in this dream place.” - Sicher, es geht um Träume in David Lynch’s Summa seines bisherigen Schaffens. Sie sind jedoch nur eines der vielen Motive, auf die man stösst, um festzustellen, dass sie bereits von anderen ausgeweidet wurden (etwa das von Benjamin Happel in seiner Besprechung  in den Mittelpunkt gestellte Strassen-Motiv, bei mir einfach in einem anderen Zusammenhang auftauchend). Und wer glaubt, dem Film mit dessen oberflächlichem Handlungsgerüst (die erfolglose Schauspielerin Diane träumt sich in eine für sie bessere Welt hinein, um im zweiten Teil mit der Wirklichkeit - und dem Wahn - konfrontiert zu werden) oder den kryptischen  Hinweisen des Regisseurs auf der Spur zu sein, irrt. Denn selbst im Traum wird der Traum zum Motiv, träumen doch auch darin vorkommende Figuren (etwa der Mann im “Winkie’s”) oder werden wie Adam Kesher aus ihren Träumen herausgerissen: “It’s no longer your film.” - Kesher, der nicht umsonst “Adam” heisst, ist überhaupt eine faszinierende Gestalt, an der sich zeigen lässt, wie tief  Lynch in kulturellen Vorstellungen und Bildern wühlt: Oberflächlich betrachtet ein Regisseur, dem zuerst freundlich (“I know you said you would entertain suggestions.”), später rücksichtslos und seine Existenz bedrohend eine Hauptdarstellerin aufgezwungen  wird, ist zugleich der sich allmächtig wähnende erste Mensch, der erkennen muss, wie klein seine wirkliche Bedeutung im Gefüge des göttlichen Zwergs ist (welch herrliche Vorstellung: einer der um die "richtige Eva" verhandelnden Erzengel im Raum hält sich für  einen Espresso-Experten!) - eine Erkenntnis, der er mit dem Zerstören (im Film des Wagens der Castigliane-Brüder und des Schmucks seiner untreuen Frau) begegnet.

Der Sinn dieser einleitenden Worte? - Es lohnt sich im Hinblick auf eine Besprechung ausnahmsweise kaum, gross Recherchen anzustellen, bietet “Mulholland Dr.” doch so viel Raum für eigene Begegnungen, deren Entfaltung im schlimmsten Fall durch sich ultimativ gebende Interpretationen verwehrt werden könnte. Es gilt auch zu bedenken, dass Lynch’s Film ein Fragment ist (ein ursprünglich für den amerikanischen Sender ABC gedrehter und abgelehnter Pilotfilm wurde bekanntlich dank “Canal Plus” um mehrere Szenen erweitert und mit einem neuen Ende versehen), dass ihm deshalb wohl eine fragmentarische Besprechung angemessen ist - und man sich der Bedeutungslosigkeit seiner Bemerkungen jederzeit bewusst sein sollte, zeigen doch sämtliche anderen Annäherungen: wir haben es nicht nur mit einem äusserst vielschichtigen, sondern - ein Phänomen, dem ich in der Filmgeschichte vorher nie begegnet bin! - einem  vollendeten Fragment, dessen Tiefe sich nicht in Worte fassen lässt, zu tun.


Zum nackten Handlungsgerüst: Die junge Schauspielerin Betty Elms ist nach Hollywood gekommen, um als Schauspielerin Karriere zu machen. Im Apartment ihrer in Kanada weilenden Tante Ruth begegnet sie einer mysteriösen dunkelhaarigen Frau, die nach einem nächtlichen Unfall ihr Gedächtnis verloren hat. Obwohl die Vermieterin Coco der Anwesenheit der Fremden mit Misstrauen begegnet, will Betty ihr helfen. Neben ihrem ersten Vorsprechen, bei dem sie auch dem von ihr faszinierten Regisseur Adam Kesher begegnet, der  jedoch bereits auf Camilla Rhodes als Hauptdarstellerin festgelegt wurde, begibt sie sich zusammen mit ihrer neuen Freundin, die sich (von einem Poster, auf dem die Hayworth als “Gilda” angekündigt wird, inspiriert) "Rita" nennt, auf Spurensuche. Sie stossen dabei  auf die verweste Leiche einer Frau namens Diane Selwyn, deren Anblick Rita zusammenbrechen lässt. - Der Besuch des eigenartigen Clubs “Silencio” am frühen Morgen verrät den beiden sich mittlerweile liebenden Frauen, womit sie es zu tun haben: “It is an illusion.” - Denn nachdem Rita einen in ihrer Tasche entdeckten blauen Würfel mit einem dreieckigen Schlüssel geöffnet hat, verändert sich das “Universum” des Films: Namen ändern sich, Figuren  nehmen neue Wesenszüge an, einigen bislang nicht einzuordnenden Gestalten  aus Nebensträngen (dem tolpatschigen  Gangster Gene, der nicht nur ein Blutbad anrichtet, sondern auch noch den Lärm verursachenden Staubsauger erledigt) und Szenen (etwa dem vor den Credits angedeuteten  Jitterbug-Wettbewerb) kommt sogar  plötzlich eine überraschende Funktion zu. Was der Zuschauer in der ersten Hälfte verfolgte, war nämlich der Traum der erfolglosen Schauspielerin Diane, die sich nach ihrer einstigen Geliebten Camilla (im Traum Rita) verzehrt und sie jetzt, da diese sich mit dem Regisseur Kesher verlobt hat, umbringen lassen will. Am Ende wird die eine trostlose Wirklichkeit nicht mehr Ertragende von Wahnvorstellungen verfolgt und erschiesst sich.

Ein Film, der so intensiv mit Schein und Sein spielt, selbst den Zuschauer lange über sein Spiel im Unklaren lässt, kann nicht zufällig in Hollywood angesiedelt sein: Hollywood ist der Ort, der Träume herstellt und zu erfüllen vorgibt, der Ort der Illusionen, auch der Ort, an dem sich  “Realitäten” gegenseitig überlappen, Identitäten verloren gehen (deshalb vielleicht die zahlreichen Vorahnungen und Déja-vu-Erlebnisse, besonders deutlich illustriert am Betreten des Zimmers, in dem sich eben noch die jungen Frauen aufhielten, durch die etwas wahrnehmende Tante Ruth, die in einer der "Wirklichkeiten" gar nicht in Kanada, sondern tot ist). - Und warum sollte  ein Traum, der zunehmend die Atmosphäre eines “film noir” annimmt, ja sich beinahe als Film versteht (Betty ermutigt ihre Freundin zu einer telefonischen Erkundigung mit den Worten: “It’ll be just like in the movies. Pretending to be somebody else.”), an diesem alles verzerrenden und vervielfältigenden Ort nicht realistischer wirken als die eigentliche Realität - falls diese überhaupt existiert? Die Bewegungen der Frauen in der “Betty”-Story (dem Traum) sind betont langsam, gleitend, auf Details wird Wert gelegt (ein Schwenk auf den mit Spiegeleiern und Speck gefüllten Teller des Kunden im “Winkie’s”, dem Haar eines Erschossenen wird bis zu den Spitzen gefolgt). Die “Diane”-Realität wirkt  hingegen bruchstückhaft trist, man weiss manchmal nicht, ob man einer chronologischen Darstellung folgt - oder sich gar  in einer "Wirklichkeit" befindet, die wir gemeinhin als "Traum" bezeichnen. --- Beim Dreh im Studio scheint die Verwandlung  von einer Gestalt in eine andere wie von selber zu funktionieren: Betty, der noch eben das untalentiert geschriene  Einüben des Texts für ein Vorsprechen solche Schwierigkeiten bereitete, benötigt vom Partner, einem älteren, offenbar nach jungen Schauspielerinnen gierenden Typen, nur den Hinweis: “I wanna play this one nice and close” - schon verwandelt sie sich in ein  wahrhaftes Luder, das seine Hand an ihren Hintern drückt. Ganz so leicht ist es jedoch nicht, wenn man aus der einer traumhaften Realität zu verdankenden faszinierenden Frau in eine möglicherweise wirkliche geworfen wird, deren Sein fragmentarischer wirkt als ein Leben im Traum.

Dieses intensive Verändern der Realitäten ist noch mehr als in früheren Arbeiten das eigentliche Thema in Lynch’s Film, der trotz der herrlichen Aussichten auf das nächtliche Los Angeles vom Mulholland Dr. hinab auch  eine boshafte Abrechnung mit der Traumfabrik wurde. Er dekonstruiert (wer hätte mir diesen  verachteten "terminus technicus" je zugemutet?) das berühmte “Gleiten” durch die Kamera, das aus alltäglichen Menschen Stars macht (ich erinnere an die verblüffte Feststellung eines Sir Laurence Olivier, der an sich über die Zusammenarbeit mit Marilyn Monroe für seinen  Film “The Prince and the Showgirl”, 1957, keineswegs glücklich war, er müsse dem unscheinbaren Wesen die Gabe zugestehen, sich in der Kamera in eine Göttin zu verwandeln). - Und er fragt: Was geschieht in der Kamera? Wer oder was ermöglicht dieses  Gleiten von einer Realität in die nächste? - Es scheint mir, er greife hier nicht zuletzt auf den Behaviorismus zurück, der sich mit dem Phänomen der “Black Box” - für die im Film der geheimnisvolle blaue Würfel steht - beschäftigte - und zur ernüchternden Einsicht kam, dass wir  das "Sein zu etwas" nicht verstehen können, nämlich was in der Box geschieht. Lynch, der Wühlende, stösst hingegen auf das bizarre Figuren-Arsenal, für das er bekannt ist, legt dem Cowboy Worte in den Mund, die sich wohl mysteriöser geben als sie sind - und vermag gewisse Stränge wegen des fragmentarischen Charakters seines Werks  - was vielleicht durchaus dem Wesen dieses Wühlens angemessen ist - auch nicht auszuarbeiten. Gleichzeitig gelingt es ihm jedoch,  beängstigende Bilder für die dunkle Allmacht zu finden, die dieses von so vielen Schauspielern ersehnte, letztlich jedoch auch nicht Erlösung bringende Gleiten ermöglicht: es ist ein Hollywood, das sich längst nicht mehr in den Händen von Studiobossen, Produzenten und Regisseuren befindet, sondern von einer sonderbaren Mafia zu dem Gehorsam gezwungen wird, den ein undurchschaubarer Gott (ein Zwerg hinter Glas!) einfordert. - Über dem berühmten "Hollywood"-Schriftzug am Mount Lee, Symbol für eine Träume erschaffende und lebende Welt, sieht man  denn auch überdeutlich die riesigen Antennenanlagen, die Tinseltown zur kalten, hochtechnisierten  und mit Sicherheit überwachten Angelegenheit machen. Und das Umkreisen der Wolkenkratzer sagt: Ihr habt ja keine Ahnung, was hinter dieser Kälte vor sich geht!

Der Club “Silencio” wiederum lässt uns erahnen, was mit den Sich-Verwandelnden geschieht: Sie, die einander vorübergehend Angeglichenen (Rita trägt jetzt eine blonde Perücke!), der früheren Identität Entledigten, gelangen während eines Roy Orbison-Songs  weinend zur ernüchternden Erkenntnis,  dass “no hay banda”, dass es keine Band gibt, alles Illusion ist und bleibt - sie lediglich noch nicht wissen, welche Rolle sie in der nächsten Scheinrealität einnehmen werden, wenn sie den Würfel geöffnet und die Black Box durchschritten haben. -  Rita ist das Glück hold: Sie verwandelt sich in den von Kesher begehrten Star Camilla, die freundliche Vermieterin Coco in dessen arrogante Mutter - und die naive, unschuldige Betty wird zur verzweifelt Masturbierenden, die sich mit Mordgedanken trägt und anlässlich der um Kesher's mondänen Pool stattfindenden Party dabei zusehen muss, wie Camille jene ihr unbekannte Frau küsst, die in ihrem Traum als unbegabte Camilla Rhodes vorkam. --- Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen den beiden Rollen in zwei Studioszenen herausgearbeitet: Im "Traum" erfasst Betty das winzige Fenster, in dem die sich vorstellende Schauspielerin ihr “Sixteen Reasons” singt, zu Beginn gar nicht als solches, und selbst nach dem Wahrnehmen des Studiocharakters mit seinem Apparat steht sie, der angehende Star,  im Mittelpunkt des Interesses, da sie den Regisseur augenblicklich anzieht. In der "Realität" ist das kleine Auto, in dem Kesher dem Schauspieler vorführt, wie er Camilla halten soll (wobei er sie vor den Augen einer die Tränen mühsam zurückhaltenden Diane gleich noch leidenschaftlich küsst), vom ganzen Set umgeben.


Lynch benutzt seit Dennis Hopper’s Schreckensfahrt in ”Blue Velvet” (1986)  immer wieder das Motiv der Strasse, die eine Figur von einem Ort zum anderen bringt  (respektive sie zwischen den Realitäten wechseln lässt) - oder bringen sollte. Dass die Strasse eine äusserst problematische und unsichere Anglegenheit ist, verdeutlicht er bei dieser Gelegenheit  auch gerne: In “Wild at Heart” werden Sailor und Lulu bekanntlich förmlich von der bösen Hexe aus Victor Flemings “The Wizard of Oz” verfolgt; ein Schwenk in den Himmel (üblicherweise das probate Mittel, wenn man zeigen will, wie schnell die Zeit im Film vergeht) dient in “The Straight Story” (1999) der Darstellung der Langsamkeit, des nicht Vorwärtskommens - und in “Lost Highway” (1997) scheint Bill Pullman - dies ohne Anspruch auf Richtigkeit! - mitten auf dem Highway in den Tod stecken zu bleiben. Ähnliches widerfährt Rita, die auf dem Mulholland Dr. eigentlich erschossen werden sollte, aber in Diane's Traum wegen eines Unfalls stecken bleibt, damit sie zu Betty's Geliebter werden kann. - Zweifellos  ein verständliches Hinauszögern des Gleitens  auf einer Strasse, die in eine sie zur Leidenden, Nebensächlichen verdammenden Realität  führen wird (man beachte in diesem Zusammenhang die im Gegensatz zur Strasse zum Erfolg trostlose Gasse vor dem Club, auf der nur ein paar Papierfetzen herumwirbeln!).

Nach dem gescheiterten Versuch, ihre Geliebte umbringen zu lassen, wird Diane im Wahn vom alten Ehepaar heimgesucht, das ihr auf dem Flug nach Los Angeles (Realität und Fiktion durchdringen sich oft im Traum) vermutlich wirklich Gesellschaft leistete. Sie nimmt sich das Leben, damit das Sich-Bewegen in unterschiedlichen Wirklichkeiten endlich ein Ende findet. Bringt diese Tat die Erlösung? Die blauhaarige Dame im “Silencio” scheint es zu bestätigen. - Es ist  Lynch aber zuzumuten, dass er uns mit “Mulholland Dr.” nur Diane’s  Todestraum gezeigt hat, der sie wiederum in eine andere Scheinrealität führt...

Wenig wurde gesagt in diesem langen Eintrag; und was gesagt wurde, entsprang einem völlig westlich geprägten Gehirn, das sich nicht annähernd in den Kosmos dieses Regisseurs einzudenken vermag. Man könnte auch die Traum-Problematik weiterverfolgen und sich fragen, ob  "Mulholland Dr." den Zuschauer dermassen anzieht, weil er ein kollektives Unbewusstes anspricht: Wir alle träumen, träumen uns in schönere Welten - und befinden uns gelegentlich vor dem Aufwachen in jenem magischen Club, in dem wir auf boshafte Weise mit der Illusion konfrontiert werden, der wir uns hingaben. - Dennoch: "Mulholland Dr." scheint mir tatsächlich  ein wenig deutbarer zu sein als "Lost Highway". Das soll aber nicht heissen, er sei weniger tiefgründig. Im Gegenteil:  Lynch lädt den Zuschauer geradewegs zu einer für seine Verhältnisse nach der zweiten oder dritten Sichtung einigermassen nachvollziehbaren Geschichte mit Retro-Chic ein, damit dieser überhaupt eine Chance erhält, sich in seine Mythen einzuleben. Selbst das Rätsel um den Mann im "Winkie's" löst sich auf: Er war anwesend, als Diane den Mordauftrag erteilte, und erhält im Traum die Fähigkeit, ihr Unbewusstes (den Obdachlosen, der auch kurz vor ihrem Selbstmord erscheint!) erfasst, sie durchschaut zu haben.


Dass ich mich so gut wie gar nicht über mein persönliches Empfinden für Lynch’s Klassiker, an dem jeder  seither zum Jahrhundertwerk hochstilisierte Versuch, sein Publikum mit unterschiedlichen Zeit- und Traum-Ebenen zu beeindrucken (Aronofsky's "The Fountain", 2006, Nolan's "Inception",  2010 etc.), kläglich scheitert,  schon gar nicht über meine Begeisterung für Naomi Watts und die anderen Darsteller (die grosse Ann Miller in ihrer letzten Rolle!) ausgelassen habe, wird man bemerken Sollte ich, da diese Besprechung für einen Pedanten zum Glück auch jetzt schon  weniger als unvollständig ist? Übrigens: Einer meiner Kollegen betrachtete die beiden Detektive, die sich zu Beginn über den nächtlichen Unfall unterhalten, als Reverenz an die auf dem Friedhof umherlaufenden Polizisten in  Ed Wood's "Plan 9 From Outer Space" (1959). - Silencio!

Montag, 28. Februar 2011

Kurzbesprechung: Sukkar banat



Caramel
(Sukkar banat, Libanon/Frankreich 2007)

Regie: Nadine Labaki

Regisseurin Nadine Labaki widmete das kleine Filmjuwel "Sukkar banat" ihrem Beirut, der Stadt, die als  das "Paris des Nahen Ostens" bezeichnet wurde, bevor der Libanon Mitte der 70er Jahre bis 1990 zum Schauplatz  eines Bürgerkriegs wurde.  Obwohl die Unruhen bis heute nie ganz nachliessen, weisen die Bilder lediglich diskret auf die Vergangenheit und die allgemeine Lähmung im Land hin: ein für heimliche Rendezvous benutzter vernachlässigter Schrottplatz, das herunterhängende "B" über dem Schönheitssalon "Si Belle", dem wichtigsten Schauplatz des Films - oder die nur notdürftig geflickten Hausmauern im einst verwüsteten Viertel. -  Denn im Mittelpunkt stehen die scheinbar alltäglichen Geschichten einer Handvoll Frauen, die sich regelmässig im Salon der Christin Layale einfinden und versuchen, den Spagat zwischen Tradition und Moderne in einem von Männern (sie bleiben Randfiguren) dominierten Land zu meistern. Aber nicht nur die Probleme und Problemchen der Protagonistinnen sind anders als in den typisch schwerfälligen Frauenfilmen, mit denen uns Hollywood immer wieder beliefert; der libanesische Mikrokosmos unter weiblichem Vorzeichen wird auch mit einer Leichtigkeit dargeboten, die geradezu verblüfft und den Zuschauer, ob weiblich oder männlich, augenblicklich in ihren Bann zieht. - Markenzeichen (und sich keineswegs aufdrängende Metapher) des Kinodebüts ist die auf Caramelbasis beruhende Epiliermasse, die salzig, süss und sauer zugleich, den Besucherinnen von "Si Belle" ziemlich schmerzhaft die Haare entfernt.

Die heimlich von einem Polizisten bewunderte Layale ist in einen verheirateten Mann verliebt, der sie jedoch nur für gelegentliche Nümmerchen im Auto ausnutzt und nicht daran denkt, seine Familie zu verlassen. Ihre muslimische Mitarbeiterin Nisrine erzählt den Freundinnen kurz vor der Hochzeit, dass sie nicht mehr Jungfrau ist. Jamale, eine regelmässige Kundin, die in Werbefilmen auftreten möchte, ist so besessen von ihrem Jugendlichkeitsfimmel, dass sie sogar vorgibt, ihre Periode noch zu haben. Unterdessen verliebt sich die offen lesbisch lebende Rima in eine Kundin, die sich von ihr regelmässig die Haare waschen lässt. - Die ältliche Nachbarin Rose, die mit ihrer dementen Schwester in der Nachbarschaft lebt und sich den Lebensunterhalt als Schneiderin verdient, erhält  wiederum die Chance ihres Lebens: ein französischer Gentleman verfällt ihr so sehr, dass er immer wieder bei ihr auftaucht, um sich seine Hose noch kürzer machen zu lassen...

Der von Laienschauspielerinnen getragene Film, der an verschiedenen Festivals gezeigt und von der Kritik mit Begeisterung aufgenommen wurde, lebt aber nicht nur von seinen -  mit bemerkenswertem Sinn für Zwischentöne dargebotenen - Geschichten und Sehnsüchten. Es geht ihm auch, vielleicht sogar in erster Linie, um das Einfangen der Atmosphäre einer Stadt, die trotz alltäglicher Wehwechen ein Paradies für das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen sein könnte, wäre da im Hinterkopf nicht das Wissen um das unausweichliche Scheitern paradiesischer Zustände. Teils westlich, teils nahöstlich anmutende Musik begleitet Aufnahmen, die zum Weinen schön sind und die wunderbare Ode an die Frauen in einem der liberaleren Länder des Nahen Ostens zu einem Erlebnis machen. --- Kurz nach Fertigstellung von "Sukkar banat", wurde Beirut erneut von Unruhen heimgesucht. Dies zeigt, auf welch tönernen Füssen der im Schönheitssalon "Si Belle" gelebte friedliche Alltag steht.

Donnerstag, 24. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 2: Luis García Berlanga

Teil 1: Juan Antonio Bardem

DER HENKER (span. EL VERDUGO, ital. LA BALLATA DEL BOIA)
Spanien/Italien 1963
Regie: Luis García Berlanga
Darsteller:
  • Nino Manfredi (José Luis Rodríguez)
  • Emma Penella (Carmen)
  • José Isbert (Amadeo)
  • José Luis López Vázquez (Antonio Rodríguez)

José Luis Rodríguez hat es nicht leicht. Eigentlich will der junge Mann nach Deutschland gehen, um sich zum Mechaniker ausbilden zu lassen, doch vorerst ist er nur Totengräber. Und zuhause muss er noch seinem älteren Bruder Antonio, einem Schneider, zur Hand gehen und dabei seine zänkische Schwägerin ertragen. Als er eines Tages mit seinem Kollegen die Leiche eines Hingerichteten im Gefängnis abholt, lernt er den Henker kennen: Amadeo ist ein freundlicher alter Mann, der mit seiner Tochter Carmen in bescheidenen Verhältnissen lebt. José Luis und Carmen kommen sich näher - und sie sind auch wie geschaffen füreinander. Denn sobald mögliche Heiratskandidaten Carmens vom Beruf ihres Vaters erfahren, suchen sie das Weite, und José Luis ergeht es mit potentiellen Freundinnen nicht anders. Als Carmen schwanger wird, wird geheiratet. Amadeo, der vor der Pensionierung steht, sähe José Luis gerne als seinen Nachfolger, doch der sträubt sich. Um mehr Wohnraum zu haben, beantragt Amadeo für sich und das Paar eine Neubauwohnung in einem Hochhaus. Die wird auch bewilligt, jedoch nur unter der Bedingung, dass sich Amadeo im Ruhestand befindet. Jetzt muss endgültig ein Nachfolger her, und um der Wohnung willen erklärt sich José Luis, nach einigen abgebrochenen Anläufen, zähneknirschend dazu bereit. Amadeo erleichtert ihm die Entscheidung, indem er erklärt, dass die Verurteilten ohnehin alle in letzter Minute begnadigt würden.


Etwas später. Die neue Wohnung ist bezogen, das Kind ist da. José Luis ist jetzt offiziell Henker, doch er hofft inständig, das Amt nie ausüben zu müssen. Aber bald kommt ein Brief vom Ministerium: José Luis soll in Palma de Mallorca seines Amtes walten. So macht sich die ganze Familie mit Kind und Kegel auf zur Ferieninsel. Je näher der Hinrichtungstermin rückt, desto mehr schlottern José Luis die Knie ...


DER HENKER ist eine bitterböse, makabre und bisweilen schrille Komödie. Und wie die meisten von Berlangas Komödien, hat sie kein richtiges happy end. "Das werde ich nie wieder tun!", sagt der in sich zusammengesunkene José Luis nach getaner Arbeit zu seiner Familie. "Das habe ich mir beim erstenmal auch geschworen", entgegnet Amadeo gelassen, und er macht damit klar, dass José Luis weitermachen wird - er wird sich an das Töten gewöhnen. Und Carmen steckt diskret das Geldbündel beiseite, das José Luis als Lohn erhalten hat. DER HENKER verteilt Seitenhiebe und Sticheleien nach vielen Richtungen - die Mühen des Familienlebens auf engem Raum, pietätloser Umgang mit Toten, die Wohnungsbürokratie, der Massentourismus auf Mallorca, der beginnt, das Verhalten der Einheimischen zu ändern, und anderes mehr. Doch im Zentrum steht die Todesstrafe, die wie ein Damoklesschwert nicht über den Opfern, sondern über dem Henker in spe schwebt. José Luis' Sorgen sind durchaus realistisch begründet. Die Todesstrafe wurde in Spanien meist mit der Garrotte vollzogen, einer Vorrichtung zum Erdrosseln des Delinquenten. Die letzten Hinrichtungen mit der Garrotte fanden in Spanien 1974 statt, und bei einem der beiden Opfer hat die Prozedur aufgrund der Unerfahrenheit des Henkers eine halbe Stunde gedauert. Der letzte Gang von José Luis' erstem "Kunden" gerät zu einer grotesken Umkehrung der üblichen Rollen. Während der Verurteilte teilnahmslos vor sich hin trottet, sträubt sich José Luis mit Händen und Füßen. Die Gefängniswärter müssen ihn regelrecht zur Hinrichtungsstätte schleifen, und kurz davor übergibt er sich. Schon vorher hat man ihm in der Gefängnisküche reichlich Alkohol eingeflößt. Der abgeklärte Amadeo sieht das alles gelassen. "Gesetz ist Gesetz", sagt er einmal, "und irgendwer muss es ausführen".


Ebenso wie Bardems DER TOD EINES RADFAHRERS, ist DER HENKER eine spanisch-italienische Coproduktion. Neben dem Star Nino Manfredi und einem Nebendarsteller war Kameramann Tonino Delli Colli der italienische Beitrag zum Film. Delli Colli war einer der renommiertesten italienischen Kameramänner - er drehte unter anderem 13 Filme für Pasolini, ZWEI GLORREICHE HALUNKEN, SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD und ES WAR EINMAL IN AMERIKA für Sergio Leone, und einige Spätwerke von Fellini (mit dem Berlanga gut befreundet war). DER HENKER lief 1963 bei den Festspielen in Venedig, und verursachte eine kleine diplomatische Krise zwischen Spanien und Italien, denn der Film wurde von der Zeitgeschichte eingeholt. Im April bzw. August 1963 wurden der Kommunist Julián Grimau und die Anarchisten Francisco Granados Mata und Joaquín Delgado Martínez hingerichtet, was weltweite Proteste nach sich zog. In dieser Situation mochte das Franco-Regime keinen spanischen Film, der die Todesstrafe thematisiert, im Ausland gezeigt sehen. Der spanische Botschafter in Italien protestierte gegen die Vorführung in Venedig. Hinter der Kampagne stand vor allem Manuel Fraga Iribarne, von 1962-69 Tourismus- und Informationsminister, und in dieser Eigenschaft sowohl für das Filmwesen in Spanien als auch für die Kommunikation der Todesurteile an die Öffentlichkeit zuständig (wir werden ihm gleich nochmal in anderem Zusammenhang begegnen). Doch DER HENKER wurde auf dem Festival gezeigt und gewann den FIPRESCI-Preis. Franco persönlich soll daraufhin gesagt haben: "Berlanga ist kein Kommunist, er ist etwas schlimmeres als ein Kommunist, er ist ein schlechter Spanier."


Luis García Berlanga stammte aus einer großbürgerlichen Familie. Sein Vater war Politiker in der spanischen Republik, und nach dem Bürgerkrieg wurde er inhaftiert und zum Tod verurteilt. Teils um ihm zu helfen, teils aus Abenteuerlust, meldete sich Luis freiwillig zur Blauen Division, einem spanischen Verband, der für Hitler in Russland kämpfte. Er war jedoch nicht an Kämpfen beteiligt. Sein Vater wurde nicht hingerichtet, aber er blieb bis 1952 im Gefängnis und starb einige Monate nach seiner Freilassung. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg studierte Berlanga kurz Architektur und Literatur, doch 1947 wechselte er zur neu gegründeten Filmhochschule IIEC, wo er Juan Antonio Bardem kennenlernte. Nach dem gemeinsam mit Bardem gedrehten ESA PAREJA FELIZ war WILLKOMMEN, MR. MARSHALL sein erster allein inszenierter Spielfilm. Es geht um ein rückständiges Dorf, das sich auf den Empfang einer amerikanischen Delegation vorbereitet, die Gelder nach dem Marshall-Plan verteilen soll. Der Film lief 1953 in Cannes und gewann den Preis für die Beste Komödie, und es gab eine Besondere Erwähnung für Bardem, Berlanga und Miguel Mihura für das Drehbuch (Mihura trug allerdings so gut wie nichts dazu bei). Und WILLKOMMEN, MR. MARSHALL erregte ein Skandälchen, weil amerikanische Diplomaten und Edward G. Robinson in seiner Eigenschaft als Jury-Mitglied gegen den Film protestierten und ihm Antiamerikanismus vorwarfen. Das war kaum gerechtfertigt. Berlanga stichelte, wie so oft, in viele Richtungen, auch gegen die Amerikaner, aber in erster Linie doch gegen die eigenen Landsleute. Was Robinson betrifft, so vermutete Berlanga, dass er sich als besonders guter Patriot profilieren wollte, nachdem er in Hollywood ins Visier der Kommunistenjäger geraten war. Wie dem auch sein mag, der Rummel war gute Werbung und sorgte dafür, dass ESA PAREJA FELIZ, der zunächst keinen Verleih gefunden hatte, jetzt auch ins Kino kam. Nach den nicht ganz so erfolgreichen NOVIO A LA VISTA und CALABUCH folgte 1957 LOS JUEVES, MILAGRO. In einer Kleinstadt fabrizieren die Honoratioren und ein Gauner falsche Wunder, um einen Wallfahrtsort mit den entsprechenden Einnahmen zu kreieren. Da hier die katholische Kirche direkt attackiert wurde, schlug die Zensur heftig zu. Erst nach endlosen Änderungen wurde der Film freigegeben, und es wurde sogar ein nicht von Berlanga gedrehter Schluss angeklebt.


1959 und 1960 schrieb der bis dahin erfolglose Schriftsteller und Journalist Rafael Azcona die Drehbücher, jeweils nach eigenen Romanen, zu zwei Filmen von Marco Ferreri. (Der Italiener Ferreri drehte seine ersten drei Spielfilme in Spanien.) Die Filme machten Eindruck und brachten frischen Wind in das spanische Kino. Berlanga engagierte daraufhin Azcona für seinen nächsten Film PLÁCIDO - und dann für jeden seiner Filme bis 1987, insgesamt elf. (Azcona arbeitete auch weiterhin für Ferreri. Er war an insgesamt 17 seiner Filme beteiligt, darunter die bekanntesten, die skandalträchtigen DAS GROSSE FRESSEN und DIE LETZTE FRAU. Auch an einigen der besten Filme von Carlos Saura und am Oscar-gekrönten BELLE EPOQUE war Azcona beteiligt.) Azcona brachte ein pessimistisches Weltbild, gepaart mit schwarzem Humor, in Berlangas Filme ein. In PLÁCIDO geht es um weihnachtliche Wohlfahrtsaktivitäten der Oberschicht, an deren Ende die Reichen ihr Prestige gemehrt haben und die Armen ärmer sind als zuvor. Nach dem Trubel um EL VERDUGO bekam Berlanga Schwierigkeiten, und er drehte zwei seiner nächsten drei Filme im Ausland. Nach dem Ende der Diktatur konnte er 1978 mit LA ESCOPETA NACIONAL (wörtlich "die nationale Schrotflinte") seinen größten Publikumserfolg feiern. Diese sarkastische Komödie um eine Jagdgesellschaft in den 60er Jahren war von einem realen Ereignis inspiriert: Im Februar 1964 schoss der bereits erwähnte Manuel Fraga Iribarne auf einer Jagd versehentlich ins Hinterteil von Francos Tochter. Der Erfolg zog 1980 und 1982 zwei weitere Teile nach sich, die nun in der Gegenwart angesiedelt waren. Die Protagonisten der Trilogie, eine aristokratische Familie, müssen sich widerwillig an das neue demokratische Spanien anpassen.


Es folgten bis 1999 noch vier weitere Spielfilme und ein Fernseh-Zweiteiler, 2002 schließlich noch ein Kurzfilm. Im Gegensatz zum ausgesprochen linken Bardem war Berlangas politische Einstellung weniger fassbar, aber er war immer subversiv bis anarchisch, und er schöpfte dabei aus volkstümlichen Traditionen wie dem Sainete, schwankhafte und dabei sozialkritische Einakter mit Musik, die in Spanien vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein populär waren. Der im November 2010 verstorbene Berlanga gewann Festivalpreise in Cannes, Venedig, Berlin, Karlovy Vary und anderswo, und er erhielt zahllose Auszeichnungen und Ehrungen.


EL VERDUGO und weitere Filme Berlangas sind in Spanien auf DVD erschienen, abgesehen von WILLKOMMEN, MR. MARSHALL jedoch ohne Untertitel. Zu PLÁCIDO und EL VERDUGO gibt es auf einschlägigen Seiten englische Untertitel zum Download. Über Berlanga ist eine Dissertation erschienen, die man käuflich erwerben kann.

Samstag, 19. Februar 2011

Ausharren in der Diktatur - Teil 1: Juan Antonio Bardem

Teil 2: Luis García Berlanga

DER TOD EINES RADFAHRERS (span. MUERTE DE UN CICLISTA, ital. GLI EGOISTI)
Spanien/Italien 1955
Regie: Juan Antonio Bardem
Darsteller:
  • Lucia Bosé (María José)
  • Alberto Closas (Juan)
  • Bruna Corrà (Matilde)
  • Carlos Casaravilla (Rafa)
  • Otello Toso (Miguel)
  • Julia Delgado Caro (Juans Mutter)
  • Matilde Muñoz Sampedro (Nachbarin des Radfahrers)

Eine einsame Landstraße, irgendwo außerhalb von Madrid, im Morgengrauen. Eine Limousine braust durch den Regen - und fährt einen einsamen Radfahrer über den Haufen. Am Steuer sitzt María José de Castro, die Frau des reichen Industriellen Miguel Castro, neben ihr Juan Fernandez Soler, ihr Geliebter. Die beiden haben die Nacht irgendwo miteinander verbracht, und nun haben sie es eilig, wieder in die Stadt zu kommen. Juan steigt aus, um sich den bewusstlosen Radfahrer anzusehen, doch María José ruft ihn zum Wagen zurück. Niemand ist weit und breit zu sehen. Die beiden lassen den Verletzten liegen und fahren weiter. Am nächsten Tag macht auf einer Gesellschaft der geistreiche und etwas schmierige Kunstkritiker Rafa, der sich auf den Partys der High Society aushalten lässt, María José gegenüber Andeutungen, dass er sie am vorigen Tag gesehen habe, und dass er für sein Schweigen gewisse Gegenleistungen erwarte, was sie in Panik geraten lässt. Juan, ein Assistenzprofessor für Mathematik - eine Stellung, die er seinem einflussreichen Schwager verdankt -, liest unterdessen während der mündlichen Prüfung einer Studentin in der Zeitung, dass der Radfahrer gestorben ist. Gedankenabwesend bricht er die Prüfung ab, was dazu führt, dass Matilde Luque, die Studentin, durchfällt.


Juan, der seit dem Unfall aus dem Grübeln nicht mehr herauskommt, sucht die Wohnung des Radfahrers, eines einfachen Fabrikarbeiters, in einer schäbigen Mietskaserne auf. Er gibt sich als Reporter aus, um einerseits etwas über den Toten und seine Familie zu erfahren, und um andererseits herauszufinden, ob die Polizei etwas weiß. Er trifft die Witwe nicht an, aber eine Nachbarin erzählt ihm alles, was er wissen will. Die Polizei weiß nichts und glaubt nicht, den Unfall jemals aufzuklären. Doch beruhigt ist Juan nicht - es arbeitet in ihm. Rafa stellt unterdessen María José seine Forderungen: Er will nicht nur Geld, sondern auch sie, was sie angewidert zurückweist. Betrunken erzählt Rafa María Josés Mann Miguel daraufhin, was er weiß. Doch der ist gewillt, die ehrbare Fassade der Familie aufrechtzuerhalten, und bügelt Rafa ab. Und María José erkennt, dass Rafa nur von ihrem Verhältnis weiß, aber vom Unfall keine Ahnung hat. Nach Miguels Reaktion auf Rafa ist sie ihre Sorgen weitgehend los. Matilde stellt Juan wegen der Prüfung zur Rede, und sie wirft ihm vor, dass er selbstsüchtig sei und sich das nur wegen der Protektion durch seinen Schwager leisten könne. Juan kann nicht anders, als ihr recht zu geben, und er ist von ihrer Courage und Ehrlichkeit beeindruckt. Er war mit seinem bisherigen Leben ohnehin nicht zufrieden, insbesondere mit seiner Stellung an der Universität, die er nur seinen verwandtschaftlichen Beziehungen verdankte. Als aufgebrachte Studenten wegen seines Verhaltens eine gewalttätige Demonstration durchführen und seine Absetzung fordern, zieht er die Konsequenzen und tritt zurück. Und er spricht María José gegenüber aus, was sich in seinem Verhalten bereits andeutete: Er will sich der Polizei stellen, und er fordert sie auf, ihn zu begleiten ...


DER TOD EINES RADFAHRERS vereint Stilmittel des Film noir mit denen des Neorealismus, mit der von Lucia Bosé (alternative Schreibweise Bosè) gespielten María José als femme fatale. Die in Mailand geborene Bosé, die "Miss Italy" von 1947, stieg 1948 in die Schauspielerei ein. Hierzulande ist sie am besten durch ihre Hauptrollen in CHRONIK EINER LIEBE (1950) und DIE DAME OHNE KAMELIEN (1953), zwei Frühwerke von Michelangelo Antonioni, in Erinnerung. Bei ihrer Ankunft zu den Dreharbeiten in Madrid lernte sie den berühmten Stierkämpfer Luis Miguel Dominguín kennen, den sie wenig später heiratete. Die Ehe und die drei Kinder, die daraus hervorgingen, führten zu einer rund zehnjährigen Unterbrechung ihrer Karriere, doch nach ihrer Scheidung 1967 setzte sie ihre Laufbahn fort (ihre bislang letzte Rolle spielte sie 2007). Die anderen Darsteller in DER TOD EINES RADFAHRERS waren mir alle unbekannt, doch sie machen ihre Sache durchweg gut. Neben Bosé stellen Bruna Corrà (Matilde) und Otello Toso (Miguel) - sowie natürlich ein Teil der Finanzierung - den italienischen Anteil an der Coproduktion dar.


Die Welt der reichen Oberschicht und die proletarische Mietskaserne, die Juan aufsucht, bilden einen grellen Kontrast, doch im Vordergrund des Films stehen nicht die materiellen Klassengegensätze, sondern die Geisteshaltung des Vergessens und Verdrängens, der Flucht aus der Verantwortung. Man kann DER TOD EINES RADFAHRERS allegorisch verstehen: Der tote Radfahrer steht danach für die Klasse der Arbeiter und Bauern, die im Spanischen Bürgerkrieg und auch in den ersten Jahren danach zu Hunderttausenden interniert, gefoltert und ermordet wurden. Juan repräsentiert dann die Mittelschicht, die das siegreiche Regime mittragen muss, ob sie will oder nicht, und die zum Schweigen über die Verbrechen der Vergangenheit verurteilt ist. María José schließlich repräsentiert die Oberschicht, die Stützen des Systems, die von der Situation profitieren und ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen. Es gibt einige mehr oder weniger offene Hinweise auf die spanische Vergangenheit, auf den Bürgerkrieg. Die Stelle, an der der Radfahrer überfahren wird, und an der gegen Schluss des Films eine weitere entscheidende Szene stattfindet, war zugleich eines der Schlachtfelder im Krieg, wo Juan selbst in den Schützengräben lag, wie er María José erzählt. Juans Mutter sagt einmal: "Ich schaue oft in dieses Fotoalbum. Ich sehe meine Kinder aufwachsen. Die erste Kommunion, Schule, Militärdienst, Politik, der Krieg, der Tod." Kirche, Schule, Militär, Politik, Krieg, Tod - eine bemerkenswerte Reihe. Es gibt auch noch subtilere Hinweise, und vermutlich einige, die mir entgangen sind.


DER TOD EINES RADFAHRERS lief 1955 bei den Filmfestspielen in Cannes, jedoch nicht im Wettbewerb um die Goldene Palme, weil Bardem selbst in der Jury saß. Doch der Film gewann in Cannes den Preis der internationalen Filmkritiker (FIPRESCI-Preis). Juan Antonio Bardem (1922-2002) und sein Freund und Kollege Luis García Berlanga (1921-2010) gelten als die wichtigsten spanischen Regisseure der 50er und 60er Jahre (wenn man den Exilanten und mexikanischen Staatsbürger Luis Buñuel nicht berücksichtigt). Bardem entstammte einer Schauspielerfamilie. Sein Vater Rafael Bardem und seine Mutter Matilde Muñoz Sampedro spielten in fünf bzw. sieben seiner Filme mit, seine jüngere Schwester Pilar Bardem, ebenfalls Schauspielerin (vier Einsätze in Bardem-Filmen), ist die Mutter von Javier Bardem, inzwischen bekanntester Spross der Familie. J.A. Bardem war zeitlebens Kommunist und ab 1943 Mitglied der unter dem Franco-Regime verbotenen Kommunistischen Partei Spaniens (PCE). Er machte einen Abschluss als Landwirtschaftsingenieur und trat eine Stelle in der Filmabteilung des Landwirtschaftsministeriums an, doch 1947 wechselte er an die Madrider Filmhochschule IIEC, die gerade erst nach dem Vorbild des italienischen CSC gegründet worden war, machte dort jedoch keinen Abschluss. Die Filmhochschule sollte eigentlich den staatlichen Einfluss auf das Filmwesen stärken, brachte jedoch (ähnlich wie das italienische Vorbild, das von Mussolini ins Leben gerufen wurde) eine Reihe von begabten und kritischen Geistern hervor. Am IIEC befreundete sich Bardem mit seinem Mitstudenten Berlanga, mit dem zusammen er 1949 den stummen Kurzfilm PASEO POR UNA GUERRA ANTIGUA schrieb und inszenierte. 1950 folgte ein Kurzfilm über den Madrider Flughafen, den Bardem allein drehte.

Das Filmschaffen im repressiven Spanien der 40er Jahre war von Belanglosigkeit und Mittelmäßigkeit geprägt - Musicals, Flamenco-Folklore, seichte Melodramen und Komödien. Bardem und seine Mitstreiter wollten das ändern. Ein Schlüsselereignis für den spanischen Film der 50er Jahre war eine Woche des Italienischen Films, die 1951 in Madrid stattfand, und in der vor allem die Hauptwerke des Neorealismus gezeigt wurden. (Ebenfalls gezeigt wurde Antonionis CHRONIK EINER LIEBE mit Lucia Bosé.) Bardem, Berlanga und andere bezogen ihre Inspiration daraus, ohne den Neorealismus direkt zu kopieren. In seiner Zeit am IIEC hatte Bardem auch die Montagetheorien des sowjetischen Stummfilms studiert - zeitweise trug er den Spitznamen "Bardemstein", obwohl er mehr Wsewolod Pudowkin als Eisenstein zuneigte.


Das franquistische Regime kam den Bestrebungen nach besseren Filmen etwas entgegen. Man wollte die internationale Isolierung durchbrechen und nicht ewig das Schmuddelkind unter den westlichen Staaten bleiben, deshalb gab man sich ein etwas liberaleres Antlitz (mit Erfolg: 1953 wurde ein Truppenstationierungsabkommen mit den USA geschlossen, und 1955 trat Spanien der UNO bei) und versuchte, mit kulturellen Leistungen international zu punkten. Das Spanische Filminstitut, das dem Tourismus- und Informationsministerium unterstand, war teilweise mit relativ gemäßigten und fachkundigen Leuten besetzt und bildete bisweilen ein Gegengewicht zur von der katholischen Kirche dominierten allgegenwärtigen Zensur (viele der Zensoren waren Priester). Andererseits wurde der Film als ein Propagandamittel betrachtet, mit dessen Hilfe die Bevölkerung auf die nationale Einheit getrimmt werden sollte, und dementsprechend gab es eine Reihe von Vorschriften, die beachtet werden mussten. Beispielsweise durfte in spanischen Filmen nur Spanisch gesprochen werden, und nicht etwa Katalanisch, Galicisch oder gar Baskisch.


Bardem und Berlanga schlossen sich 1951 wieder zusammen und schrieben und inszenierten gemeinsam ESA PAREJA FELIZ (übersetzt "Dieses glückliche Paar"). Berlanga konzentrierte sich dabei auf die mise-en-scène, Bardem auf die Schauspielerführung. Der Film war nicht nur vom Neorealismus beeinflusst, sondern auch von Jacques Beckers ZWEI IN PARIS (1947), der eine ähnliche Handlung aufweist. Der für seine Zeit in Spanien ungewöhnliche ESA PAREJA FELIZ fand zunächst keinen Verleih und kam erst 1953 heraus. 1952 schrieben Bardem und Berlanga das Drehbuch zu WILLKOMMEN, MR. MARSHALL, bei dem Berlanga allein Regie führte, und 1954 arbeitete Bardem am Script von Berlangas NOVIO A LA VISTA mit. Danach entwickelten sich die beiden filmisch etwas auseinander, blieben jedoch befreundet. Während Bardem einem geradlinigen, politisch engagiertem Stil verpflichtet blieb, benutzte Berlanga meist das Mittel der Farce, um menschliche und gesellschaftliche Schwächen offenzulegen. Ich werde im zweiten Teil des Artikels auf Berlanga zurückkommen.

Die ersten von Bardem allein inszenierten Spielfilme, CÓMICOS und FELICES PASCUAS, entstanden 1953 bzw. 1954, dann folgte DER TOD EINES RADFAHRERS. 1956 erschien HAUPTSTRASSE (CALLE MAYOR), der neben DER TOD EINES RADFAHRERS als Bardems bester Film gilt. Eine Gruppe von Taugenichtsen bringt einen gutaussehenden Trottel dazu, einer schüchternen Einzelgängerin einen üblen Streich zu spielen, indem er ihr schöne Augen macht. Wider Erwarten verlieben sich die beiden. Wie in DER TOD EINES RADFAHRERS, vereint auch HAUPTSTRASSE die präzise Schilderung psychologischer Vorgänge mit subtiler Gesellschaftskritik. Die Hauptrolle spielte die Amerikanerin Betsy Blair, die ein Jahr zuvor in MARTY von Delbert Mann eine ähnliche Rolle hatte und dafür für den Oscar nominiert wurde (MARTY gewann auch die Goldene Palme in Cannes, als Bardem in der Jury saß). DIE RACHE (LA VENGANZA) von 1958, ein Drama um Rache und Vergebung mit Raf Vallone in der Hauptrolle, war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Während der Dreharbeiten zu HAUPTSTRASSE, kurz nachdem DER TOD EINES RADFAHRERS den Kritikerpreis in Cannes erhalten hatte, wurde Bardem erstmals inhaftiert, aufgrund internationaler Proteste jedoch nach zwei Wochen wieder freigelassen (unter den Protestierenden befanden sich beispielsweise Charlie Chaplin und Albert Schweitzer). Es blieb nicht sein letzter Gefängnisaufenthalt: Insgesamt war Bardem siebenmal in Haft. Es versteht sich auch von selbst, dass viele seiner Filme von der Zensur gebeutelt wurden. Oft musste er umfangreiche Änderungen an den Drehbüchern und Schnittauflagen hinnehmen, und auch der Schluss von DER TOD EINES RADFAHRERS machte Konzessionen an die Zensur. Nach seiner ersten Verhaftung erwog Bardem die Emigration, wurde aber zum Bleiben überredet.


Bardem versuchte nicht nur durch seine Arbeit als Regisseur, die Qualität des spanischen Films zu heben. 1953 gründete er die Filmzeitschrift Objetivo, die das Niveau der Filmkritik in Spanien verbessern sollte, und die auch über von der Zensur verbotene Filme berichtete. Nach zwei Jahren und neun Ausgaben wurde die Zeitschrift von den Behörden selbst verboten. 1955 beteiligte sich Bardem an einer Filmkonferenz, die als Conversaciones de Salamanca bekannt wurde. Als einer der Wortführer auf der Konferenz hielt er eine Brandrede, in der er das traditionelle spanische Kino in Grund und Boden verdammte. Am wichtigsten war jedoch Bardems Engagement in der kommunistisch beeinflussten Filmproduktionsfirma Unión Industrial Cinematográfica (UNINCI), die von 1949 bis 1962 existierte. Ab 1958 war Bardem Präsident dieser Firma, die bereits Berlangas WILLKOMMEN, MR. MARSHALL produziert hatte. Zu seinen Mitstreitern in dieser Phase gehörten Berlanga, Ricardo Muñoz Suay, Carlos Saura und der Stierkämpfer Domingo Dominguín (der weniger berühmte Bruder des bereits erwähnten Luis Miguel Dominguín). Auch progressive Schauspieler wie Francisco (Paco) Rabal, Fernando Fernán Gómez und Fernando Rey gehörten zum Dunstkreis von UNINCI. Der größte Triumph der Firma führte zugleich zu ihrem Untergang. 1961 produzierte UNINCI auf spanischer Seite Luis Buñuels VIRIDIANA, mit ausdrücklicher Billigung des Spanischen Filminstituts unter seinem damaligen Leiter José María Muñoz Fontán. Bardem mochte Buñuels Drehbuch nicht - es war ihm zu unpolitisch -, und er bezeichnete es Saura, Buñuels größtem Fan und Fürsprecher innerhalb UNINCI, gegenüber sogar als "Schwachsinn" und Buñuel selbst als "Rechtsanarchisten". Doch der Film wurde gemacht, auch deshalb, weil der mexikanische Coproduzent Gustavo Alatriste fast die gesamten Kosten trug, und mit ein paar Tricks und Protektion durch Muñoz Fontán durch die Zensur gebracht. VIRIDIANA lief 1961 als offizieller spanischer Wettbewerbsbeitrag in Cannes, wo er in letzter Minute eintraf, und gewann die Goldene Palme (gemeinsam mit einem Film von Henri Colpi). José Maria Muñoz Fontán persönlich nahm freudestrahlend die Trophäe entgegen, doch bald verging ihm das Lachen. In der Vatikan-Postille L'Osservatore Romano erschien unmittelbar nach dem Festival ein Artikel, der VIRIDIANA als Blasphemie verdammte, und der katholische Klerus in Spanien und anderswo stimmte in den Chor ein. Die Franquisten fielen aus allen Wolken. Muñoz Fontán und die Mitglieder seiner Delegation in Cannes wurden noch während der Heimreise gefeuert, VIRIDIANA wurde in Spanien verboten und alle greifbaren Kopien eingezogen und vernichtet, und die Medien mussten den Film totschweigen. Doch es war alles umsonst: Buñuel, Alatriste und eine Kopie des Films waren längst wieder in Mexiko, von wo aus VIRIDIANA weltweit vermarktet wurde. Das Regime rächte sich, indem die Behörden und die Justiz UNINCI soweit behinderten, dass die Firma keinen einzigen Film mehr drehen konnte und bald bankrott war.


Das war für den progressiven Film in Spanien ein herber Schlag, insbesondere für junge, noch nicht arrivierte Regisseure wie Saura, der nach seinem ersten Spielfilm DIE STRASSENJUNGEN von 1960 den nächsten erst 1964 drehen konnte. Bardem selbst konnte in den 60er und 70er Jahren weiterarbeiten, aber die Qualität und der Erfolg seiner Filme nahmen langsam ab. DIE VERSUCHUNG HEISST JENNY (1965) mit Melina Mercouri, James Mason und Hardy Krüger war eine uninspirierte internationale Coproduktion, DIE GEHEIMNISVOLLE INSEL (1973) eine Jules-Verne-Verfilmung mit Omar Sharif als Kapitän Nemo, die sowohl als Spielfilm wie auch als TV-Miniserie erschien. Doch dazwischen gab es immer noch Filme, in denen anhand der Widersprüche und Entfremdung einzelner Protagonisten (die überdurchschnittlich oft Juan hießen) das nach wie vor repressive System unterschwellig attackiert wurde. Nach dem Ende der Franco-Diktatur 1975 genoss Bardem natürlich weit mehr Freiheiten als zuvor, und sein kreatives Potential war noch nicht erschöpft, und auch seine politische Einstellung hatte er sich bewahrt. SIEBEN TAGE IM JANUAR (1979) erzählt die wahre Geschichte der Ermordung einiger Kommunisten durch eine faschistische Untergrundorganisation im Jahr 1977, und DIE MAHNUNG (1982), eine Coproduktion verschiedener Ostblockstaaten, handelt von den Aktivitäten eines bulgarischen Widerstandskämpfers gegen die Nazis in den 30er Jahren. Nach einigen Fernseharbeiten folgte 1998 ein mit RESULTADO FINAL passend betitelter letzter Spielfilm. Der 2002 verstorbene Bardem war einige Jahre der Vorsitzende der spanischen Regisseursvereinigung, und er erhielt zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen. Im Jahr seines Todes erschien seine Autobiographie.


DER TOD EINES RADFAHRERS ist in den USA bei Criterion und in Hongkong bei Bo Ying (in guter Qualität) auf DVD erschienen (engl. Titel DEATH OF A CYCLIST).