Dienstag, 19. April 2011

Kurzbesprechung: Die Entdeckung der Currywurst


Die Entdeckung der Currywurst
(Die Entdeckung der Currywurst, Deutschland 2008)

Regie: Ulla Wagner

Filme, die ganz auf das Schweigen setzen, sind in unserer beredten Zeit eine Rarität. In Ulla Wagners lose auf einer Novelle von Uwe Timm basierendem "Die Entdeckung der Currywurst" ist das Schweigen sogar nötiger Bestandteil der Geschichte; denn diese spielt in einer Zeit, in der jedes verräterische Geräusch lebensgefährlich sein konnte. Mit dem Schweigen geht hier aber auch ein Verschweigen wichtiger Dinge einher, mit dem man sich ein paar Tage Glück zu erkaufen versucht.

Im Hamburg nach dem Zweiten Weltkrieg begegnet Lena, eine reife Frau mittleren Alters und Besitzerin einer Imbissbude, einem jungen Mann, dem sie während der letzten Kriegstage Unterschlupf gewährte. Zwischen der Kantinenleiterin und dem desertierten, weil zum Endkampf an der Heimatfront abkommandierten Marinesoldaten war damals eine kurze, geheim gehaltene Liebesbeziehung entstanden,   die Lena mit einer Lüge zu verlängern versuchte, als sie den sie abhorchenden Nazi-Hauswart nicht mehr zu fürchten brauchte.Doch der junge Mann brach aus seinem goldenen Käfig aus, um zu seiner Familie zurückzukehren. Und während Lena die letzten Tage des Untergangs paradiesisch vorgekommen waren, stand sie jetzt  - eine alternde Frau - vor einer grossen Leere - bis sie zufällig die Currywurst erfand* und ihr Leben erneut in die Hand nahm. - Die beinahe wortlose Begegnung an der Imbissbude währt wiederum nur kurz, man geht jedoch im Frieden auseinander.

Eine solche Hinterhofgeschichte, die uns eine andere, ganz private Seite vom “Untergang” zeigt und in der Trümmerhaufen und Militärfahrzeuge eine Nebenrolle spielen, bedarf Schauspieler, die in der Lage sind, sie schweigend, der sie begleitenden zarten Musik den Vorrang lassend, zu tragen. Ulla Wagner fand sie in Barbara Sukowa, einer ehemaligen Fassbinder-Muse, und dem jungen Alexander Khuon. - Unprätentiöse kleine Filme wie “Die Entdeckung der Currywurst” werden natürlich nicht vom Jubelgeschrei der Menge begleitet und finden ihre Zuschauer oft erst in Fernsehen. Trotzdem sollten ihre innere Grösse und die Fähigkeit, ihnen überhaupt Leben einzuhauchen, nicht unterschätzt werden. Man stelle sich vor, was für eine geschwätzige Angelegenheit Hollywood aus einer solch stillen Romanze, die nur als Ausnahmezustand eine Chance hat, machen würde! - Ich möchte hier von einer bemerkenswerten, wenn auch nicht mit Fanfarenstössen angekündigten Leistung des deutschen Films reden, die es immer wieder zu würdigen gilt.

*Um Berliner, die sich bekanntlich für die Erfinder des ungeniessbaren Zeugs halten, nicht zu beleidigen, sei hier betont, dass wir es  mit einer fiktiven Geschichte zu tun haben.

Samstag, 16. April 2011

Ein letzter Triumph des ländlichen Englands

Die Herrin von Thornhill
(Far From the Madding Crowd, Grossbritannien 1967)

Regie: John Schlesinger
Darsteller: Julie Christie, Terence Stamp, Peter Finch, Alan Bates, Prunella Ransome, Fiona Walker u.a.

Nachdem  die um 1960 entstandenen sozialkritischen Schwarzweiss-Werke aus England zu überraschenden Erfolgen geworden waren, erlebte der britische Film dank einer liberalen Filmförderung, die auch ein Engagement amerikanischer Studios ermöglichte, zwischen 1960 und 1970 einen eigentlichen Höhepunkt. Zu den vielfältigen (qualitativ höchst unterschiedlichen) Produktionen, die in diesem Zeitraum entstanden, gehörten unter anderem “Kostümfilme”, wobei die bereits vorhandene Szenerie gerne für damals sehr erfolgreiche Historienschinken (Zinnemann’s “A Man for All Seasons”, 1966, Charles Jarrott’s “Anne of the Thousand Days”, 1969) benutzt wurde. - Zwei bedeutende Regisseure der “British New Wave” entschieden sich jedoch, Klassiker der englischen Literatur zu verfilmen: Tony Richardson machte aus Henry Fielding’s “Tom Jones” 1963 ein unwiderstehliches Spektakel, das dem Schelmenroman mehr als gerecht wurde - und erntete für das hierzulande leider etwas vergessene Meisterwerk vier Oscars. John Schlesinger wiederum nahm sich 1967, eine Spitzenbesetzung aufbietend, eines Romans des Viktorianers Thomas Hardy (1840-1928) an - und wurde von der Kritik nach allen Regeln der Kunst verrissen. Da  sein “Far From the Madding Crowd” meine liebste Hardy-Verfilmung ist  (und dass Julie Christie, die bekanntlich zu meiner Göttin erkoren wurde, die weibliche Hauptrolle spielt, darf hier als nebensächlich betrachtet werden), möchte ich den Film zu rehabilitieren versuchen.

“Far From the Madding Crowd”, 1874 veröffentlicht, war Hardy’s vierter Roman, und er war, auch wenn ich etwas verallgemeinere, der Roman, der “gerade noch die Kurve kriegte”. Denn obwohl sein “Happy End” nur für zwei der Hauptfiguren gilt, vermag doch das dem Schriftsteller so am Herzen liegende ländliche, den Menschen auffangende England noch einen letzten Triumph zu feiern, während mit “The Return of the Native” (1878) jene Phase einsetzte, die dem Einzelschicksal keine Chance mehr gewährte und  die in die zutiefst tragischen naturalistischen Romane “Tess of the d’Urbervilles” (1891)  und “Jude the Obscure” (1895) münden sollte. - Der nach einigen eher idyllischen Werken entstandene “Far From the Madding Crowd” ist hingegen einem Realismus verpflichtet, der Wesen und Walten der Natur (auch deren Unberechenbarkeit) präzise in seine Geschichte einbindet und faszinierende Schilderungen des bäuerlichen Lebens im Verlauf der Jahreszeiten bietet. Erzählt wird die Geschichte der in der Arbeit disziplinierten, in Liebesdingen launischen Bathsheba Everdene, die die Farm ihres Onkels erbt und gleich von drei Männern umgarnt wird. Natürlich entscheidet sie sich für den falschen, den Windhund Frank Troy, der ihr Vermögen verspielt und sie ins Unglück zu stossen droht. Erst spät erkennt sie, dass sie sich die ganze Zeit über auf die Hilfsbereitschaft des naturverbundenen Gabriel Oak (man beachte den Nachnamen!) verlassen konnte...

 Was gab es nun an Schlesinger’s Arbeit (seiner dritten mit Julie Christie, die für “Darling”, 1965, früh, vielleicht zu früh, einen Oscar erhalten hatte) auszusetzen? - Es waren neben der meines Erachtens unberechtigten  Kritik an der Leistung der Hauptdarstellerin vor allem zwei Dinge, die zeigen, wie wenig man sich mit der literarischen Vorlage auseinandergesetzt hatte: Zum einen kolportierte man gern die von Roger Ebert in der Chicago Sun-Times veröffentlichte Kritik, der Film gehe auf die sozialen Probleme der Zeit überhaupt nicht ein, sondern beschränke sich auf eine stereotype, sich an Hollywood anbiedernde romantische Liebesgeschichte, zwar in hübschen Bildern dargeboten, aber zweieinhalb Stunden nicht ausfüllend.  Zum anderen warf man (ein Vorwurf, der sich im Zusammenhang mit Michael Winterbottom’s “Jude”, 1996, wiederholte und eigentlich auch für Polanski's “Tess”, 1979, gilt) dem Drehbuch vor, es liege zu nah am Original und lasse dem Regisseur überhaupt keine künstlerischen Freiheiten.


Dem ersten Vorwurf ist entgegenzuhalten, dass sich die betreffenden Kritiker wohl vor allem mit Hardy’s späteren Romanen auseinandergesetzt hatten und an “Far From the Madding Crowd” ähnliche Forderungen stellten wie an diese. Tatsächlich gibt sich der Roman nur am Rande “sozialkritisch”. Was aber in dieser Hinsicht aus ihm herauszuholen ist, findet sich auch im Film wieder: die harte Suche nach Arbeit, das Armenhaus als letzte und tödlich endende Zuflucht für eine schwangere Frau etc. Hinzu kommt: Alleine schon die glaubwürdigen Gesichter der Arbeiter auf Bathsheba’s Farm lassen erkennen, wie sehr Schlesinger hollywoodesquen Bildern auszuweichen versuchte, dass es ihm um ein Höchstmass an Authentizität ging. - Zum zweiten Vorwurf: Hardy’s Romane SIND beinahe Drehbücher, weisen, was Literaturwissenschaftler immer wieder in Erstaunen versetzt, ein nahezu filmisches Denken auf. Exemplarisch sei hier nur die Szene genannt, in der Troy die völlig gebannte Bathsheba in der Hügellandschaft jenes semi-fiktionalen Wessex, das natürlich zum grossen Teil mit Dorset, der Heimat des Schriftstellers, identisch ist,  mit seinen Säbelkünsten beeindruckt: Wer sie liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, er habe es mit einem Gedicht in Prosa zu tun, einem Gedicht, das sich aber zugleich Wort für Wort ins Medium Film transportieren lasse. Und tatsächlich: Es gelang Schlesinger‘s Kameramann Nicolas Roeg (der wusste, weshalb er Julie Christie für seinen eigenen ersten Film, “Don’t Look Now”, 1973, besetzen würde) , das Glitzern der messerscharfen Klinge und seinen Effekt auf die junge Frau in einzigartigen Bildern einzufangen.

Zur Handlung: Der junge Farmer Gabriel Oak hält vergeblich um die Hand der schönen, aber in Liebesdingen eigenen Bathsheba an. Als seine Schafe von einem ungehorsamen Hund über die Klippen getrieben werden, macht er sich mit einem “Thank God I’m not married!” auf die Suche nach Arbeit und wird von der mittlerweile mit dem Wahlspruch “I shall manage all with my head and hands” selber zur Farmerin gewordenen Bathsheba als Schäfer eingestellt; denn sie weiss wohl, was sie an dem Mann, der mit der Natur lebt und sich auch Feuer und Sturm zu stellen wagt, hat. - Mittlerweile erwacht in ihr das launisch-kokette Wesen, das dem reichen Farmer William Boldwood, einem Hagestolz, eine Valentinskarte schickt. Entgegen aller Erwartungen verfällt Boldwood der schönen Frau und bedrängt sie beinahe krankhaft. Doch sie zieht den draufgängerischen Charme des charakterlosen Taugenichts Frank Troy, einem Artillerieoffizier, der seine schwangere Geliebte Fanny Robin sitzen liess, weil sie sich zur Hochzeit in der falschen Kirche einfand, vor. In einer überwältigenden Szene (sie spielt sich in einem Seebad ab, und die Wellen des Ozeans übertönen jedes Wort einer offenbar verzweifelt bettelnden Frau) überredet sie ihn, sie zu heiraten, obwohl sie weiss, dass er ihr Verderben sein wird. - Die Ehe verläuft unglücklich; doch Gabriel, der zusammen mit ihr während der von einem Sturm heimgesuchten Hochzeitsnacht (die Männer liegen besoffen in der Scheune herum!) das geerntete Getreide mit Planen abdeckt, hält zu ihr. - Als Troy’s Geliebte Fanny während der Geburt ihres Kindes im Armenhaus stirbt und ihr Sarg auf Geheiss von Bathsheba auf der Farm aufgebahrt wird, erfährt die bloss wegen ihres Geldes geheiratete Frau während einer verzweifelten Auseinandersetzung aus dem Mund des Gatten die Wahrheit: “This woman is more to me, dead as she is, than you ever were.” Troy stürzt sich in die Fluten des Ozeans, und der Weg scheint endlich frei für William Boldwood, der vor lauter Liebeskummer seine eigene Farm zu vernachlässigen begann...


“Far From the Madding Crowd” erzählt wie die Romane des Schweizers Jeremias Gotthelf von einer Gemeinschaft, die noch ganz im Ländlichen verhaftet ist. Und dieses Verhaftetsein wird von Schlesinger, seinem Kameramann Nicolas Roeg und dem für die Musik zuständigen Richard Rodney Bennett in Szenen eingefangen, die schlicht ein Erlebnis sind: Atemberaubende Landschaftsaufnahmen lassen uns an einer Vergangenheit teilhaben, in der sich neue Techniken (etwa auf Boldwood’s Farm) erst am Rande bemerkbar machen, weil das von jenen oft zu Flötenspiel gesungenen alten Liedern, an die auch Hardy’s Gedichte immer wieder erinnern, begleitete Leben sich mit eigenen Händen dem Rythmus der Jahreszeiten anpasst, mit der Natur lebt, ihr aber auch Widerstand leistet, wenn sie zu heftig in seine Existenz  eingreift. Manche Bilder (etwa vom Erntedankfest) wirken wie Stilleben; kleine Szenen (der Mann, der von seiner alles andere als bibelfesten Mutter “Cain” genannt wurde) erinnern immer wieder an die Orality und die damit einhergehende mangelnde Bildung der Menschen, die weit weg von der Menge leben. Einzelne Abläufe sind auf eine die Figuren minutiös charakterisierende Weise  aneinandergereiht, die sich erst bei genauerem Hinsehen erschliesst: Noch sieht man Gabriel Oak, der verzweifelt auf seine toten Schafe hinabblickt und den Hund erschiesst - und schon wandert er entschlossen den Pfad hoch, felsenfest auf eine Zukunft für sich bauend.  Um ein Abgleiten ins Idyllische zu vermeiden, bauen Film wie Roman etwa drastische Bilder von Fanny Robin ein, die sich in Casterbridge mit letzter Kraft zum Armenhaus hochschleppt. Und natürlich darf auch die für Hardy typische Ironie, heute beinahe makaber anmutend, nicht fehlen: Während Troy auf Fanny, die er unterstützen will, wartet, wird ihr Sarg an ihm vorbeigefahren, ohne dass er es bemerkt. Er “verpasst” also die Tote wie sie einst die Hochzeit verpasste.

Gewiss, “Far From the Madding Crowd” ist sowohl als Roman als auch als Film mein liebster Hardy, weil er den Rezipienten nicht mit in einen Strudel völliger Hoffnungslosigkeit hinabreisst, sondern wie viele Gedichte des Schriftstellers eine Vergangenheit heraufbeschwört, die dem Willigen, dem ländlichen England Verbundenen, stets einen Weg in eine bessere Zukunft wies. Diesen vielleicht eskapistischen Genuss ermöglichen bei Schlesinger  männliche Hauptdarsteller, die wahre Glanzleistungen bieten: Wer je Peter Finch sah, der, vom Ticken der vielen Uhren und den Blicken zweier Dalmatiner begleitet, sein Essen stehen lässt und ständig auf die Valentinskarte mit ihrem “Marry me!” starrt, wird diese Szene nie vergessen können (er verbrennt die Karte, was aber sein innerliches Feuer erst recht zum Lodern bringt). Alan Bates spielt den treuen Weggefährten der jungen Frau, deren Tun und Lassen er mit Blicken, die Bände sprechen, kommentiert, mit einer Glaubhaftigkeit, wie man sie wohl seit seinem “Alexis Sorbas” (1964) nicht mehr erlebte - und Terence Stamp gibt mit jeder Bewegung zu erkennen, dass er ein skrupelloser Mensch ist, der sich auf seinen billigen Charme verlassen darf. - Bei einer solchen Besetzung möge sogar die Frage unbeantwortet bleiben, ob Julie Christie, Symbol der 60er, die nach der harten Arbeit mit David Lean (“Doctor Zhivago”, 1965) gleich wieder lange und beschwerliche Dreharbeiten in Dorset auf sich nehmen musste, nicht eher als mit spröder Schönheit ausgestattete sinnliche Frau denn als Farmerin glaubhaft wirke.

 ***

In meiner kleinen Besprechung eines Hardy-Gedichts wies ich auf einen Film hin, in dem neben dem Gesang einer ländlichen Gemeinschaft auch das Bild des über die eingeritzten Buchstaben eines Grabsteins peitschenden Regens vorkommen würde. Tatsächlich gibt es in “Far From the Madding Crowd” eine ganz auf Nässe hin stilisierte Szene, die ich sogar als emotionalen Höhepunkt der Geschichte bezeichen möchte: Während eines heftigen Regens eilt Troy zum Grab seiner Geliebten und versucht verzweifelt,  Blumenzwiebeln in die nasse Erde zu pflanzen. Der Regen wird immer stärker, und das aus einer Dachrinne schüttende Wasser scheint auf Geheiss einer "höheren" Macht  die Aufnahme der Blumenzwiebeln regelrecht  zu verunmöglichen. Troy aber geht an den Strand, um seinen nackten Körper den Fluten zu übergeben. Das Ende eines unnützen Lebens? - Das soll hier nicht verraten werden.

Donnerstag, 31. März 2011

Aktion deutscher Film, zum zweiten


Whoknows hat die Aktion hier ja schon vorgestellt, deshalb kann ich meine Einleitung kurz halten. Ich finde es relativ müßig, eine Abhandlung darüber zu schreiben, was mir am deutschsprachigen Film gefällt oder nicht gefällt, deshalb verzichte ich darauf und werde dafür auf die Filme und Serien meiner Liste näher eingehen. Hier nochmal der Link zur Kommandozentrale auf dem Planeten der intergalaktischen Affenmenschen:

http://intergalactic-ape-man.blogspot.com/2011/03/jetzt-mitmachen-aktion-deutscher-film.html

Zunächst meine offizielle Liste, die in die Endauswertung eingeht. Ohne interne Wertung, sondern chronologisch geordnet. Alle außer FILM OHNE TITEL sind auf DVD erhältlich.

1. DER BLAUE ENGEL (1930)
Ein Hollywood-Regisseur macht einen Ausflug zur UFA, dreht einen Klassiker, kreiert dabei einen Star, und nimmt den Star gleich wieder mit nach Hollywood, um einen Weltstar daraus zu machen. Aber abgesehen von all dem handelt es sich um ein atmosphärisch ungemein dichtes und emotional wuchtiges Drama, in dem Emil Jannings genauso wie Marlene Dietrich brilliert, und die Musik von Friedrich Hollaender tut ein Übriges.

2. UNTER DEN BRÜCKEN (1945/46)
Helmut Käutner rettete den Poetischen Realismus vom Frankreich der 30er ins Deutschland der 40er Jahre herüber. Unter schwierigen Bedingungen in den letzten Kriegswochen 1945 entstanden, hatte UNTER DEN BRÜCKEN erst 1946 Premiere, es handelt sich also um einen "Überläuferfilm". Ich hätte auch GROSSE FREIHEIT NR. 7 nehmen können, die Entscheidung für die BRÜCKEN ist relativ willkürlich. Aber GROSSE FREIHEIT NR. 7 wurde schon in anderen Blogs genannt, außerdem spielt UNTER DEN BRÜCKEN in einem ähnlichen Milieu wie L'ATALANTE, und das ist einer meiner Lieblingsfilme.

3. FILM OHNE TITEL (1948)
Ein Film aus einer Übergangsperiode: Die Zeit des Trümmerfilms (DIE MÖRDER SIND UNTER UNS, IN JENEN TAGEN, ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN) neigte sich dem Ende entgegen, die Zeit der Verdrängungs- und Beschwichtigungsfilme begann. FILM OHNE TITEL ist eine Komödie, er hat Charme, ist selbstbezüglich (es geht um einen Film im Film), aber er hat noch den Impetus der Trümmerfilme. Rudolf Jugerts erster Film atmet von der ersten bis zur letzten Minute den Geist Helmut Käutners. Kein Wunder: Käutner hat produziert und am Drehbuch mitgearbeitet, und Jugert war zuvor jahrelang sein Regieassistent, u.a. bei ROMANZE IN MOLL, GROSSE FREIHEIT NR. 7, UNTER DEN BRÜCKEN und IN JENEN TAGEN. Er hätte durchaus eher selbst Regie führen können, aber er lehnte es bis Kriegsende ab, um keinen Propagandafilm drehen zu müssen. Die Hauptrolle im FILM OHNE TITEL spielt Hilde Knef, die mit ihren unabhängigen Frauenfiguren (wie in DIE MÖRDER SIND UNTER UNS und ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN) der weibliche Star der unmittelbaren Nachkriegszeit war, bevor ihre Karriere in Hollywood versandete und Biederfräuleins wie Sonja Ziemann und Ruth Leuwerik Oberwasser bekamen.

4. JONAS (1957)
Ottomar Domnicks avantgardistischer Geniestreich. Alles nötige habe ich schon hier geschrieben.

5. DAS INDISCHE TUCH (1963)
Ich war schon immer ein Fan der Edgar-Wallace-Filme, und DAS INDISCHE TUCH ist von jeher mein Favorit - wegen Hans Clarins irrem Blick, weil Kinski sein übliches Rollenklischee gleichzeitig ausfüllt und konterkariert, weil Ady Berber, der deutsche Tor Johnson, mitspielt, weil der Wallace-Touch mit dem 10-kleine-Negerlein-Motiv kombiniert wird, und was weiß ich warum.

6. DER KOMMISSAR (1969-76)
Eine Zeitreise in die erste Hälfte der 70er Jahre, als "political correctness" noch ein Begriff von einem anderen Stern war. Irgendwelche Leute haben nachgezählt, wie viele Biere und Schnäpse getrunken und wie viele Zigaretten geraucht wurden, und kamen auf enorme Zahlen. Die Fälle und die Lösungen waren immer auf das menschliche Drama fokussiert; Gerichtsmediziner, Kriminaltechniker, lästige Staatsanwälte oder dubiose Kollegen vom BKA und ähnliches Beiwerk gab es nie. Stattdessen hat Kommissar Keller einfach gemacht, was er wollte. Trotz, oder vielleicht eher wegen der Reineckerismen ("Sag ich etwas falsches?" "Nein, Du sagst nichts falsches"; "He, Sie!" "Wer, ich?" "Ja, Sie!") und Herbert Reineckers Hang zum Moralphilosophen immer unterhaltsam, mit einer Armada längst verblichener Schauspielgrößen, die ihre Rollen immer ernst nahmen. Der kürzlich verstorbene Helmut Ringelmann beschäftigte nicht nur Altmeister wie Wolfgang Staudte, er gab auch Michael Verhoeven die Chance zu einer seiner ersten Regie-Arbeiten, und er ließ Zbyněk Brynych bei seinen leicht bekloppten, surreal angehauchten Manierismen gewähren. Bravo! Obwohl der Kommissar auch in Grünwalds Villen ermittelte, später Derricks bevorzugtes Biotop, spielen die meisten Fälle in der Mittel- oder Unterschicht, bis hin zum Proletariat, das in irgendwelchen Kellerlöchern haust. Und immer wieder gab es Ausflüge in und Verständnis für die jugendliche Subkultur. Obwohl Reinecker dabei regelmäßig in Klischees abrutschte, blieb er mir deshalb immer sympathisch.

7. AGUIRRE, DER ZORN GOTTES (1972)
Vom majestätischen Anfang, als die Karawane zur Musik von Popol Vuh die Anden herabsteigt, bis zum delirierenden Schluss, als Thomas Mauchs Kamera das Floß mit den Affen umkreist, ein grandioser Film, der von einem irrlichternden Klaus Kinski beherrscht wird. Unter sehr schwierigen Bedingungen komplett vor Ort im südamerikanischen Dschungel gedreht. Nur ein Besessener wie Werner Herzog konnte so etwas zuwege bringen.

8. MÜNCHNER GESCHICHTEN (1974)
Helmut Dietls erste und beste Fernsehserie. Sie fängt perfekt den Zeitgeist der 70er Jahre ein und ist zeitlos, Münchnerisch und universell, zum Brüllen komisch und melancholisch, mit unvergesslichen Typen und ernsten Themen wie "Entmietung" und Verödung alter Stadtviertel zugunsten neuer Trabantenstädte. Die damaligen Jungstars um Günther Maria Halmer gehen mit den Charakterdarstellern, angeführt von der grandiosen Therese Giehse, eine perfekte Symbiose ein. Meine Lieblingsserie bis ans Ende der Zeiten (und danach auch noch).

9. IM LAUF DER ZEIT (1976)
Wim Wenders' vielschichtiges dreistündiges Roadmovie, mit geradezu archetypischen Szenen wie der Versenkung des Käfers in der Elbe, entstand als "work in progress": Der Film wurde chronologisch entlang der befahrenen Route gedreht, und abends entstand immer erst das Drehbuch für den nächsten Tag, so dass am Anfang niemand wusste, wie der fertige Film aussehen würde. Neben anderem auch ein melancholischer Abgesang auf die Kultur der Kleinstadt- und Dorfkinos.

10. DIE COMEDIAN HARMONISTS (1977)
Eberhard Fechner entwickelte für seine Dokumentarfilme eine faszinierende Technik. Seine Interviewpartner (meist Privatpersonen, nur hier ausnahmsweise frühere Prominente) wurden zu stundenlangem Erzählen motiviert und dabei von einer fest montierten Kamera gefilmt, meist von schräg vorn - die einen von rechts, die anderen von links. Aus den getrennt aufgenommenen Interviews schnitt Fechner dann scheinbare Dialoge zusammen, wobei sich die virtuellen Dialogpartner mal gegenseitig bestätigten und die Rede des anderen fortführten, mal widersprachen. Dabei wechselte der Redner oft mitten in einem Satz, ohne dass sich Brüche im Gesprächsfluss ergaben - eine geniale Leistung. In dieser Technik arbeitete Fechner von NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK (1969) bis WOLFSKINDER (1991) an einer Chronologie des 20. Jahrhunderts aus der Sicht seiner Protagonisten. Zum dreistündigen Zweiteiler DIE COMEDIAN HARMONISTS befragte er alle vier damals noch lebenden und Angehörige der beiden bereits verstorbenen Mitglieder, und er behandelt nicht nur den Werdegang der Gruppe, sondern auch die weiteren Lebenswege der drei jüdischen und der drei nichtjüdischen Mitglieder. Fechners Film ist für mich weitaus faszinierender als Vilsmaiers Spielfilm zum selben Thema.


Soweit die offizielle Liste. Jetzt noch ein paar lobende Erwähnungen von Werken, die es knapp nicht geschafft haben.

ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN (1968)
Der Film von May Spils und Werner Enke über das Lebensgefühl der jugendlichen Schwabinger Bohème der 60er Jahre ist immer spontan - oder zumindest wirkt er so, und darauf kommt es ja an. Als legitime Nachfolger kann man am ehesten Klaus Lemkes Filme der 70er Jahre benennen.

DIE DELEGATION (1970)
Aus den nachgelassenen Notizen, Tonband- und Filmaufzeichnungen eines unter mysteriösen Umständen verunglückten Reporters (brillant: Walter Kohut) werden in einer Fernsehsendung dessen Recherchen der letzten Monate rekonstruiert. Mit den Mitteln einer Mockumentary, mit ähnlichen Kunstgriffen wie bei BLAIR WITCH PROJECT (nur geht es hier nicht um Hexen, sondern um UFOs), aber 30 Jahre früher, erzeugt Rainer Erler einen Sog, der einen in den Film hineinzieht wie eine echte Live-Reportage. Dabei bedient er sich passender Schauplätze in Europa, Nord- und Südamerika, geschickt eingebauten authentischen Materials (etwa von einem Kongress, an dem der Raketenpionier Hermann Oberth teilnahm), und Wackelkamera an den richtigen Stellen. Folgerichtig gab es besorgte Zuschaueranrufe beim Sender, wie Erler anlässlich einer Wiederholung zehn Jahre später berichtete. Mit Serien und Filmen wie DAS BLAUE PALAIS, PLUTONIUM und FLEISCH setzte Erler weitere Glanzlichter.

DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (1973)
Heiner Carows DEFA-Kultfilm mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Besonders überrascht und begeistert hat mich die surreale Musical-Einlage in dem ansonsten realitätsnahen Liebesfilm. So kann (und soll gelegentlich) Film sein!

DIE DÄMONEN (1977)
Fernseh-Vierteiler nach dem Roman von Dostojewskij, mit einem hochkarätigen Ensemble, angeführt vom faszinierenden Christoph Bantzer, in einer komplexen Geschichte (bei Dostojewskij natürlich kein Wunder). Leider nicht auf DVD. Die Verfilmung des Stoffes von Andrzej Wajda kenne ich nicht.


Womit wir schon bei den Werken wären, die ich mir auf DVD wünsche. Da gäbe es viel, aber ich beschränke mich mal auf das überschaubare Gesamtwerk von Ottomar Domnick, und zwar in guter Bildqualität (die DVD von JONAS hat ein ziemlich schlechtes Bild).

Was erwarte ich mir nun von der Aktion deutscher Film? Dass ich auf interessante Werke aufmerksam gemacht werde, von denen ich noch nichts (oder zumindest noch nichts konkretes) gehört habe. Dazu ist es nötig, dass es zu den Titeln in den Listen auch Erläuterungen gibt. Von reinen Auflistungen werde ich nichts haben.

Sonntag, 27. März 2011

JONAS - Man geht nicht mehr ohne Schädelindex!

JONAS
Deutschland 1957
Regie: Ottomar Domnick
Darsteller: Robert Graf (Jonas), Elisabeth Bohaty (Nanni), Dieter Eppler (M.S.), Willy Reichmann (der fremde Herr)

Die Vergangenheit ist ein Bumerang aus Filz!

Eine Einblendung im Stil eines Nachrichtenagentur-Tickers am Anfang des Films gibt die Grundstimmung vor: "meldung ... 10. August 1957 ... mehr selbstmorde als verkehrsopfer ... täglich gehen 30 personen freiwillig aus dem leben ... tag für tag das gleiche schicksal ... trotz wohlstand trotz wirtschaftlicher blüte ... grund: schwermut ... 47% der befragten bevölkerung äusserte: ANGST...". Eine Reihe von Architekturaufnahmen zeigt eine moderne, anonyme deutsche Großstadt als Betonwüste. (Tatsächlich handelt es sich um Stuttgart, aber das spielt keine Rolle.) Einer ihrer Bewohner ist Jonas. Er ist Arbeiter in einer Druckerei, bewohnt ein möbliertes Zimmer, lebt isoliert. Von seiner Vermieterin erfährt er, dass jemand, der seinen Namen nicht genannt hat, hier war und sich nach ihm erkundigt hat. Man kennt seine Adresse! Was will man von ihm?


Auch in der Arbeit fragt jemand nach ihm. Doch als Jonas im Büro erscheint, ist der Unbekannte verschwunden. Er muss auf der Hut sein! "Was, Du kennst niemand hier? Eine Verwechslung?" "Jonas, Du bist im Labyrinth! Hier gibt es keine Verwechslung!" Es sind zwei Stimmen aus dem Off, die hier zu hören sind. Es ist kein einzelner Erzähler, der aus "göttlicher Perspektive" dem Zuschauer berichtet, auch kein innerer Monolog von Jonas, sondern ein bald vielstimmiger Kanon von Kommentaren, die zu Jonas sprechen, die über ihn sprechen, die gelegentlich auch gegeneinander argumentieren, die den Zeitgeist sarkastisch wiedergeben, etwa wenn echte zeitgenössische Werbeslogans, Pressemeldungen oder amtliche Texte sowie Bibelzitate aufgegriffen und ironisch abgewandelt werden. "Man geht nicht mehr ohne Hut!" Aus einer Laune heraus kauft sich Jonas einen teuren Hut. "Die deutsche Industrie-Norm sieht für die Herren-Konfektion acht Hutgrößen vor, die nach dem Schädelindex zu bestimmen sind." Im Hutladen gibt es einen sogenannten Konformateur, ein kompliziertes Gerät zur Messung des "Schädelindex". "Man geht nicht mehr ohne Schädelindex!"


Jonas hat nicht viel von seinem edlen "Homburg Royal". In einer Schnellgaststätte wird er ihm gleich wieder von der Garderobe weg gestohlen. "Für Garderobe wird nicht gehaftet. Aber keine Angst, es kommt ja nichts weg!" Jonas stiehlt kurzerhand selbst einen Hut und macht sich davon. "Auge um Auge, Hut um Hut!" Doch Jonas wird mit dem "Ersatzhut" nicht froh: Er fühlt sich ertappt, beobachtet. Er betrachtet sein Beutestück und findet darin das Monogramm "M.S.", was ihn in Panik versetzt. Eine Rückblende, der noch weitere folgen werden, offenbart den Grund: Jonas war vor Jahren in einem Lager interniert. (Die Natur dieses Lagers bleibt unklar - vielleicht ein Kriegsgefangenenlager nach dem Zweiten Weltkrieg.) Zusammen mit seinem Freund Martin Seiler wagte er die Flucht. Schüsse fielen, Martin brach getroffen zusammen. Jonas kümmerte sich nur kurz um ihn, dann setzte er die Flucht fort und ließ den Sterbenden, der noch nach ihm rief, im Stich. Doch ist Martin wirklich tot? Hat etwa er sich nach ihm erkundigt? Fordert er Rechenschaft? Ist er ihm schon auf den Fersen, und hat Jonas unwissentlich seinen Hut gestohlen? Er muss den Hut loswerden. In der Schnellgaststätte hängt er den Hut unauffällig an den Ständer und macht sich aus dem Staub. "Geh ohne Hut, ohne Monogramm, ohne Schuld!" Doch ein aufmerksamer Kellner glaubt, er habe den Hut vergessen, und trägt ihn ihm hinterher. "Er kommt zurück! Ein Bumerang aus Filz!" Auch ein zweiter Versuch scheitert: Jonas wirft den Hut von einer Brücke, aber ein Junge bringt ihn wieder. "Die Vergangenheit, Jonas, ist ein Bumerang aus Filz!" Zuhause zerschneidet er den Hut geradezu panisch mit einer Schere und verbrennt ihn im Ofen. "Aber die Vergangenheit, Jonas, ist feuerfest."


Zusehends angeschlagen, wandert Jonas durch die Stadt und kommt dabei auch in eine Kirche, in der gerade von Jonas und dem Wal gepredigt wird. "Niemand wird hören deine Stimme ewiglich!". Er trifft Nanni wieder, die Verkäuferin aus dem Hutgeschäft. Die beiden gehen miteinander spazieren, sind sich sympathisch, doch letztlich reden sie aneinander vorbei. Nanni erzählt von ihren kleinbürgerlichen Vorstellungen vom Glück, mit denen Jonas nichts anfangen kann, und er ergeht sich in Andeutungen, ohne auszusprechen, was ihn umtreibt. Die beiden besuchen die fragliche Schnellgaststätte, doch M.S. hat inzwischen den Verlust des Hutes gemeldet und seine Adresse hinterlassen. Jonas wird aufgefordert, die Angelegenheit in Ordnung zu bringen, aber in Panik sucht er das Weite. Während er ziellos durch die anbrechende Nacht irrt, lässt sich Nanni von einem Schnösel in ein Restaurant einladen. Er lässt sich dort "Herr Direktor" nennen, doch in Wirklichkeit ist er nur Versicherungsvertreter. Jonas wird wegen seines auffälligen Verhaltens von der Polizei aufgegriffen, aber wieder freigelassen. "Es ist die letzte Chance, Jonas! Der Herr verfolgt dich mit seinem Zorn wegen deiner alten Schuld, verfolgt dich bis zu der Erde Gründen!". Jonas beschließt, M.S. aufzusuchen, der vielleicht sein alter Freund Martin ist. Er klingelt, doch er bleibt im dunkeln, er wagt nicht, sich zu zeigen. Er findet keine Erlösung von seinem Schuldkomplex. "Die Erde hatte mich verriegelt ewiglich."


Jonas strandet nächtens wieder im Hutladen bei Nanni, doch die Begegnung endet mehr denn je in Jonas' Sprachlosigkeit. Nanni ergreift die Initiative und fährt mit dem Taxi selbst zu M.S., um die leidige Angelegenheit aus der Vergangenheit zu regeln. Doch M.S. kennt keinen Jonas, er heißt nicht Seiler, sondern Schmidt. Während ihrer Abwesenheit steigert sich Jonas - allein unter Hüten - in eine Art Delirium; als sie zurückkehrt, ist er verschwunden, aufgebrochen zu einer neuerlichen ziellosen Wanderung durch die Nacht.


"Der mutigste, einsamste, und unwiederholbarste deutsche Film unserer Tage. Kein anderer deutscher Film seit Jahr und Tag verfügt über ähnliche Bildkunst." (Gunter Groll, Süddeutsche Zeitung 1957). Im deutschen Filmschaffen der 50er Jahre ist JONAS fast eine singuläre Erscheinung. Auch ambitionierte Filme, wie etwa DER VERLORENE des vorübergehenden Heimkehrers Peter Lorre, wirken im Vergleich konventionell. JONAS wurde 1957 mit Erfolg auf der Berlinale gezeigt, er erhielt das Prädikat "Besonders wertvoll", gewann den Preis der deutschen Filmkritik 1957 für die Bildgestaltung, erhielt zwei Bundesfilmpreise sowie - man glaubt es kaum - einen Bambi. Auch im Ausland, insbesondere Frankreich, erregte er Aufmerksamkeit. Unverständnis und heftige Ablehnung gab es auch - im Adenauer-Deutschland nicht weiter verwunderlich. Das Aufsehen und der Erfolg lagen nicht am dürren Handlungsgerüst - ein Mann schleppt einen Schuld- und Verfolgungskomplex mit sich herum, ein Beziehungsversuch scheitert -, sondern an der formalen Gestaltung. Am ungewöhnlichsten war der polyphone Kommentar, der den größten Teil des gesprochenen Textes ausmacht (Dialoge sind fast auf die Begegnungen von Jonas mit Nanni beschränkt und dünn gesät). Regisseur Domnick schrieb auch das Drehbuch, doch die Kommentare verfasste Hans Magnus Enzensberger, und zwar, nachdem der Film bereits abgedreht war, so dass er - in Absprache mit Domnick - noch eine ganz neue Ebene über den Film legen konnte. Enzensberger war bis 1957 Hörfunkredakteur beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart. Im selben Jahr veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband und begann seine Laufbahn als freier Schriftsteller. Wie bereits erwähnt, bediente sich Enzensberger bei den Kommentaren auch authentischer Textbausteine. So war etwa "Übrigens...man geht nicht mehr ohne Hut!" ein Werbeslogan, der 1955 im Auftrag der deutschen Hut-Industrie von Plakatwänden prangte. Der vielschichtige Soundtrack von JONAS wird komplettiert durch Stücke von Duke Ellington sowie durch Musik und elektronische Geräusche von Winfried Zillig. Der Avantgarde-Komponist und Musiktheoretiker Zillig (1905-1963) war ein Schüler von Arnold Schönberg (was ihn nicht davon abhielt, auch einen Film wie WO DER WILDBACH RAUSCHT zu vertonen). Auch die Bildgestaltung von JONAS ist außergewöhnlich. Neben gelegentlichen Anklängen an den Expressionismus zeigt sich vor allem eine Tendenz zur Abstraktion. Von der Architektur geprägte Linien dominieren immer wieder das Bild. Hierin spiegelt sich Domnicks Begeisterung für abstrakte Kunst wider.


Ottomar Domnick (1907-1989) war ein wohlhabender Neurologe und Psychiater mit eigener Privatklinik in Stuttgart. Er war Kunstsammler und -mäzen, er fuhr Autorennen, spielte Cello - und er drehte unabhängig produzierte Filme. Nach zwei kurzen Dokumentarfilmen über Themen der abstrakten Kunst war JONAS der erste Spielfilm. Bis 1972 folgten vier weitere Filme, in denen sich die Tendenz zur Reduktion konventioneller Handlung zugunsten einer Abstraktion der Bild- und Tonsprache fortsetzte. Auch Domnicks Interessen und Erfahrungen als Nervenarzt flossen immer ein. In GINO (1960) bespitzelt ein junger italienischer Gastarbeiter im Auftrag eines eifersüchtigen Unternehmers dessen Ex-Frau, eine Schriftstellerin. Die mögliche Beziehung der beiden ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. OHNE DATUM (1962) ist eine radikale Reflexion über die Situation eines unheilbar an Krebs Erkrankten, mit Querbezügen zur atomaren Bedrohung. In N.N. (1968) soll ein Architekt ein Gefängnis bauen und kommt zur Erkenntnis, dass die ganze moderne Welt mit ihrer anonymen verwalteten Gesellschaft ein Gefängnis ist. Und AUGENBLICKE (1972) thematisiert die Umweltzerstörung, die damals gerade erst ins öffentliche Bewusstsein rückte, ohne Sentimentalität ("eine lyrische Paraphrase", wie Domnick sagte), gezeigt aus der Perspektive der menschenleeren Nachwelt. Überlagert sind die Reflexionen einer Psychose-Patientin, die den Zerfall ihrer Innenwelt analog zu dem der Außenwelt erlebt. 1979 schließlich drehte Domnick noch für den Süddeutschen Rundfunk das 43-minütige Selbstportrait DOMNICK ÜBER DOMNICK.


Es liegt nahe, in Domnick einen Vorläufer des "Jungen" oder "Neuen Deutschen Films" zu sehen, doch die Verbindungen zu den Jungfilmern der 60er Jahre waren nur schwach. Sie bestanden im Wesentlichen aus Herbert Vesely. Der in Wien geborene Vesely war in den 50er Jahren mit experimentellen Kurzfilmen hervorgetreten, vor allem NICHT MEHR FLIEHEN, der fast schon Spielfilmlänge hatte. Im Gegensatz zum Autodidakten Domnick hatte Vesely eine Filmschule besucht, und Domnick engagierte ihn für JONAS als technischen Berater. Im Februar 1962 gehörte Vesely zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, und sein im selben Jahr erschienener DAS BROT DER FRÜHEN JAHRE ist neben Ferdinand Khittls DIE PARALLELSTRASSE eines der Gründungswerke des Jungen Deutschen Films. Domnick ließ sich 1967 bei Nürtingen in der Nähe von Stuttgart eine Villa als Privatmuseum für seine Kunstsammlung (neben Gemälden abstrakte Metallskulpturen im Park) errichten. Die Villa und die Sammlung werden heute von einer Stiftung verwaltet, die Domnick und seine Frau gegründet haben, und sind der Öffentlichkeit zugänglich.

JONAS ist in Deutschland auf DVD erschienen. Für die, die es genau wissen wollen, gibt es ein Buch über die Entstehung des Films sowie ein weiteres, das sich speziell Enzensbergers Rolle widmet.

Freitag, 25. März 2011

Aktion deutscher Film

 
Der Intergalaktische Affenmann ist - wie schon Charles Darwin darlegte - dem durchschnittlichen Menschen entschieden überlegen; und so erstaunt es auch nicht, dass mein Blogger-Kumpel von Intergalaktische Filmreisen auf die Idee kam, eine Aktion ins Leben zu rufen, deren Anfänge sich zwar bescheiden geben, die aber letztlich nichts anderes zum Ziel hat als dem Interessierten eine Art Nachschlagewerk über Blogger-Einträge zum deutschsprachigen Film aus Deutschland, Österreich und der Schweiz (vom billigsten Schlagerfilmchen über Goebbels Ablenkungsstreifen bis zum jedem Hollywood-Blockbuster überlegenen Meisterwerk) zu bieten. Ein solches Nachschlagewerk wäre einmalig im Internet, behandeln wir doch den deutschen Film regelrecht stiefmütterlich. Woran dies liegen mag, ist schwer auszumachen, geben sich z.B. Franzosen oder Italiener ihrer einheimischen Produktion gegenüber bekanntlich wesentlich aufgeschlossener. Und wir brauchen uns hinter so manchem billigen Machwerk aus Tinseltown, dem sich viele Blogger inbrünstig widmen, nun wirklich nicht zu verstecken.

Es wäre deshalb schön, wenn die Idee des Intergalactic Ape-Man bei jenen Leuten, die immer mal wieder einen deutschsprachigen Film (lobend, kritisierend, vernichtend) besprechen, Anklang fände. Denn vorläufig geht es lediglich um gegenseitige Inspiration, um das Erinnern an sehenswerte Filme - um ein Eingangsposting, mit dem die "Aktion deutscher Film" ins Leben gerufen werden soll. Gleichzeitig dürft ihr einige eurer Lieblingsfilme (wie auch immer ihr den Begriff definiert) auflisten und an die deutschsprachigen Filme erinnern, über die ihr schon geschrieben habt. - Den genauen Ablauf und die Teilnahmebedingungen (sie lesen sich nur am Anfang schwer) findet ihr hier:

http://intergalactic-ape-man.blogspot.com/2011/03/jetzt-mitmachen-aktion-deutscher-film.html

Dies könnte der Beginn einer Aktion sein, die dem deutschsprachigen Film in seiner erstaunlichen Vielfalt ein Erscheinungsbild ermöglicht und die Schreiber zur vermehrten Beschäftigung mit ihm anregt. Was mich anbelangt, so habe ich mir auf jeden Fall vorgenommen, mich nach meinem Urlaub als Blogger möglichst jeden Monat (sei es auch nur als Kurz-Review) einem Film aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz zu widmen.

Dies sind zehn meiner "Lieblingsfilme", die ich anderen Teilnehmern ans Herz legen möchte - wobei es mir darum ging, nicht nur in erster Linie die gängigen Streifen anzubieten, sondern  an  Filme zu erinnern, die als "Zeitdokumente" zu betrachten sind:

1.) Die weisse Hölle vom Piz Palü (Deutschland 1929)
- Das gewaltige Bergdrama von Arnold Fanck und Georg Wilhelm Pabst, das daran erinnert, was vielleicht aus dem deutschen Film geworden wäre, hätte nicht eines Tages ein humpelnder Propagandaminister gierig die Hände nach ihm ausgestreckt








2.) Romeo und Julia auf dem Dorfe (Schweiz 1941)
- Düstere Verfilmung der Novelle von Gottfried Keller von Hans Trommer, die als sagenumwobenes Meisterwerk des Schweizer Films lange Zeit verschollen war und leider auch heute nicht auf DVD zugänglich ist







3.) HD-Soldat Läppli (Schweiz 1959)
 - Verfilmung eines wahrhaft anarchischen Bühnenstücks von Alfred Rasser, das den "braven Soldaten Schwejk" zum Schweizer macht, der während des Zweiten Weltkriegs diverse Vorgesetzte in den Wahnsinn treibt








4.) Rosen für den Staatsanwalt (Deutschland 1959)
 - Wolfgang Staudtes bissige Abrechnung mit den ehemaligen Nazis, die in den 50er Jahren ihre Karriere ungebremst fortsetzten








5.) Dällebach Kari (Schweiz 1970)
- Der späte Anschluss des "Regisseurs für das Kleinbürgertum" Kurt Früh an den Jungen Schweizer Film erzählt in Form einer Ballade die Geschichte eines Berner Coiffeurs, der sich das Leben nimmt








6.) Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (Deutschland 1971)
- Wie alle Filme von Rosa von Praunheim aus künstlerischer Sicht höchst unbefriedigend, war das Plädoyer mit dem Motto "Raus aus den Toiletten, rein in die Strassen!" für die Entstehung einer  Schwulenbewegung in Deutschland von grosser Bedeutung - und veranlasste den BR, sich während der Fernsehausstrahlung auszuschalten




7.) Die Geschwister Oppermann (Deutschland/Schweden/Italien/Grossbritannien/Österreich/Schweiz  1983)
- Die aufwändige Romanverfilmung für das Fernsehen liess viele Leser erstmals erkennen, dass Lion Feuchtwanger als Romancier zu betrachten ist, der nicht hinter den Mann-Brüdern zurückstehen muss







8.) Heimat - Eine deutsche Chronik (Deutschland 1984)
- Wohl mehr als DAS deutsche Filmereignis seit 1945! Edgar Reitz begleitet ein kleines Dorf im Hunsrück und seine Bewohner durch über 60 Jahre deutsche Geschichte. Als Marathon in den Kinos vieler Städte gezeigt - und von der ersten bis zur letzten Minute fesselnd





 9.) Comedian Harmonists (Österreich/Deutschland 1997)
- Joseph Vilsmaiers Geschichte der berühmten Gesangsgruppe kommt zweifellos um einige Klitterungen nicht herum, glänzt  aber mit einem weitaus grösseren Unterhaltungswert als so viele Hollywood-Biopics - und erinnert an die  Melodien einer versunkenen Zeit








10.) Silentium (Österreich 2004)
- Was wohl nur die Österreicher in ihren besten Momenten können: den Dreck hinter Klerus und Kultur  auf so drastische Weise aufdecken. Hervorragende Romanverfilmung, benötigt eine Sichtung auch Untertitel








Und hier gibts noch eine - laufend erweiterte - Liste mit DÖS-Filmen, die von mir bereits besprochen wurden (sie zeigt auch, dass ich manche Veröffentlichungen sehenswerter Werke auf DVD vermisse):

 - Der zerbrochene Krug (1937)
- Gilberte de Courgenay (1941)
- Frauen sind doch bessere Diplomaten  (1941)
- Titanic (1943)
- Jetzt schlägt's 13(1950)
- Das Haus in Montevideo (1951)
- Feuerwerk (1954)
- Die Käserei in der Vehfreude (1958)
- Der Greifer (1958)
- Buddenbrooks (1959)
-Die Bande des Schreckens (1960)
- Das Glas Wasser (1960)
- Der junge Törless (1966)
- Die Frau in Weiss (1971)
- Lina Braake(1975)
- Das Brot des Bäckers (1977)
- Das Boot ist voll (1981)
- Rossini, oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (1997)
- Achtung, fertig, Charlie! (2003)
- Tod eines Keilers (2006)
- Welthund (2008)
- Auge in Auge - Eine deutsche Filmgeschichte (2008)
- Die Entdeckung der Currywurst (2008)
- Glauser (2011) 

Das wärs für den Moment! Nun hoffe ich, auch andere Blogger für die Aktion deutscher Film interessiert zu haben - denn: sie könnte durchaus zu lohnenden Ergebnissen führen und dem deutschsprachigen Film zu jenem Ansehen verhelfen, das er verdient.

Whoknows

Samstag, 12. März 2011

DER LEICHENVERBRENNER

DER LEICHENVERBRENNER (SPALOVAČ MRTVOL)
Tschechoslowakei 1968
Regie: Juraj Herz
Darsteller: Rudolf Hrušínský (Karel Kopfrkingl), Vlasta Chramostová (Lakmé), Jana Stehnová (Zina), Miloš Vognič (Mili) u.a.

Karel Kopfrkingl ist Leichenverbrenner aus Beruf und Berufung. Um genau zu sein, er ist Angestellter im Krematorium einer tschechischen Stadt in den 1930er Jahren. Als geistige Richtschnur für seine Tätigkeit dient ihm ein Buch über tibetischen Buddhismus. Daraus bezieht er die Überzeugung, dass die Seelen der Toten erst dann in den Äther aufsteigen können und zu einer Wiedergeburt zur Verfügung stehen, wenn der Körper vollständig zerfallen sei. Das aber dauere bei einer Einäscherung 75 Minuten, bei einer Erdbestattung 20 Jahre. Somit sei es ein Gebot der Humanität, die Toten zu verbrennen, und zivilisierte Nationen erkenne man daran, dass sie den Krematorien einen hohen Stellenwert einräumen. Der Tod hat für Karel keinen Schrecken - irdisches Leiden ist ein Übel, der Tod dagegen eine Erlösung. Karel Kopfrkingl ist ein liebevoller Familienvater. Seine Frau heißt eigentlich Maria, doch er nennt sie Lakmé (die indische Titelheldin einer Oper), seine Tochter Zina ist 16. Gewisse Sorgen bereitet ihm sein 14-jähriger Sohn Mili, ein schlaksiger, schwächlicher Typ mit Brille und abstehenden Ohren - nicht ganz das, was sich Karel erhofft hatte! Karel Kopfrkingl ist auch ein guter Patriot. Als er seinen alten Kriegskameraden Walter Reinke, mit dem er einst im Ersten Weltkrieg für Österreich gekämpft hatte, wiedertrifft, will ihn dieser für die NSDAP gewinnen. Doch Karel lehnt ab - fließt nicht tschechisches Blut in seinen Adern, spricht die Familie nicht Tschechisch?


Das muss Karel freilich überdenken, als sich die Deutschen zu den neuen Herren in Böhmen machen. Hat Deutschland nicht ein fortschrittliches Krematoriengesetz, ist also ein zivilisiertes Land? Und fließt nicht auch ein Tropfen deutsches Blut in seinen Adern? Karel tritt nun doch in die Partei ein. Das mit dem Blut will Karel genau wissen, und er befragt seinen Arzt Dr. Bettelheim, von dem er sich in zwanghafter Häufigkeit auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lässt. Doch der antwortet nur, Blut sei Blut, und der Rest sei Unsinn. Aber ist Dr. Bettelheim nicht Jude? Überhaupt, die Juden - Karels neue Freunde eröffnen ihm darüber Dinge, die er freilich schon immer geahnt hatte. Für Reinke spioniert er bei einem jüdischen religiösen Fest, doch weil da nichts besonderes passiert, erfindet Karel einfach, was Reinke hören will. Karel weiß auch gewisse Dinge über seinen Chef und seine Kollegen. Dieser hat sich abfällig über die Deutschen geäußert, jener ist morphiumsüchtig, und dergleichen. Es wäre unverantwortlich, solche Tatsachen für sich zu behalten. Ein paar klitzekleine Denunziationen, und Karel ist da, wo er eigentlich schon immer hingehörte - an der Spitze des Krematoriums. Umso schlimmer trifft ihn die Erkenntnis, dass Lakmé eine "Halbjüdin" ist. Karels Parteifreunde machen ihm klar, dass so eine Ehe sein Fortkommen erheblich behindern werde.


Dem Zuschauer ist inzwischen klar, dass Karel nicht nur ein übler Opportunist, sondern auch nicht ganz richtig im Kopf ist. Zu abstrus sind seine Thesen, zu merkwürdig manche seiner Verhaltensweisen. Wenn die Kamera seinen subjektiven Standpunkt einnimmt, ist das Bild oft durch eine Weitwinkeloptik verzerrt, besonders ausgeprägt im Krematorium, Karels Reich. Bald hat er eine Vision: Ein Abgesandter aus Tibet - in Karels eigener Gestalt - erscheint ihm und verkündet, er sei der neue Dalai Lama, ja Buddha selbst, und er werde in Lhasa erwartet, um die Welt zu erlösen. Vorher muss Karel freilich noch einige irdische Dinge regeln. Da ist zunächst Lakmé. Karel erhängt sie im Badezimmer, was sie wie in Trance ohne Widerstand geschehen lässt. Und Mili erst! Ist er nicht ein Weichling? Kein Wunder, bei dieser Mutter! Und hat man nicht in Sparta schwächliche Kinder beizeiten umgebracht, was letztlich auch zu ihrem eigenen Vorteil war, weil sie in der Welt doch nur gelitten hätten? Karel lockt Mili ins Krematorium, schlägt ihm mit einer Eisenstange den Schädel ein und verstaut die Leiche in einem Sarg zur späteren Entsorgung. Dieses Problem wäre zufriedenstellend gelöst. Aber hat Zina nicht auch jüdisches Blut in ihren Adern? Karel bringt auch sie ins Krematorium ... Am Ende des Films geht sein Wahnsinn in einem viel größeren auf: Die Deutschen engagieren ihn, um Verbrennungsöfen für Vernichtungslager zu konstruieren.


DER LEICHENVERBRENNER ist eine abgrundtief morbide und makabre Satire auf den Aufstieg eines Kleinbürgers in einer Diktatur. Mit Hilfe der überragenden Kamera von Stanislav Milota und des wunderbaren Soundtracks von Zdeněk Liška, und mit stilistischen Anleihen bei Expressionismus und Surrealismus, gelang Juraj Herz ein grandioser Film nach einem Roman von Ladislav Fuks, der mit Herz auch das Drehbuch schrieb. Auch der Schnitt ist virtuos. Das Zentrum des Films bildet aber Rudolf Hrušínský, der den Wirrkopf und Opportunisten mit einer bösartig schillernden Beiläufigkeit verkörpert. Das Lachen bleibt einem in diesem Film meist im Halse stecken, doch für etwas Entspannung sorgt ein ständig streitendes Paar, das als running gag immer wieder auftaucht. Ebenfalls immer wieder erscheint eine mysteriöse schwarzhaarige junge Frau, die außer Karel niemand zur Kenntnis nimmt. Ist sie eine Einbildung von ihm? Oder eine allegorische Figur, eine Art Todesengel, die ihn begleitet? Die Interpretation bleibt dem Zuschauer überlassen.


Juraj Herz, der nach wie vor aktiv ist und kürzlich mit HABERMANN Erfolge feierte, aber auch kontroverse Reaktionen hervorrief, gehörte seinerzeit zur "Neuen Welle" im tschechoslowakischen Film der 60er Jahre, die nach dem Vorbild der Nouvelle Vague benannt wurde. Während die meisten Protagonisten der Neuen Welle Tschechen sind und an der Prager Filmhochschule FAMU studiert hatten, ist Herz ein Slowake jüdischer Herkunft, der in Prag Fotografie und Puppentheater studierte, bevor er sich Regie und Schauspielerei zuwandte. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Herz mit seinen Eltern im Konzentrationslager Ravensbrück (zum Glück überlebte die ganze Familie). Seine berufliche Laufbahn begann Herz am Prager Semafor-Theater, wo er mit Jan Švankmajer einen Geistesverwandten traf (beide sind auch am selben Tag geboren). Švankmajer sollte mit seinen surrealen und oft abgründigen Animationsfilmen bekannt werden, und er und Herz arbeiteten bei ihren Filmen gelegentlich zusammen. In den früher 60er Jahren absolvierte Herz eine zusätzliche Ausbildung in den Prager Barrandov-Filmstudios, wo dann auch DER LEICHENVERBRENNER entstand. In dieser Zeit wirkte Herz als Regieassistent und Darsteller in Filmen von Zbyněk Brynych, Vojtěch Jasný und anderen mit, insbesondere bei DAS GESCHÄFT IN DER HAUPTSTRASSE von Ján Kadár und Elmar Klos, einem Klassiker des tschechoslowakischen Films.


DER LEICHENVERBRENNER ist Herz' dritter eigener Spielfilm, und die Dreharbeiten wurden im August 1968 durch den Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts unterbrochen. Die Fortsetzung war gefährdet, weil Rudolf Hrušínský in Südbohmen untertauchte, doch nach einiger Zeit wurde es ihm dort zu langweilig, er kehrte nach Prag zurück, und es konnte weiter gehen. Die Neue Welle wurde nach dem Ende des Prager Frühlings weitgehend abgewürgt - viele Regisseure erhielten mehrjährige Berufsverbote oder gingen ins Ausland. Doch Herz traf es nicht so schlimm, vielleicht, weil er bis zum August 1968 nur einen Kurz- und einen Spielfilm herausbrachte und somit wenig Gelegenheit hatte, sich bei den Machthabern zu diskreditieren. Das hätte aber durchaus passieren können: Herz drehte als Schluss von DER LEICHENVERBRENNER einen Epilog, der 1968 vor den einrückenden russischen Panzern spielt, und in dem Karel Kopfrkingl wieder auftaucht. Doch der Direktor des Barrandov-Studios erhob Einspruch und ließ das Material herausschneiden, das seitdem verschollen ist. Herz vermutete, dass es der Direktor aus Angst vor Konsequenzen verbrennen ließ. Herz konnte seine Karriere jedenfalls relativ problemlos fortsetzen, und er bediente dabei eine Reihe von Genres, wie Horror (MORGIANA und DER AUTOVAMPIR), Musical, und insbesondere Märchenfilme. In MICH ÜBERFIEL DIE NACHT (1986) verarbeitete Herz seine Erfahrungen aus Ravensbrück. Darin gibt es eine Szene in den "Duschräumen" des KZ, bei der sich Steven Spielberg möglicherweise für SCHINDLERS LISTE bedient hat, jedenfalls soll die Übereinstimmung frappierend sein.


DER LEICHENVERBRENNER ist beim englischen Label Second Run auf DVD erschienen (engl. Titel THE CREMATOR).